Nora, 42, Physiotherapeutin, ist frustriert: »Ständig werden meine Grenzen verletzt!« heult sie ihrer Freundin vor. Ihre Patienten quatschen sie ohne Unterlass voll, Kollegen nutzen ihre Gutmütigkeit aus und schieben ihr die schwierigen Fälle zu; ihr Vater schickt ständig endlos lange Sprachnachrichten; ihr Mann will immer irgendwelche Actionfilme mit ihr schauen und entgegen vielfacher Bitten und Aufforderungen hält sich ihre Tochter nicht an die Vereinbarungen für den Haushalt, geht nicht mit dem Hund raus und steckt nicht einmal ihre eigene Schmutzwäsche in die Wäschetonne.
Von alledem fühlt Nora sich jeden Tag überwältigt. Über Grenzen hat sie viel gelesen und in Podcasts gehört – auch im Urgeschmack Podcast zu Gewohnheit #140: Ziehe klare Grenzen durch Aufgabentrennung, mit dem Titel Wie Nettigkeit dir und deinen Mitmenschen schadet – Neinsagen, Grenzen und Aufgabentrennung. Ist Nora einfach zu nett? Wenn ihr diese Grenzverletzungen so oft widerfahren, kann es doch nicht immer nur an den anderen liegen. »Was mache ich denn falsch?« fragt sie. Das ist die richtige Frage. Und darauf gibt es klare Antworten, wie auch auf diese Fragen:
- Warum deine Grenzen verletzt werden
- Warum du Grenzen, Wünsche und Regeln verwechselst
- Wie du die Verletzung deiner Grenzen vermeidest
- Was Grenzen mit Konsequenzen zu tun haben
- Wann das Einhalten bestimmter Grenzen leider einen großen Aufwand erfordert
- Warum das Achten deiner Grenzen allein deine Aufgabe ist
- Wie du deinen Kindern das Leben erleichterst, indem du sie streng in dieses System aus Grenzen, Wünschen, Regeln und Konsequenzen einbeziehst
Grenzen sind unumgänglich
Grenzen sind ein Gesetz der Natur. Alles hat Grenzen. Sie bestehen zwischen Wald und Wiese, Fuchs und Wiesel, Herz und Niere. Nora hat den ganzen Tag mit Grenzen zu tun. Ihre Zeit ist begrenzt, ihr Budget beim Einkaufen und ihre Energie. Sie hat noch viel mehr Grenzen, doch viele sind ihr gar nicht bewusst. Zum Beispiel würde sie wirklich vieles für ihre Tochter tun. Doch sie würde nicht stehlen oder morden. Das ist ihr nicht bewusst, sondern versteht sich für sie von selbst. Das sind Wertegrenzen. (Und auch wenn sie es sich nicht vorstellen kann: Wenn sie in eine Notsituation käme und es um Leben oder Tod ihrer Tochter ginge, würde Nora wohl diese Grenzen missachten).
Für viele Grenzen entscheidet man sich mehr oder weniger bewusst. Das heißt: Die Entscheidung trifft man bewusst, doch nicht immer versteht man sie als Grenzerrichtung. Ich esse Fleisch nur von Weidetieren, nicht von Tieren aus Massentierhaltung. Ich trinke keinen Alkohol. Wenn ich trainiere, habe ich kein Smartphone dabei. Diese Grenzen sind meine Entscheidungen. Und deswegen trage ich auch die Verantwortung für ihre Einhaltung. Niemand kann diese Grenzen überschreiten außer mir.
Grenzen sind lebenswichtig
Grenzen dienen dem Überleben. Wenn ich mich sozial, physisch und psychisch nicht ausreichend abgrenze, werde ich daran sterben. So wie ich meine Haut als Grenze zur Abwehr von Krankheitserregern benötige, muss ich mich von Menschen und Handlungen abgrenzen, die mir schaden. Nora weiß, dass die hektischen Schnitte in Actionfilmen ihr Stress bereiten und Energie rauben. Dann fühlt sie sich unwohl.
