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Wie Nettigkeit dir und deinen Mitmenschen schadet – Neinsagen, Grenzen und Aufgabentrennung

Niemand sollte nett sein, denn Nettsein macht krank und schadet unseren Mitmenschen.

In dieser Episode spreche über Gewohnheit #140 aus meinem Buch Der Weg – Wie du einen gesunden Lebenswandel entwickelst und beibehältst und darüber,

  • wie Grenzen die Gesundheit schützen und Leben retten,
  • warum die häufigsten Grenzüberschreitungen von uns selbst kommen,
  • wie Nettigkeit und die Verletzung unserer Grenzen uns physisch krank macht und zu Autoimmunkrankheiten führt,
  • warum Schuldgefühle normal und wichtiger Teil des Alltags sind,
  • wie Nettigkeit ansteckend wirkt und ganze Familien und Gemeinschaften krank macht,
  • warum besonders Kinder ihre Grenzen erkennen und respektieren lernen müssen,
  • welche Rolle Grenzen beim Aufwachsen und dem Erreichen von Autonomie und Selbstregulation spielen und
  • wie man Wut gesund ausdrückt und so seine Gesundheit und die der Gesellschaft schützt.

Meine Grenzen sind definitiv erreicht bei dem Versuch, einen Witz zur Auflockerung zu finden. Das ist in Ordnung, denn: Es ist nicht meine Aufgabe, meine Leser und Zuschauer zu erheitern.

Gewohnheit #140: Ziehe klare Grenzen durch Aufgabentrennung

Zu klaren Grenzen gehört Aufgabentrennung: Jeder muss seine eigenen Aufgaben erledigen. Deine eigenen Aufgaben sind all jene, deren Konsequenzen du selbst trägst. Die Hausaufgaben oder der Fleiß deines Sohnes in der Schule ist allein seine Aufgabe, denn er muss mit den Folgen guter oder schlechter Noten leben. Mischst du dich ein, bereitest du ihm und dir selbst Stress und Frust.

Wenn du anderen Menschen ihre Aufgaben abnimmst, raubst du ihnen damit ihre Unabhängigkeit. Denn nur wer seine Aufgaben selbst erledigt, erlangt das Gefühl von Selbstwert und Kompetenz. Und dieses Gefühl für den eigenen Wert verleiht einem Menschen die Zuversicht und den Mut, andere Menschen bedingungslos zu lieben.

Das bedeutet nicht, dass man sich nur um sich selbst kümmert. Wenn man sieht, dass jemand Schwierigkeiten mit seinen Aufgaben hat, kann man ihm durchaus seine Hilfe anbieten: »Wenn du Hilfe beim Zubinden deiner Schuhe brauchst, zeige ich es dir gern.« Bei offensichtlichen Problemen Hilfe anbieten, jedoch nicht aufdrängen. Genau dort verläuft die Grenze.

Ganz gleich wie die Zeit drängt und wie ungeduldig du bist: Wenn du deiner Tochter die Schuhe zubindest, lernt sie es nie. Wenn du deinem Vater die Einkäufe abnimmst, verlernt er es schneller.

Mische dich nicht in die Aufgaben anderer ein. Erlaube keine Einmischung in deine eigenen Aufgaben.

Grenzen sind lebenswichtig

Deine Haut und dein Darm grenzen dich von der Außenwelt ab. Ohne diese physischen Grenzen kannst du nicht überleben und wirst von Bakterien, Viren, Parasiten und Umweltgiften zerstört. Auch psychologisch benötigst du Grenzen, damit du gesund bleibst. Wenn du nicht begreifst, wo deine Aufgaben, Emotionen und Bedürfnisse enden und die deiner Mitmenschen anfangen, bist du in Lebensgefahr.

