Rohkost, also der Verzehr mehr oder weniger ausschließlich roher Lebensmittel, wird oft als die gesündeste aller Ernährungsformen dargestellt. Gekochte Lebensmittel seien ihrer Nährstoffe beraubt und somit wertlos, heißt es. Doch sollten wir die Früchte der Natur wirklich nur in ihrer Rohform essen? Was ist dran an den Behauptungen?
Verschiedene Ausprägungen der Rohkost
Es gibt nicht die Rohkost. Ähnlich wie bei der Steinzeiternährung oder Paläo-Diät gibt es auch im Bereich der Rohkost verschiedene, voneinander leicht abweichende Konzepte. Einige Proponenten essen auch Tierprodukte nur roh, andere machen hier Ausnahmen und garen sie sanft und wieder andere vertreten die Auffassung, Tiere dürften gar nicht gegessen werden. Über die Zieltemperatur ist man sich ebenfalls uneins und so schwankt „roh“ zwischen 42-49°C.
Auch darüber hinaus gibt es einige Meinungsverschiedenheiten, die zu einem Großteil auch die Ideologie und Motivation betreffen. Die religiös anmutenden Auseinandersetzungen sollen nicht Thema dieses Artikels sein. Fokus dieses Beitrages ist stattdessen die Kernfrage: Sind rohe Lebensmittel gesünder als gekochte?
Argumente der Rohköstler
Der Hauptvorteil roher Lebensmittel sei, dass die enthaltenen Enzyme, Mineralstoffe und Vitamine erhalten blieben. Diese würden beim Kochen zerstört, weswegen gekochte, denaturierte Nahrung minderwertig sei. Betrachten wir diese Stoffe im Einzelnen.
Enzyme: Diese Stoffe wirken als Katalysatoren für biochemische Reaktionen. Im Organismus steuern sie unter anderem die Verdauung indem sie Nahrungsbestandteile zerlegen, so zum Beispiel das Pepsin, das im Magen Eiweiße zerlegt. Fast alle Enzyme sind selbst Eiweiße und der Mensch stellt sie selbt her, sofern kein genetischer Defekt vorliegt. Da es sich um Proteine handelt, sind sie hitzeempfindlich und ab ca 40°C werden sie nach und nach zerstört.
Ein weiteres Beispiel für ein Enzym ist Laktase, welches bei der Verdauung von Laktose, dem Milchzucker hilft. Menschen mit Laktoseintoleranz verfügen selbst über keine Laktase. Ihnen kann tatsächlich die Zufuhr von Laktase helfen, Milch zu verdauen. Allerdings müssten die Mengen der zugeführten Laktase sehr groß sein. Denn da es sich dabei um ein Eiweiß handelt, werden die körpereigenen Enzyme damit genau so umspringen wie mit allen anderen Eiweißen: Sie verdauen sie.
Sofern also Enzyme aus pflanzlichen Quellen tatsächlich bei der Verdauung helfen sollten (und mehr als helfen können sie nicht, denn der Mensch stellt die wichtigen Enzyme selbst her), so kann dies nur einen geringen Anteil ausmachen, der von kurzer Dauer ist. Angewiesen ist der Mensch darauf nicht.
Mineralstoffe: Mineralstoffe wie Eisen oder Zink, zu denen auch die Spurenelemente gehören, sind Teil der Mikronährstoffe. Sie sind teils essentiell und können durch starke Verarbeitung von Lebensmitteln tatsächlich verloren gehen. Allerdings gehört das Kochen nicht dazu, denn Mineralstoffe sind kaum hitzeempfindlich. Lediglich ausgelaugt („herausgespült“) werden können sie, wenn beispielsweise beim Kochen sehr viel Wasser verwendet und dieses weggegossen wird. Beim Dampfgaren (zum Beispiel mit einer Vaporette) kann dies nicht passieren, ebenso beim Auskochen von Gemüse für Suppen und Soßen, denn dann wird die Flüssigkeit mit den Mineralstoffen ebenfalls verzehrt.
Vitamine: Tatsächlich sind die wenigsten Vitamine hitzeempfindlich. Vitamin C ist das empfindlichste der essentiellen Vitamine und es verliert seinen Wert unter Hitze- ebenso wie unter Sauerstoff- oder Lichteinfluss. Vitamin B5 ist ebenfalls hitzeempfindlich und bei sehr hohen Temperaturen verlieren auch die Vitamine B1 und B9 langsam ihren Wert.
Kochen ist keine Katastrophe
Das Kochen von Gemüse, sofern halbwegs schonend ausgeführt, schadet seinem gesundheitlichen Nutzen also bei weitem nicht so stark, wie einige Rohköstler dies oft und gern behaupten. Der Nutzen der enthaltenen Enzyme ist zweifelhaft, die Mineralstoffe bleiben erhalten und die meisten Vitamine ebenfalls.