Als ihr Mann sie bittet, einen Actionfilm mit ihr zu schauen, verliert sie die Fassung und brüllt: »Actionfilme sind mir zu hektisch. Du weißt genau, dass ich das nicht mag. Immer überschreitest du meine Grenzen!« Und damit missbraucht sie den Vorwurf der Grenzüberschreitung als Waffe. »Mein Vater schickt mir immer wieder diese langen Sprachnachrichten. Ich habe ihm schon so oft gesagt, dass ich keinen Nerv habe, das alles abzuhören. Warum respektiert der meine Grenzen nicht?«
Damit begibt Nora sich in die Opferrolle. Sie kennt einige Ihrer Grenzen, zum Beispiel die hektischen Schnitte in Actionfilmen und die nötige Aufmerksamkeit für lange Sprachnachrichten. Wenn sie sich einen Actionfilm anschaut oder eine Sprachnachricht abhört, kostet sie das viel Energie. Davor möchte sie sich schützen.
Von der Grenze zum Wunsch
Auf dem Fundament dieser Grenzen – keine Actionfilme und keine Sprachnachrichten – hegt sie die Vorlieben, keine Actionfilme zu schauen und keine Sprachnachrichten abzuhören. Allerdings missversteht Nora, dass ihre Vorlieben, also ihre Wünsche, nicht einfach so in Erfüllung gehen können. Denn andere Menschen haben andere Pläne und wir müssen alle miteinander auskommen.
Es ist allerdings nicht nötig, dass Nora ihre Grenzen völlig transparent gestaltet. Sie muss sich also nicht für alle ihre Grenzen rechtfertigen. »Ich gehe um 21 Uhr ins Bett« und aus. Sie muss auch nicht rechtfertigen, warum sie Actionfilme nicht verträgt, wo doch andere kein Problem damit haben. Wichtig ist jedoch, dass sie ihre Grenzen deutlich kommuniziert. Zum Beispiel: »In diesem Ton lasse ich nicht mit mir reden.« Ob dieser Wunsch in Erfüllung geht, hängt von Nora ab.
Vom Wunsch zur Regel
Eine Regel kann man verstehen als einen Versuch zur Machtausübung. Vielerorts wird der Begriff Machtausübung heute negativ verstanden. Dabei ist Macht so real und lebenswichtig wie Grenzen. Macht existiert, Macht ist ungleich verteilt und ein Problem stellt das nur dar bei Machtmissbrauch. Niemand würde sich daran stören, dass ein Athlet mit all seiner Macht versucht, die Goldmedaille zu gewinnen.
Wenn Nora ihre Wünsche erfüllt, beziehungsweise ihre Grenzen eingehalten sehen will, muss sie Regeln aufstellen. In unserer Gesellschaft geschieht das ständig. Verkehrsschilder kommunizieren Regeln über das Verhalten im Verkehr und wir befolgen bücherweise Gesetze, die den Umgang miteinander regeln. So haben wir gemeinsame Regelwerke, die jeden einzelnen schützen sollen. Dort übt der Staat letztlich seine Macht aus – in ihren eigenen vier Wänden kann Nora auch Regeln aufstellen. Aber macht sie das nicht ständig? Ist »In diesem Ton darf man nicht mit mir sprechen« keine Regel?
Schon – aber im Grunde ist es nur die Äußerung eines Wunschs. Warum sollte man diese Regel befolgen? Die meisten Regeln des Alltags befolgen wir aufgrund von Gesetzen. Wenn wir mit dem Auto beim Rasen erwischt werden, zahlen wir eine Strafe; wenn wir jemanden totschlagen, kommen wir in den Knast. Das sind die Konsequenzen, mit denen man uns zur Einhaltung bringt.
Regeln erfordern Konsequenzen
Ohne Konsequenzen haben Regeln keine Bedeutung. Auch der Verstoß gegen Regeln hat dann keine Bedeutung. Was kann Nora daraus machen? Sie kann formulieren: »Wenn du weiter in diesem Ton mit mir sprichst, beende ich die Diskussion und verlasse den Raum.« Das ist eine sinnvolle Regel mit Konsequenz. Das schöne daran: Sie behält die volle Kontrolle und Verantwortung zur Einhaltung dieser Regel. Denn sie selbst muss die Konsequenz ziehen und tatsächlich das Gespräch beenden, wenn ihr Gegenüber sich im Ton vergreift. Klar kommuniziert, konsequent umgesetzt.