Ein Beispiel wäre, wenn du versuchst allen alles Recht zu machen, wenn du alle Emotionen deiner Mitmenschen mitlebst und dich in all ihre Probleme verstrickst. Das ist eine Überlastung deines Organismus und es bleibt kein Raum mehr für deine eigenen Bedürfnisse – die du in diesem Zustand wahrscheinlich auch gar nicht mehr kennst.

Die Folge solcher Verstrickungen ist Frust und häufig Wut, die sich allerdings meist bestenfalls als Trauer äußert.

Nehmen wir die Geschwister Gustav und Heidi. Die beiden verstehen sich gut, sind wie beste Freunde. Doch in letzter Zeit vernachlässigt Heidi sich selbst, trifft unkluge Entscheidungen, gerät in einen Kreislauf aus Problemen und Widersprüchen. Natürlich möchte Gustav ihr helfen. Schließlich ist er ihr Bruder und hätte wirklich guten Rat für Heidi. Diesen Rat kann er ihr auch geben, wenn sie ihn danach fragt – und vielleicht auch genau ein mal, wenn sie nicht danach fragt, denn vielleicht ahnt Heidi nicht, dass Gustav einen Ausweg kennt. Doch ob Heidi seinen Ratschlag annimmt und umsetzt, liegt allein bei ihr.

Wenn Gustav sich allerdings immer wieder mit ihr hinkniet, sich in ihre Situation hineindenkt, mitfiebert und -leidet, kostet ihn das Energie. Egal wie sehr er seine Schwester liebt: Es werden Ressentiments entstehen und es wird ihn frustrieren, wenn sie einfach ihr Leben nicht auf die Kette bekommt, obwohl es so einfach wäre. Freundschaft hin oder her: Es ist ihr Leben mit ihren Entscheidungen. Das ist eine Grenze. Die musst Gustav begreifen und respektieren. Für sich und für seine Schwester.

Andernfalls wird aus dem Frust schnell Wut. Denn Wut ist unsere Emotion zum Verteidigen von Grenzen. Wenn du deine Grenzen wiederholt bewusst überschreitest, schaltet sich irgendwann das Unterbewusstsein ein. Du wirst wütend – oder traurig, denn Trauer ist die Emotion, hinter der Wut sich oft versteckt. Die Trauer könnte sich bei Gustav äußern als ein Gefühl von Unzufriedenheit, ein Gefühl, nicht sein eigenes Leben zu leben. Kein Wunder – er ist zu sehr mit den Problemen seiner Schwester beschäftigt und vergisst seine eigenen Bedürfnisse.

Das passiert, wenn man (zu) nett ist

Allerdings ist Gustav auch sonst einfach zu nett. Er verwechselt nämlich Freundlichkeit mit Nettigkeit. Nettigkeit ist, wenn man allen entgegenkommt. Wenn man sich an alle anpasst. So missachtet Gustav ständig auch im Kleinen seine eigenen Bedürfnisse und Wünsche. Geht mit seiner Freundin ins Kino in einen Film, den er gar nicht sehen will, weil seine Freundin sich das wünscht. Bestellt gemeinsam eine Pizza mit Salami, die er eigentlich nicht ausstehen kann. Verschiebt das Treffen mit einem alten Freund, um bei der Arbeit Zeit für einen Kunden nach Feierabend zu haben. Zahlt seinem Vermieter die unberechtigte Mieterhöhung, weil der einfach gerne mehr Geld hätte. Lässt sich am Telefon von irgendwelchen Telemarketern vollquatschen, weil er nicht unhöflich sein und einfach auflegen will. Verleiht seine Schlagbohrmaschine, obwohl er genau weiß, dass man Werkzeug nicht verleihen sollte. Und so fort.

Gelernt hat Gustav das von seiner Mutter. Die hat nämlich auch immer alles für ihre Kinder gemacht. Hauptsache, die Kinder sind glücklich und haben alles. Das ist auch nett. Aber nicht gesund, denn es führt zu einer verminderten Konfliktfähigkeit. Der überaus nette Mensch versucht letztlich, von jedem gemocht zu werden oder genauer: Von niemandem nicht gemocht zu werden. Er kann den Gedanken nicht ertragen, anzuecken oder dass jemand etwas schlechtes von ihm denkt, sei der Gedanke oder die Person auch noch so belanglos.