Berücksichtigt man, dass einige Nährstoffe durch das Kochen überhaupt erst für den Menschen verfügbar werden, nehmen sich die Kontrahenten Rohkost und Gekochtes soweit kaum etwas. So ist das Eiweiß in rohen Eiern beispielsweise nur zu rund 50% vom Menschen nutzbar. In gekochter Form steigt die Verwertbarkeit auf über 90%.
Auch die Fermentation von Lebensmitteln kann deren Verwertbarkeit verbessern und weitere Anti-Nährstoffe deaktivieren.
Aber Rohkost kann doch nicht schaden, oder? Leider doch:
Kochen beseitigt Anti-Nährstoffe
Es ist nicht so, dass Mutter Natur all ihre schönen Früchte für den menschlichen Genuss entwickelt hätte. Pflanzen haben über Millionen von Jahren Abwehrmechanismen entwickelt, um sich vor Fraßfeinden zu schützen. Und zu denen gehört nunmal auch der Mensch. Das muss er aber nicht persönlich nehmen, denn die meisten anderen Tiere sind auch betroffen.
Als Beispiel sei das Getreide genannt, das über sogenannte Anti-Nährstoffe verfügt. Lektine wie Gluten und auch die Phytinsäure zeigen in der Rohform ihre volle Wirkung und können durch Erhitzen wenigstens teilweise deaktiviert werden. Aus ähnlichen Gründen ist der Verzehr roher Kartoffeln nicht ratsam und auch Bohnen bzw. Hülsenfrüchte werden durch das Kochen leichter verdaulich.
Durch die Domestizierung der (jetzt) Nutzpflanzen konnten wir zwar die meisten Toxine minimieren und entfernen, jedoch längst nicht alle.
Schlechte Vergleiche
Es steht außer Frage, ob der gemeine Rohköstler sich gesünder ernährt als ein durchschnittlicher Fastfood-Junkie. Solche Vergleiche machen zwar Fernsehredakteure offenbar ganz wuschig, sind jedoch in keiner Weise zielführend und verzerren leider die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit.
Rohkost ist ungesund
Den Eindruck erweckt zumindest das Ergebnis der Gießener Rohkost-Studie: Über die Hälfte der Teilnehmer hatte Untergewicht, ein Drittel der Frauen unter 45 hatte keine Menstruation mehr – ein Symptom von Unterernährung. Deutliche Mängel stellte man bei der Versorgung mit Eisen, Calcium, Zink, Iod, Vitamin D und Vitamin B12 fest.
Allerdings stammen rund 75% der Datensätze von Veganern und Vegetariern, was genau diese Mängel erklären würde. Hinzu kommt, dass die Zahl der Teilnehmer (201) relativ niedrig war. Die Studie zeigt jedoch zumindest, was passieren kann, wenn Menschen sich ausschließlich von Rohkost ernähren.
Fazit: Ist Rohkost gesünder?
Ist Rohkost also die beste aller Ernährungsformen? Es sieht nicht danach aus. Denn weder bringt sie gegenüber den gleichen Lebensmitteln in gekochter Form nennenswerte Vorteile, noch ist sie frei von Risiken.
Dennoch gibt es keinen Anlass, rohe Lebensmittel vollständig vom Speiseplan zu verbannen. Ganz im Gegenteil: Gerade bei Obst gibt es kaum einen Grund, es vor dem Verzehr zu kochen. Und auch viele Gemüsesorten schmecken unbehandelt hervorragend. Ein roher Blumenkohl macht sich hervorragend im Salat und auch Tomaten frisch von der Pflanze sind unerreicht.
Allein der Fall in das Extrem, die reine und exklusive, möglicherweise religiös praktizierte Rohkost scheint alles andere als ratsam.
Abermals zeigt sich, dass eine vielseitige Ernährung von natürlichen Lebensmitteln die beste Lösung zu sein scheint. Heute gekocht und morgen roh, mittags grün und abends rot – ein bunt gedeckter Tisch mit schonend behandelten Lebensmitteln ist der beste Weg zu optimaler Gesundheit und höchsten Genuss.
Quellen und weiterführende Informationen:
- Is cooked food poison?
- Effects of cooking on vitamins
- Justus-Liebig-Universität Gießen: Die Gießener Rohkost-Studie
- Evenepoel, Geypen, Luypaerts, Hiele, Ghoos, Rutgeerts: Digestibility of Cooked and Raw Egg Protein in Humans as Assessed by Stable Isotope Techniques (J. Nutr. October 1, 1998 vol. 128 no. 10 1716-1722)
- Wikipedia: Rohkost
- Wikipedia: Enzyme
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