»Wenn du mir Sprachnachrichten schickst, höre ich sie nicht ab.« Dann gibt es keinen Grund zur Aufregung mehr. Nora kann sich natürlich weiter aufregen, wenn sie dennoch Sprachnachrichten bekommt. Doch das ist dann allein ihre Schuld. Alternativ kann sie einfach guten Gewissens ihre eigene Regel befolgen und die Sprachnachrichten ihres Vaters ignorieren. »Ich schaue keine Actionfilme« – und wenn dann doch einer eingeschaltet wird, muss sie nicht zuschauen oder kann den Raum verlassen.
Noras Grenzen sind allein Noras Verantwortung. Und sie schuldet es ihren Mitmenschen, dass sie ihre Grenzen klar kommuniziert und konsequent achtet. Andernfalls schürt sie erstens Ressentiments, was ihre Beziehungen verschlechert (und dafür ist sie dann verantwortlich). Und zweitens ist es ihre Pflicht, ihrer Tochter die Wichtigkeit von Grenzen zu vermitteln, damit diese später gesund leben kann. Regeln gehören dazu, denn sie geben Struktur. Regeln ermöglichen oft erst das Handeln. Denn ohne Regeln folgt Paralyse – stell dir den Straßenverkehr ohne Rechts-Vor-Links-Regel vor: Niemand möchte etwas Falsches tun und die Autos bleiben entweder ewig stehen oder es gibt ständig Unfälle. Regeln drücken aus, was erlaubt ist. Regeln fassen das Machbare in Grenzen. Ohne Regeln gibt es keine Spiele.
Es gibt religiös und gesellschaftlich geprägte Regeln, solche aufgrund organisatorischer Bedingungen, zum Beispiel am Arbeitsplatz, Regeln als Verbote oder als Vereinbarung. Wenn es um einen Haushalt mit Kindern geht, sollten die Regeln das Ergebnis eines gemeinsamen und fortlaufenden Prozesses sein und Eltern müssen die Bedürfnisse ihrer Kinder achten. Zugleich müssen sie ihre Kinder auf das Leben in der Gesellschaft und die Realität von Regeln und Konsequenzen vorbereiten.
Regeln und Konsequenzen
Viele Eltern und Erzieher verstehen unter dem Begriff Konsequenz augenblicklich Strafe und lehnen dies ab. Dabei sind Strafen nur eine mögliche Form von Konsequenz. Zuerst gibt es logische Konsequenzen: »Wenn du keine Jacke anziehst, wirst du frieren.« »Wenn du das Wasserglas umkippst, wird der Tisch nass.« Und es gibt rationale Konsequenzen: »Wenn du das Wasserglas umkippst, wird der Tisch nass und du musst es aufwischen.« Man kann das Aufwischen freilich als Strafe betrachten und dem Kind alles abnehmen. Doch dadurch nimmt man dem Kind die Bedeutung – ich wiederhole: Ohne Konsequenzen haben Regeln keine Bedeutung. Es ist absolut vernünftig, dass derjenige, der die Pfütze verursacht, sie auch beseitigt – zumindest kann man das von einer 11-jährigen Tochter verlangen.
Auch das ist Noras Thema: Ihre Tochter Nadja steckt ihre Schmutzwäsche nicht in die Wäschetonne und sie muss jedesmal vor dem Waschen erst ins Kinderzimmer laufen und die Schmutzwäsche aus allen Ecken zusammensuchen. Denkt sie. Damit liegt Nora falsch. Mit 11 Jahren ist ihr Kind längst alt genug, diesen Zusammenhang zu verstehen: Wenn ich die Schmutzwäsche nicht in die Wäschetonne stecke, wird sie nicht gewaschen. Dann habe ich keine frische Wäsche und muss schmutzige Klamotten anziehen. Die Konsequenz für Nora? Sie wäscht nur das, was in der Wäschetonne steckt. Das spart ihr viel Überlegung, Lauferei und Frust. Ihre Tochter Nadja hat dann eben nur schmutzige Klamotten und muss damit aus dem Haus gehen. Sie trägt die Konsequenzen ihres Handelns – oder eher ihrer Faulheit. Dadurch lernt sie die Bedeutung ihres Handelns und kann ein Gefühl von Selbstwirksamkeit gewinnen.