Übertriebene Freundlichkeit ist Selbsthass

Mike Tyson sagt: »The person who is friends with everybody is an enemy to himself.« Übersetzt: »Die Person, die mit jedem befreundet ist, ist sich selbst ein Feind.« Wer es allen anderen recht macht, kann seine eigenen Bedürfnisse nicht erfüllen. Wenn Gustav die ekelige Salami isst, er einen blöden Film anschaut und seinen alten Freund nicht treffen kann, macht ihn das im Grunde wütend. Aber er selbst hat diese Entscheidungen getroffen, also muss die Wut nun ihn selbst treffen. Es ist genau die Wut, die er in den Momenten der Entscheidung unterdrückt hat, wo sie ihm in einer winzigen Dosis geholfen hätte, seine Grenze gegen Salami und schnulzige Filme zu verteidigen. Er hat die Wut vom eigentlichen Ereignis gelöst. Manchmal nennen wir das auch: Zurückstecken.

Das deckt sich mit der Aussage des kanadischen Arztes und Autors Gabor Maté: Das Unterdrücken von Wut ist eine Dissoziation.

Solche Unterdrückung von Wut geschieht oft unbewusst; meist im Kind, das seine Wut nicht zeigt, um sein Verhältnis zu den Eltern nicht zu verschlechtern – und diese Wut gegen sich selbst richtet. Daraus entsteht unangemessene Selbstkritik.

Bleibt solche Selbstkritik verborgen über lange Zeit aktiv, kann eine Autoimmunerkrankung folgen, weil das verwirrte Immunsystem den Emotionen folgt und sich gegen den eigenen Körper richtet.

Man muss also seine Grenzen kennen und setzen: Ich selbst und die anderen; gut für mich oder schlecht für mich; Bedrohung oder Nicht-Bedrohung.

Wer diese Grenzen psychologisch nicht setzen kann, beeinträchtigt damit auch seine physiologischen Grenzen: Es kommt zur Verwirrung des Immunsystems und zu Autoimmunerkrankungen.

Emotionen als Teil unseres Verteidigungssystems

Die Psychoneuroimmunologie (PNI) ist ein interdisziplinäres Forschungsgebiet zwischen den Bereichen Immunologie, Psychologie und Neurologie. Sie erklärt unter anderem das Entstehen psychosomatischer Erkrankungen. Einige Vertreter zählen die Endokrinologie hinzu, also das Hormonsystem. Die PNI kann die Wechselwirkung zwischen Emotionen, Immunsystem, Nervensystem und Hormonsystem erklären.

Immun- und Nervensystem schützen den Körper vor Bedrohungen – genauso tun das Emotionen.

Nerven- und Hormonsystem sichern und befriedigen Bedürfnisse – genauso tun das Emotionen.

Immun-, Nerven- und Hormonsystem helfen bei Erhalt und Reparatur des internen Milieus – genauso tun das Emotionen.

Emotionen dienen dem Überleben und der Abwehr von Gefahren. Sie interagieren nicht einfach nur mit Immun-, Nerven- und Hormonsystem, sondern sie sind Teil davon!

Wut ist keine negative Emotion, sondern eine Überlebensfunktion. Im Tierreich dient Wut der Einschüchterung. Selbst ein Beutetier kann so seinen Jäger einschüchtern. Einen Kampf beenden, bevor er beginnt: Das funktioniert nicht, wenn man nett ist und Grenzübertretungen zulässt.

