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Wie viel sollte man sich mit seiner Ernährung beschäftigen?

Wer sich viel mit Ernährung beschäftigt, isst gesünder: Das stimmt häufig, jedoch nicht immer. Es kommt darauf an, wie man es macht. Geht man es richtig an, muss man nur ein wenig Zeit aufwenden und kann dadurch seine Ernährung verbessern. Doch warum sollte man das tun? Auf welchen Wegen wirkt solche Beschäftigung und: Wie viel Zeit des Tages sollte man damit verbringen? Ist das nicht doch Zeitverschwendung?

Die Qualität des Essens – wahrgenommener Geschmack, Sättigung und damit auch gesundheitlicher Wert – ändert sich bereits, wenn wir nur darüber nachdenken. Denn Gedanken beeinflussen unsere Wahrnehmung.1 Demnach können wir viel gewinnen, indem wir uns mit unserer Ernährung beschäftigen. Jedoch nicht durch jede Beschäftigung mit Essen: Wer Food Pornos konsumiert, stundenlang Fotos von Essen anschaut, ernährt sich tendenziell schlechter.2 Auch wer über die beste Ernährung diskutiert, Kalorien zählt und Nährstoffe vergleicht – kurz: dem Nährstoffismus3 fröhnt – kann dadurch sein Essen nicht einfach verbessern.

Besonders stark wirkt hingegen eine einfache Form der Beschäftigung mit Ernährung: Achtsame Erwartung. Wer sich die innere Ruhe erlaubt und sich gedanklich auf das folgende Essen einstimmt und sich vorstellt, wie es den Gaumen erregt, kurz: wer Vorfreude wahrlich pflegt, der isst tendenziell weniger, genießt sein Essen mehr und gewinnt dadurch höhere Befriedigung. Eine achtsam genossene Mahlzeit hält länger satt.4 Man könnte sagen: Sie nährt nicht nur den Körper, sondern auch Geist und Seele.

Noch eine andere Beschäftigung mit Ernährung beweist ihren Nutzen für gesunde Ernährung ständig: Selbst kochen. Frische Zutaten einkaufen, mit Liebe (mindestens zu sich selbst) zubereiten und aufmerksam genießen.5

Einfach nur an das kommende Mahl denken und an nichts anderes. Und selbst kochen. Das sind einfache Traditionen. Verbunden sind sie mit aufrichtiger Wertschätzung des eigenen Genusses; des Kochs und seiner Arbeit; des Erzeugers und Erzeugnisses; der Natur. Diese Gedanken verbessern die Ernährung.

»Schön und gut«, wendet nun vielleicht die äußerst nützliche Wirtschaftswissenschaft ein, »aber wo liegt der Grenznutzen? Wie viel Zeit lohnt es sich diesen Gedanken zu widmen? Wie viel ist genug?« Genau. Tacheles. Endlich sagt es mal jemand. Was würden wir nur tun, ohne Wirtschaftswissenschaft?

Diese Frage betrifft den Lebenswandel. Eine Antwort finden wir in der Natur, aus der wir Menschen stammen. Beginnen wir ganz vorne bei unseren tierischen Vorfahren: Ursprünglich beschäftigten wir uns den Großteil des Tages mit Ernährung, indem wir Essen suchten. Noch unsere nächsten Verwandten, die Schimpansen, verbringen jeden Tag sechs Stunden nur mit Kauen.6

Blättern wir im ungeschriebenen Geschichtsbuch weiter vor in die vielzitierte Steinzeit: Für uns Menschen war es bis vor wenigen Tausend Jahren kaum anders: Vorfreude oder Erwartung des Essens regierte den Tag. Als Jäger in der Steinzeit war bereits diese Erwartung von höchst körperlicher Erfahrung begleitet. Ernährung beherrschte den Tag als ein mal harter, mal leichter Kampf ums Überleben.