Konsequenzen und gebrochene Versprechen
Wer zu nett ist und seine Grenzen nicht klar kommuniziert oder verteidigt, wird auch gebrochene Versprechen zu leicht durchgehen lassen. Nora hatte ihrer Tochter Nadja lange und ausführlich die Verantwortung erklärt, die mit der Anschaffung eines Hundes einhergeht. Und sie hat Nadja erklärt: Wenn du einen Hund haben möchtest, musst du dich auch um ihn kümmern. Sie hat ihr das Versprechen abgenommen, dass sie mindestens einmal täglich mit dem Hund Gassi geht und sich um die Fütterung kümmert.
Die Bilanz zwei Jahre später ist ernüchternd: Nadja spielt zwar zu Hause gerne mit dem Hund, aber sie geht grundsätzlich nicht mit ihm Gassi, denn sie hat keine Lust aufs Spazieren. Auch um die Fütterung kümmert sie sich nicht, weil sie auch darauf keine Lust hat. Sie drückt sich also vor ihrer Verantwortung. Nora übernimmt die ganze Arbeit und ist oft genervt, dass sie sich nach der Arbeit auch noch um den Köter kümmern muss. Aber da ist sie selbst schuld. Noch dazu lässt sie ihre Tochter hängen, denn sie zeigt ihr auch hier nicht die Bedeutung von Verantwortung und Vereinbarung: Regeln und Konsequenzen. Wenn Nadja sich nicht an ihr Versprechen halten muss, welche Bedeutung haben dann Versprechen? Wie soll sie Respekt vor Regeln lernen, wenn es keine Konsequenzen, also keine Bedeutung gibt? Wie soll sie Selbstachtung lernen, wenn sie nie das Gefühl hat, Verantwortung zu tragen? Verantwortung lernt ein Kind nur, wenn man sie ihm gibt.
Welche Möglichkeiten zur Verteidigung ihrer Grenzen hat Nora hier, besonders wenn sie nicht viel von Strafen hält? Es gibt viele logische und rationale Folgen für Nadjas Handeln. Nora muss die Arbeit der Hundebetreuung übernehmen. Dadurch hat sie weniger Zeit für andere Dinge. Also könnte sie zum Beispiel ihrer Tochter weniger Gefallen tun und ihr weniger Lieblingsessen kochen, weil ihr dafür die Zeit fehlt. Wirklich konsequent wäre, wenn sie den Hund in ein Tierheim gibt, sofern sie das moralisch vertreten kann – idealerweise hätte sie das vor der Anschaffung des Tieres mit ihrer Tochter vereinbart.
Steht ihr diese Option moralisch nicht zur Verfügung, kann sie ihrer Tochter Privilegien entziehen. Sie darf erst mit ihren Freundinnen spielen, wenn sie ihre Pflichten erfüllt und den Hund versorgt hat. Das wäre keine Strafe, sondern eine rationale Konsequenz: Nadja hat der Verantwortung zugestimmt und mit 8 Jahren war sie längst alt genug für die Übernahme dieser Aufgabe. Sie hat zugestimmt und muss nun ihren Anteil der Vereinbarung erfüllen. Das ist zugleich für sie als Kind eine einmalige Gelegenheit zum Erlernen von Verantwortung für ein anderes Leben, zum Einhalten von Versprechen und zur Pflichterfüllung. So könnte sie als Kind lernen, was sie bereits tragen kann, also wie stark sie schon ist. All das nimmt Nora ihr, weil sie selbst keine klare Grenze gezogen hat, die hätte lauten können: »Dies ist mein Anteil, meine Aufgabe und das ist dein Anteil und deine Aufgabe.« Sie hat das Gefühl dass Nadja ihre Gutmütigkeit ausnutzt. Aber:
Zum Ausnutzen gehören zwei
Der eine nutzt aus, der andere lässt sich ausnutzen. Nora lässt sich auch von ihren Physiotherapie-Patienten ausnutzen als emotionale Müllhalde. Drei bis vier Patienten pro Stunde erzählen ihr während der Behandlung ihre Lebens- oder meist eher Leidensgeschichte. Stundenlang hört sie täglich dieses Gefasel und es raubt ihr Energie, am Ende ihrer Arbeitstages ist sie völlig gerädert.