Gustav hat ständig Grenzübertretungen zugelassen. Dadurch fanden in ihm Kämpfe statt und zu den Verletzten gehören seine eigenen Wertvorstellungen. Das fühlt sich schlecht an und kostet ihn viele schlaflose Stunden. So entstehen Ressentiments. Geschieht das häufiger, wird er dazu neigen, solche Situationen zu meiden. Dummerweise ist es nur menschlich, solche Ressentiments gegenüber einer Situation zu übertragen auf die Person oder den Anlass: Kinogänge, Pizza oder seine Freundin im Allgemeinen.

Welche Alternative hatte Gustav? Er hätte mehr in seinem eigenen Sinne handeln müssen. Das hat er nicht getan, auch weil er Angst vor Schuldgefühlen hatte, wenn er etwas für sich tut.

Schuldgefühle sind besser als Ressentiments

Schuldgefühle, wenn man etwas für sich selbst tut, sind normal. Viele Entscheidungen des Alltags lassen einem nur die Wahl zwischen Schuldgefühlen oder Ressentiments. Man tut etwas für jemand anderen, obwohl man es eigentlich nicht möchte – aus Angst vor Schuldgefühlen. Jedoch bringt diese Wahl eben Ressentiments mit sich und damit interne Spannungen und auf Dauer Erkrankungen.

Wer nie Schuldgefühle hat und immer nett ist, macht demnach etwas falsch. Du bist nicht verantwortlich dafür, wie andere Menschen sich fühlen. Oder anders ausgedrückt: Es ist nicht deine Aufgabe, deine Mitmenschen glücklich zu machen.

Nettigkeit ist eine ansteckende Krankheit

Nettigkeit ist auf diesem Weg nicht nur ungesund, sondern ihre Folgen sind auch ansteckend. Damit ist nicht allein gemeint, dass Menschen sich dieses Verhalten voneinander abgucken – so wie Gustav es von seiner Mutter gelernt hat.

Sondern die Folgen der Nettigkeit fügen ebenfalls anderen Menschen Leid zu. Gustav könnte viele Jahre eine Beziehung mit seiner Freundin führen, während in ihm permanent Konflikte schwelen. Nach einigen Jahren platzt ihm der Kragen: Er spürt, dass er nicht sein eigenes Leben lebt. Die Schuld daran sieht er allerdings nicht in seinen eigenen Entscheidungen und seiner Nettigkeit, sondern projiziert sie – typisch menschlich – auf seine Freundin. Er trennt sich von ihr – für sie kommt das überraschend und dementsprechend leidet sie.

Ganze Familien leben so miteinander und die Kinder entwickeln darin reihenweise Krankheiten. Solche Familien haben oft vier Dinge gemein:

  • Verstrickung
  • Überfürsorglichkeit (Kontrolle)
  • Starrheit
  • Mangelnde Konfliktlösung

Das manifestiert sich als hochgradige Einmischung, gegenseitige Abhängigkeit von Verhältnissen, Überschreiten persönlicher Grenzen, schlecht differenzierte Wahrnehmung zwischen Selbst und anderen Familienmitgliedern und schwachen Grenzen. Alle wollen immer nett sein und gehen jedem Konflikt aus dem Weg, wichtige Ereignisse werden geheim gehalten, damit sich bloß niemand aufregt und am Ende ist jeder misstrauisch und niemand fühlt sich wirklich sicher. Wer in einem so toxischen Umfeld aufwächst, muss krank werden.

Kinder müssen Grenzen respektieren – besonders die eigenen

Gerade Kinder müssen Grenzen begreifen und respektieren lernen. Die ihrer Eltern und der Gesellschaft; jedoch vielmehr ihre eigenen. Denn am häufigsten werden nicht die Grenzen von Kindern verletzt, sondern sie werden gar nicht erst errichtet. Meist können die Eltern dem Kind nicht dabei helfen, weil sie es selbst nie gelernt haben.