Mit Beginn der Landwirtschaft änderte sich die Tätigkeit, kaum jedoch ihr Anteil am Tag. Bis über das Mittelalter hinaus verbringen Selbstversorger den Großteil ihres Tages mit Ernährung. Selbst wer anderen Berufen nachging, arbeitete überwiegend für Lebensmittel und nicht für beleuchtete Klorollenhalter. Zunehmend verlor sich jedoch der Kontakt zur Erzeugung von Lebensmitteln. Eine Industrialisierung später landen in Deutschland weniger als dreizehn Prozent der Arbeitszeit in Nahrungsmitteln:7 Weniger als in den meisten anderen europäischen Ländern. Den geringen Ausgaben entspricht die Wertschätzung der Erzeugnisse, jedoch auch der Ernährung selbst.

Esskultur hat keinen Platz in einer Welt, in der man auf dem Hoverboard steht, in seinen Smartphone-Schrein starrt und nebenher den Burger aus der Frittenschleuder einwirft. Dabei entfällt nicht nur die Wahrnehmung des persönlichen Essens, sondern das Konviviale, das gemeinschaftliche Erlebnis der Mahlzeit. Vor tausenden Jahren aßen wir als Stamm, später als Clan, als Familie, wenigstens gemeinsam. Heute nehmen so viele Menschen ihr Essen alleine ein wie nie zuvor.8 Alleine essen: Auch das ist ungesund.

Übergewicht, Essstörungen und viele andere ernährungsbedingte Krankheiten begleiten diese Entwicklung. Jagd, Landwirtschaft, Kochen und die damit verbundene körperliche Anstrengung entgehen uns und damit lebhafte, ganzkörperliche Erinnerungen, die das Essen aufwerten könnten. Auch die Erlebnisse gemeinschaftlicher Mahlzeiten fehlen uns heute zusehends.

Unsere Antwort könnte man dort vermuten: irgendwann vor der Moderne und der Industrialisierung. So viel Zeit wie sich ein Mensch damals mit Ernährung beschäftigte, wäre demnach wenigstens nötig. Eine hoffnungslos pauschalisierte und naive Antwort, die unserem Fragesteller gerecht wird.

Steinzeit und Mittelalter sind vorbei. Wir haben unsere Welt verändert, verfügen weitgehend über ein reichliches Überangebot von Lebensmitteln und gehen anderen Tätigkeiten nach. Anteilnahme, Wertschätzung und das Essen selbst zubereiten für gesündere Ernährung: Jeder muss selbst entscheiden, ob und wie viele dieser tief hängenden Früchte er ernten möchte. Ihre fruchtige Süße kann niemand bestreiten. Jedermann kann sie selbst kosten und ihre Wirkung schmecken; kann entscheiden, ob er dies Paradies täglich genießen möchte; kann es heute so und morgen anders mit seinem Alltag vereinbaren.

Siehe auch:

Fußnoten

  1. Olschewski, Felix (2017) Wie Anteilnahme die Ernährung verbessert. Urgeschmack.
  2. Olschewski, Felix (2017) Food Porn: Angucken macht dick. Urgeschmack.
  3. Siehe dazu Olschewski, Felix (2015) French Toast oder: Nährstoffismus. Urgeschmack.
  4. Ferridy, Danielle et al. (2015) Effects of eating rate on satiety: A role for episodic memory? Physiol Behav. 2015 Dec 1; 152(Pt B): 389 – 396. doi: 10.1016/j.physbeh.2015.06.038
  5. Olschewski, Felix (2015) Kochen macht schlank. Urgeschmack.
  6. R.W. Wrangham (1977). Feeding behavior of chimpanzees in Gombe National Park Tanzania. In T.H. Clutton-Brock (Ed.) Primate Ecology pp. 504 – 538. London: Academic Press.
  7. Sputnik (2015) Ausgaben für Lebensmittel: Europäische Länder im Vergleich. de.sputniknews.com. 13 Jan. 2015.
  8. Zusammenfassung auch in Spence, Charles (2017) Gastrophysics – The new science of eating.*

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