Gehört das zum Job dazu? Muss sie sich das alles anhören? Menschenkontakt ist in ihrem Beruf wie in vielen anderen unvermeidbar. Grundsätzlich mag Nora die Arbeit und den Kontakt auch, jedoch findet sie, dass manche Patienten mit ihren Klageliedern Grenzen überschreiten. Natürlich tut es gut, wenn man in der Therapeutin endlich mal jemanden findet, der zuhört – doch den Preis für dieses Zuhören zahlt nun einmal Nora. Das dauernde Gequatsche nagt an ihrer mentalen Energie und somit an ihrer Konzentrationsfähigkeit.
Und genau das wäre ein Ansatzpunkt für eine Regel, die sie auf dem Fundament ihrer Grenze bauen kann: Ihre Grenze ist ein Limit von fünf Minuten Redezeit des Patienten pro Behandlung über die zur Behandlung nötigen Informationen hinaus. Mehr möchte sie nicht hören, sonst schadet es ihrer Gesundheit, weil es einfach zu viel Energie kostet. Als Regel äußern könnte sie »Ich muss mich auf die Behandlung konzentrieren und benötige dafür einige Zeit Stille, sonst kann ich Sie nicht gewissenhaft behandeln.« Oder eine andere, geschicktere Formulierung. Diese Grenzerrichtung wird einigen Patienten nicht gefallen. Doch diejenigen, die sich darüber ärgern, dass du Grenzen errichtest, sind diejenigen, die vorher davon profitiert haben, dass du keine hattest.
Hier könnte Nora in einen Konflikt geraten, denn wenn Patienten wegen ihrer neuen Regel die Praxis nicht mehr betreten, wird das Geschäft ihres Arbeitgebers beeinträchtigt. Deswegen ist eine gute Begründung ihrer Grenze und Regel sinnvoll. Ob ihr Arbeitgeber damit leben kann, ist offen. Die letzte Konsequenz müsste Nora jedoch auch hier selbst ziehen. Wenn sie das Gequassel nicht ertragen kann und ihr Arbeitgeber ihre Fünf-Minuten-Regel nicht akzeptiert, muss sie kündigen. Alles andere ergibt keinen Sinn – sie kann es nun einmal nicht ertragen. An die eigene Nase fassen muss sie sich insofern, als sie sich die schlimmsten Quasselstrippen von ihren Kollegen hat zuschustern lassen. »Noralein, kannst du den übernehmen? Der redet so viel!« Und da hat Nora zu oft Ja gesagt.
Warum fällt das Neinsagen oft so schwer?
In der Episode über die tödliche Kraft der Nettigkeit habe ich es bereits gesagt: Die häufigsten Überschreitungen unserer Grenzen begehen wir selbst. Wir sagen Ja, wenn wir eigentlich Nein denken; stimmen Dingen zu, die uns widerstreben; und machen Sachen mit, die uns Unbehagen bereiten.
Nein denken und Ja sagen. Das klingt unlogisch. Warum tun wir das? Die Antwort lautet: Angst. Angst vor Konflikt, Diskussion oder Streit, wenn wir auf unserer rechtmäßigen Position beharren. Angst davor, nicht gemocht zu werden, wenn wir nicht mitziehen. Angst vor Ablehnung, wenn wir nicht den Erwartungen anderer entsprechen.
Nora hat nie darauf bestanden, dass ihre Tochter Nadja ihren Teil der Vereinbarung einhält und sich um den Hund kümmert. Sie hat die Diskussion gescheut, wollte nicht, dass Nadja beleidigt ist oder dass der Hausfrieden mal kurz schief hängt. Sie schaut die dämlichen Actionfilme mit ihrem Mann mit, weil sie Angst hat, dass er sich von ihr im Stich gelassen fühlt und sie weniger liebt. Sie lässt sich von ihren Patienten vollquatschen aus Angst, dass diese sie nicht mehr mögen.