Medien und Gesellschaft propagieren, wir alle bräuchten unbedingt mehr Rechte und Freiheiten. Kaum zur Sprache kommen dabei die Kehrseiten dieser Medaillen: Pflichten und Grenzen. Dabei dienen Grenzen nicht nur dem Überleben, sondern bereits dem Heranwachsen. Denn Grenzen sind ein Schlüssel zur Autonomie und damit einhergehender Spannung.

Die Spannung zwischen Autonomie und Sicherheit

Die natürliche menschliche Entwicklung führt von totaler Abhängigkeit als Säugling, der kaum Grenzen geltend machen kann, hin zu Unabhängigkeit, beziehungsweise Interdependenz Erwachsener in einer Gemeinschaft; von vollständiger Regulation von außen hin zu Selbst-Regulation.

Dadurch entsteht auch eine Spannung zwischen den Bedürfnissen nach Autonomie und nach Sicherheit. Die Autonomie darf nicht auf Kosten sozialer Beziehungen gehen, welche dem Überleben dienen: Arbeitgeber, Mitarbeiter, soziale Autoritätspersonen.

Zum Vermeiden dieser Spannung oder dieses Stress sind einige Menschen bereit, einen Teil ihrer Autonomie abzugeben zugunsten zum Beispiel einer Beziehung – emotionale Intimität ist ein Grundbedürfnis (je besser ein Mensch sozial eingebunden ist, desto geringer ist sein Sterberisiko und desto höher ist seine Überlebenschance).

Allerdings verursacht auch der Verlust von Autonomie Stress: Man unterdrückt chronisch ein eigenes Bedürfnis, um anderen zu gefallen – für die Sicherheit einer Beziehung. Den resultierenden Stress nimmt man oft nicht wahr.

Je schlechter nun die Selbst-Regulation funktioniert, desto größer wird die Abhängigkeit von anderen und somit die Spannung zwischen Autonomie und Bindung. Wenn ein Mensch mit sich selbst völlig zufrieden ist, seine Emotionen regulieren und seine Bedürfnisse befriedigen kann, kennt er offenbar seine Grenzen und erledigt seine Aufgaben. Er ist weniger abhängig von seinen Beziehungen und kann sie mit entsprechend weniger Spannung pflegen und genießen. Der Konflikt zwischen Autonomie und Bindung bleibt bestehen, ist jedoch sauber umrissen, die Spannung dadurch minimiert.

Wut angemessen ausdrücken um Grenzen zu errichten

Der Umgang unserer Gesellschaft mit dem Begriff Wut ist recht unreif, es fehlt meist die Differenzierung. Wut verbinden wir mit Wutausbrüchen und verbaler Gewalt, mit Lauterwerden und Drama. Genau das sind jedoch keine gesunden Ausdrücke von Wut – im Detail erläutere ich das in der Episode Warum du richtig wütend sein solltest.

Wut dient dem Errichten und Verteidigen von Grenzen und das kann und muss in viel kleineren und leiseren Dosierung geschehen. Ein einfaches Nein enthält oft die Energie der Wut – nicht als offene Aggression gegen die andere Person, sondern schlicht als Grenzsetzung. »Bitte schließ beim Herausgehen die Tür, sonst wird es hier zu kalt.« ist eine Grenzmarkierung: Ich dulde keine Energieverschwendung oder Kälte im Haus. »Nein danke, ich esse keinen Zucker«, auf das enthusiastische Kuchenangebot der Gastgeberin oder »Danke, ich bin satt«; »Ich mache gerne einen Filmabend mit dir, aber Actionfilme schaue ich nicht«: All das sind Grenzsetzungen für die es eine kleine Dosis Wut braucht. Das merken wir daran, dass wir uns selbst schaden, wenn wir die Grenze nicht einhalten. Wenn wir dem Gastgeber zuliebe den Zuckerkram essen, obwohl wir das selbst nicht wollen oder uns das Actionspektakel den ganzen Abend auf den Keks geht, dann ärgern wir uns und der Groll schwelt.