Die Angst vor Ablehnung ist für jeden Menschen wenigstens unbewusst ein Thema: Ablehnung bedeutete in der Steinzeit, dem größten Abschnitt der menschlichen Entwicklung, den Ausstoß aus der Gruppe. Ein Todesurteil, denn in der Natur konnte ein Mensch allein kaum überleben. Heute bedeutet Ablehnung schlimmstenfalls ein Leben in Isolation – Lebensmittel und eine Behausung findet man immer irgendwie. Soziale Isolation ist nicht tödlich, dennoch ungesund und viele Menschen fürchten auch bewusst das Alleinsein oder wenigstens die Einsamkeit. In jedem Fall sitzt die Angst vor Ablehnung tief und sie ist der Grund, warum so viele Menschen gegen ihre Werte und Wünsche verstoßen und Ja sagen, wenn sie Nein denken – oft ohne dass sie es merken.
Den Preis für diese Inkonsequenz zahlen sie nicht nur selbst: Wer gegen seine Werte und Überzeugungen verstößt, verliert seine Integrität und irgendwann auch seine Selbstachtung. Der psychologische Schaden überträgt sich auf die Physiologie – thematisiert habe ich das in der Episode mit dem Titel Wie Nettigkeit dir und deinen Mitmenschen schadet – Neinsagen, Grenzen und Aufgabentrennung.
Sondern wir schaden durch die Unfähigkeit zum Neinsagen direkt den Menschen, denen wir das Ja wider willen geben. Nora hegt einen stillen Groll gegen ihre Tochter, die ihr die Arbeit mit dem Hund aufhalst; auf ihren Mann, der ihr die Actionfilme zumutet; auf ihre Klienten, denen sie einfach ihre Grenzen nicht nennt; auf ihren Vater wegen der Sprachnachrichten. Somit belastet Nora ihre Beziehungen zu all diesen Menschen. Ihr Mann, ihre Tochter, ihre Klienten, ihr Vater bezahlen den Preis, weil Nora ihre eigenen Grenzen nicht sauber errichtet, kommuniziert und verteidigt. Weil sie inkonsequent ist.
Wie verbessert man seine Konsequenz?
Wenn die Ursache für diese Inkonsequenz die Angst vor Ablehnung ist, muss man zum Verbessern seiner Konsequenz folglich seine Angst vor Ablehnung überwinden. Dazu gibt es viele Philosophien und Ansätze. Der für mich vielversprechendste kommt vom japanischen Philosophen Ichiro Kishimi mit seinen sogenannten Kishimi/Adler-Studien. In seinem Buch mit dem Titel Du musst nicht von allen gemocht werden (engl. Original The Courage to be Disliked) schreibt er zusammen mit Fumitake Koga über seine Interpretation des deutschen Psychologen Alfred Adlers. Dazu habe ich mehrere ausführliche Beiträge und Zusammenfassungen geschrieben und als Podcast umgesetzt:
- Buch-Zusammenfassung: Du musst nicht von allen gemocht werden (The Courage to be Disliked) von Kishimi/Koga
- Adlers Anleitung zur Zufriedenheit
- Wie liebt man sich selbst?
- Fehlt dir der Mut zur Zufriedenheit?
- Mut ist die Lösung aller Probleme (Buchtipp)
Im Wesentlichen stammt die Angst vor Ablehnung (auch in Form von Konfliktscheue) meist aus einem mangelhaften Selbstwertgefühl. Wenn ein Mensch seinen eigenen Wert nicht sieht oder anerkennt, benötigt er die Anerkennung anderer Menschen, um sich wertig zu fühlen. Das jedoch zieht ihn in allerlei Abhängigkeiten.
Nora muss sich selbst anerkennen und sich Wert geben. Und zwar unabhängig davon, was andere über sie denken. Sie muss ihren eigenen Werten gemäß handeln und akzeptieren, wenn anderen Menschen das nicht unbedingt gefällt; wenn es ihre Erwartungen oder Wünsche nicht erfüllt. Sie muss akzeptieren, dass sie gelegentlich auf Ablehnung stoßen wird. Das erfordert Mut. Doch es ist wichtig für ihre mentale Gesundheit. Sie muss nicht von allen gemocht werden.
Den Mut für dieses Selbstwertgefühl kann jeder gewinnen. Wie das funktioniert, erkläre ich in den zuvor genannten Artikeln ausführlich.
Die Nettigkeit des Jasagens stammt oft aus dem Wunsch nach Anerkennung. Streng genommen ist das allerdings kein Wunsch nach Anerkennung, sondern nach dem Gefühl von Anerkennung. Und das wiederum verwechseln wir oft mit dem sehr ähnlichen Gefühl von Zugehörigkeit. Wer zu oft Ja sagt und es allen recht machen will, sich also wie ein zu kleines Stück Butter über eine zu große Scheibe Brot verteilt, strebt nach Anerkennung, möchte gesehen werden – weil er sich selbst nicht anerkennt und sieht. Letztlich ist das der Wunsch nach Zugehörigkeit. Doch wer dafür auf andere Menschen angewiesen ist, kann nie Zufriedenheit erlangen. Das Gefühl von Zugehörigkeit kann sich jeder jederzeit selbst geben.
Wer das Neinsagen scheut, erledigt also seine eigenen Aufgaben nicht: Nora erkennt sich selbst nicht an und sieht sich selbst nicht. Und weil sie ein Bedürfnis nach dem Gefühl von Zugehörigkeit hat, sucht sie diese Anerkennung von außen. Deswegen möchte sie es allen recht machen, alle (oft eingebildeten) Erwartungen erfüllen und bloß keinen Unmut auslösen. So überschreitet sie ständig ihre eigenen Grenzen und erwartet von anderen, was sie selbst nicht leistet.
Weitere Beispiele für mangelhafte Grenzen
Grenzen eines Selbstständigen
Ein Tischler, der seine Preise nicht anhebt, ein Autor, der sein Buch nicht vermarktet, ein Klavierstimmer, der Klaviere gratis stimmt: Sie alle haben das gleiche Problem und wissen es oft nicht. Sie haben Angst vor Ablehnung; Angst davor, einen Kunden zu verärgern oder zu verlieren, wenn sie den höheren Preis für ihre Arbeit nehmen. Dabei ist die Zahl möglicher Kunden meist groß genug, um hier und da ein paar zu verlieren. Stattdessen haben sie immer weniger Freude an ihrer Arbeit, und schimpfen vermehrt auf ihre Kunden
Grenzen einer Beziehung
Es ist nicht Noras Aufgabe, ihren Partner glücklich zu machen. Und manchmal gibt es unangenehme Gespräche, zum Beispiel wenn man Konflikte lösen möchte; wenn man seine Grenzen verdeutlichen und verteidigen muss. Das ist Teil einer Beziehung und des gemeinsamen Wachsens. Das sind die Schlachten, die man gemeinsam schlägt und auf die man unbewusst zurückblickt als Bastionen der Beziehung.
Grenzen zwischen Eltern und Kind
Das gleiche gilt für Kinder: Kindheit kann nicht immer nur Honig und Sonnenschein sein. Noras Aufgabe ist nicht, ihre Tochter glücklich zu machen. Manchmal gibt es Situationen, die das Kind als unangenehm empfindet – eben weil das im Leben manchmal so ist und ein Kind lernen muss, was Verantwortung, Regeln und Konsequenzen bedeuten.
Die wichtigste Aufgabe der Eltern: Dem Kind die Mittel an die Hand geben, sich selbst glücklich zu machen und Zufriedenheit in sich selbst zu finden.