Das Neinsagen ist fast immer mit solch einer kleinen Wut verbunden. Deswegen fällt es Gustav so schwer, zu seiner Liebsten manchmal Nein zu sagen. Tief unter dem Unterbewusstsein ist das Nein Wut – eine Angriffsenergie. Und ein Angriff auf einen Lieben verursacht Angst und Schuldgefühle.

Dabei respektiert Wut Grenzen. Für sich selbst einzustehen erfordert nicht das Übertreten der Grenzen anderer. Wenn Gustavs Freundin unbedingt den Actionfilm sehen will, kann sie das auch allein tun. Sein Nein ist nur das Signal, dass er nicht dabei sein wird – und kein Verbot von Actionfilmen im gemeinsamen Haushalt.

Gesunde Wut ist Ermächtigung und Entspannung. Es ist ein Energierausch, eine Mobilisierung zum Angriff – und das Verschwinden jeglicher Anspannung.

Zusammenfassung

Grenzen sind lebenswichtig und sie dienen unserem Schutz. Wer seine Grenzen nicht kennt, setzt und verteidigt, wird krank.

In unserer Gesellschaft finden die meisten Überschreitungen individueller Grenzen durch das Individuum selbst statt. Gründe sind die Unkenntnis der eigenen Grenzen, die Angst vor der eigenen Wut-Energie, die Angst vor Ablehnung oder die Angst vor Konflikten. Solche Menschen wirken nach außen nett. Sie machen es allen recht und wollen nirgends anstoßen.

Unter dieser Nettigkeit schwelt eine unterdrückte Wut, die nur sich selbst gelten kann. Häufige Folge sind Erkrankungen, meist Darmprobleme, Autoimmunkrankheiten oder Krebs – Krankheiten also, bei denen der Körper die eigenen Grenzen missachtet.

Emotionen sind Teil unseres Verteidigungssystems, sie dienen dem Überleben. Wer seine Emotionen ignoriert, begibt sich in Gefahr.

Eine Grenze zu errichten erfordert die Energie der Wut, somit ist sie eine Form von Angriffsenergie – doch sie erfordert keinen tatsächlichen Angriff. Dennoch empfinden viele Menschen beim Errichten von Grenzen, zum Beispiel beim Neinsagen, Schuldgefühle. Die einzige Alternative sind jedoch meist wachsende Ressentiments und mehr unterdrückte Wut. Schuldgefühle gehören zum Leben dazu. Akzeptiere sie.

Zwanghafte Nettigkeit ist eine ansteckende Krankheit. Zum einen färbt das Verhalten ab – meist von den Eltern auf die Kinder. Zum anderen erzeugt sie innere Spannungen, die zu reihenweise Erkrankungen auch innerhalb der Familie führen – ebenfalls meist bei den Kindern.

Besonders oft werden die Grenzen von Kindern überschritten, allerdings überwiegend, weil diese gar nicht erst lernen, sie zu setzen.

Grenzen sind wichtig auch für die Entwicklung des Kindes, denn ohne Grenzen kann es den Weg zur Autonomie und Selbstregulation nicht schaffen. Autonomie erfordert den Respekt vor Grenzen und die Einhaltung der Aufgabentrennung.

Wer Wut gesund ausdrückt, nutzt sie zum Setzen von Grenzen. Gesunde Wut ist leise, klar, deutlich und voller Respekt auch vor den Grenzen anderer.

Freundlich und nett sind zwei verschiedene Dinge. Freundlich kommt von Freund. Einem Freund nennt man die Grenzen oder man sagt ihm, wenn ihm ein Popel aus der Nase hängt – Freundschaft duldet also auch Reibung.

Nett kommt hingegen von makellos, glänzend, schillernd – da ist kein Raum für Widerspruch oder Klage. Nettigkeit ist ein gänzlich unrealistisches, künstliches Gebilde. Es ist Perfektion. Und Perfektion ist unmenschlich.