Nora muss ihrer Tochter zeigen, dass nicht immer alles nach ihrer Nase laufen, sie sich deswegen unglücklich fühlen und wie sie mit diesem Gefühl und Wissen umgehen kann: Das Unangenehme ist unausweichlicher Teil des Angenehmen. Jede Widrigkeit, der Nadja standhält, macht sie stärker und lehrt sie, wie stark sie ist. Jedes mal, wenn sie ein unangenehmes Gefühl auf sich nimmt und ihm entgegentritt, wächst Nadja über sich hinaus und ist besser gerüstet für das autonome Leben. Außerdem lernt sie so von ihrer Mutter, was Grenzen, Regeln und Konsequenzen bedeuten und kann früh im Leben ihre eigenen Grenzen verstehen und errichten. Das schützt sie vor dem Stress, den Nora viele Jahre durchlebt hat
Die Konsequenz von Konsequenzen
Nora versteht nun ihre Grenzen und begreift: Sie selbst muss diese Grenzen errichten, kommunizieren und verteidigen. Ihren Patienten, ihrem Mann, ihrem Vater, ihrer Tochter. Genau das tut sie. Aber in jedem dieser Fälle bekommt sie ein schlechtes Gewissen; sie fühlt sich egoistisch. Genau das ist eine der Herausforderungen erfolgreichen Lebens mit Grenzen, Regeln und Konsequenzen: In den allermeisten Fällen hast du nur die Wahl zwischen Ressentiments und einem schlechten Gewissen. In Noras Fall sind die Ressentiments ihr geäußerter Groll auf Kollegen, Patienten, Ehemann oder Tochter; ein Groll, der eigentlich ihrem eigenen Scheitern bei der Grenzerrichtung gilt. Ein schlechtes Gewissen bekommt sie, weil sie etwas für sich selbst tut und nicht die Wünsche anderer erfüllt. Das ist sie nicht gewohnt. Aber das muss sie tun, weil sie sonst gegen ihre Werte verstößt, ihre Integrität verliert und ihren Liebsten schadet. Wer nie ein schlechtes Gewissen hat, macht etwas falsch.
Schwere Konsequenzen sind auch nur Konsequenzen
Konsequenzen sind stets einfach – jedoch nicht immer leicht. Manchmal ist die einzig mögliche Konsequenz, dass man einen Arbeitsplatz kündigt, einen Kunden aufgibt, eine Wohnung verlässt oder die Scheidung einreicht. Solche Maßnahmen wirken schwer, vielleicht auch, weil wir sie oft als nahezu unumkehrbar empfinden. Wir messen Ehe, Arbeitsplatz und unseren vier Wänden hohen Wert bei, zumal sie grundlegende Bedürfnisse erfüllen. Doch Grenzen sind Grenzen. Wenn sich kein friedliches Auskommen mit Arbeitgeber, Nachbar oder Kunde finden lässt, dann ist die Konsequenz – kündigen und gehen – auch nur eine weitere Maßnahme zur Grenzverteidigung, zum Selbstschutz: Lebensnotwendig. Im Übrigen führen solche Schritte fast immer nach vorn in eine bessere Situation – zumindest, wenn man weiterhin aufmerksam die eigenen Grenzen reflektiert.
Zusammenfassung
Grenzen sind unumgänglich und lebenswichtig. Jeder muss Grenzen errichten und damit sich selbst, seine Bedürfnisse und Integrität schützen. Für das Einhalten der eigenen Grenzen ist jeder selbst verantwortlich.
Diese Grenzen sind Anforderungen, die wir an unsere Umwelt stellen; zunächst können das nur Wünsche sein. Im Zusammenleben benötigen wir Regeln, damit diese Wünsche oder Bedürfnisse erfüllt werden können. Das bedeutet: Wir müssen unsere eigenen Grenzen kennen und errichten, kommunizieren und verteidigen. Damit andere diese Grenzen achten, müssen wir Regeln erarbeiten. Am besten sind solche Regeln, die nur unsere eigene Einhaltung erfordern, zum Beispiel: »Ich lasse mich nicht anschreien. Wenn du schreist, gehe ich.«
Regeln erfordern also Konsequenzen, die wir selbst ziehen müssen. Die gleiche Konsequenz sollte für Versprechen gelten. Wer keine Konsequenzen zieht, ist für weitere Regelverstöße mitverantwortlich.
Das Neinsagen fällt vielen Menschen schwer, weil sie Angst haben, dass sie dadurch anecken, Erwartungen nicht erfüllen oder sich in anderer Form unbeliebt machen; das ist die Angst vor Konflikt, die Angst, nicht gemocht zu werden. Dahinter steckt die berechtigte Angst vor sozialer Isolation, die allerdings in den meisten Fällen unbegründet ist.
Konsequenz erfordert den Mut zum Konflikt. Diesen Mut findet man in der Selbstachtung, einem guten Selbstwertgefühl. Wer konsequent ist, hat häufig nur die Wahl zwischen einem schlechten Gewissen, weil er etwas für sich selbst tut, oder Ressentiments, weil er gegen die eigenen Wünsche oder Werte verstößt.
Podcast: Play in new window
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