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French Toast oder: Nährstoffismus

French Toast, oder: NährstoffismusVor mir steht ein French Toast. Im deutschen Sprachraum ist er als Armer Ritter bekannt, während die Franzosen selbst es pain perdu („verlorenes Brot“) nennen. Der Truth Coffee Shop in Kapstadt, Südafrika, serviert dieses Gericht nicht einfach auf Basis einer Scheibe Brot. Stattdessen tunkt der Koch ein halbiertes Croissant in eine Mischung aus Ei, Milch und Vanille und brät dieses. Als Garnitur dient ein großzügiger Klecks Mascarpone und etwas Ahornsirup, wahlweise dazu auch gebratener Speck.

Ernährungsberater können über diese Speise mehrere Tage diskutieren. Die enthaltenen Tierprodukte Eier und Milch, das Getreide und natürlich dessen Gluten, das gesättigte Fett, die Milch in der Mascarpone, das Nitrit im Speck, der dieses über 2000 Jahre alte Rezept kürt.

Einige fragen, ob die Milch aus Weidehaltung stammt und ob es Rohmilch ist. Kommen die Eier aus Freilandhaltung und der Speck von frei lebenden Schweinen? Stammt die Butter im Croissant von Weidekühen, war das Getreide frisch gemahlen? Andere weisen auf die enthaltenen Kohlenhydrate hin und deren Auswirkungen auf den Insulinspiegel.

Über all diese Zutaten und deren Bestandteile proklamieren sie Theorien ob deren Auswirkung auf die Gesundheit, kurz-, mittel- und langfristig. Keine zwei von ihnen sind sich auf ganzer Linie einig. Sie alle hinterfragen des anderen Theorien, können dutzende Studien zitieren, allesamt eindeutig, sicher und allgemeingültig.

Niemand fragt, wie es schmeckt.

Nährstoffismus

Für viele Ernährungsberater und -wissenschaftler sind Lebensmittel die Summe ihrer Teile. Mehr nicht. Das ist die naive Perspektive des wissenschaftlichen Reduktionismus. Nährstoffismus wäre die Übersetzung dessen, was Gyorgy Scrinis im Englischen Nutritionism nennt. Michael Pollan popularisierte den Begriff in seinen Werken mit dem Hinweis, Ismen seien in der Regel Ideologien. Der Nährstoffismus habe sich zu einer Art Religion entwickelt, deren Priester (Ernährungswissenschaftler) die stets aktuelle Orthodoxie verkünden. Naturgemäß teilt Nährstoffismus die Welt des Essens in gute und böse Lebensmittel ein.

All dies beruht auf der unbestätigten Annahme, der Schlüssel zum Verständnis von Lebensmitteln seien allein die enthaltenen Nährstoffe.

Wir wissen wenig

Die Forschung entdeckt regelmäßig neue Elemente und Verknüpfungen. Ernstzunehmende Wissenschaftler wissen genau, dass wir sehr viel nicht wissen. Erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit zum Beispiel erforschen wir die Bewohner unseres Darms, deren Leben und deren Auswirkungen auf unsere Gesundheit. Und entdecken erstaunliches.

Im menschlichen Darm wohnen mehr Bakterien als Menschen auf dem Planeten. Dieses Mikrobiom ist tiefgreifend in die Verdauung und Verwertung von Nährstoffen integriert. Die Zusammensetzung dieser Bakterien, nennen wir es Bakterienprofil, ist so einzigartig wie ein Fingerabdruck. Das allein scheint ein hinreichendes Argument zu sein, um jeglicher Proklamation von Allgemeingültigkeit Einhalt zu gebieten. Es erklärt den Ursprung der vielen widersprüchlichen Studienergebnisse und warum anekdotische Beweise für praktisch alles bestehen.

Der Arme Ritter

Der Arme Ritter enthält reichlich Kohlenhydrate und Fett und darüber hinaus Gluten und Tierprodukte. Demnach mache er dick und krank. Er ist böse.

Doch ist nicht auch bemerkenswert, wie dieses Rezept es schafft, vermeintlichen Abfall (altes Brot) in eine nahrhafte Speise zu verwandeln? Richtig zubereitet ist er für manchen ein Hochgenuss.

Er ist ein Stück Esskultur, er verkörpert Tradition und eine rund 2000-jährige Geschichte – schon die Römer verfügten über ein derartiges Rezept. Frisch serviert zaubert der Arme Ritter Kindern ein Lächeln aufs Gesicht, er ernährt und wärmt.

Das lässt sich von keinem Ernährungsberater wegdiskutieren. Er mag unter speziellen Umständen Recht haben mit seinen Warnungen und Hinweisen zu Gluten und Fett, Kohlenhydraten und Nitrit.

Viel häufiger falsch liegt er jedoch mit der Konsequenz. Spricht er ein Verzichtsgebot aus, handelt er anmaßend und kurzsichtig. Nicht das Lebensmittel allein ist relevant, sondern sein Kontext, zu dem auch die Verzehrfrequenz zählt.

Auf die Frage „Ist der Arme Ritter mit Speck gesund?“ gibt es keine korrekte Antwort, denn es mangelt an Kontext. Natürlich sind Herkunft und Qualität der Zutaten von signifikanter Relevanz. Mehr noch zählt jedoch das Individuum: Wie steht es um die Psyche des Genießers? Ist er körperlich sehr aktiv? Wie fit ist sein Darmtrakt? Und wie häufig isst er einen Armen Ritter? Wie sorgfältig hat der Koch die Mahlzeit zubereitet, wie viel Liebe steckt im Essen?

Der Hippokratische Irrtum

Die Prämisse „Lass Nahrung deine Medizin sein und Medizin deine Nahrung“ klingt vernünftig und überzeugend. Sie verdeutlicht den potentiellen Wert von Lebensmitteln und deren Einfluss auf unseren Gesundheitszustand. Zugleich suggeriert sie, Lebensmittel dienten allein dem Erhalt der körperlichen Gesundheit.

Doch es gibt Menschen, die aus anderen Gründen essen. Genuss zum Beispiel. Oder Geselligkeit. Ganze Bevölkerungen ruinieren auf diesem Wege scheinbar eindeutige Studienergebnisse der Nährstoffismus-Anhänger, indem sie sich beispielsweise trotz hohen Fett-, Wein- oder Kohlenhydratkonsums bester Gesundheit erfreuen. Die ganzheitliche Betrachtung zeigt den Einfluss übriger Lebensumstände wie Zufriedenheit und soziale Bindungen auf den körperlichen Gesundheitszustand. Sie stellt Kontext her und relativiert so eine ernährungsideologisch verzerrte Perspektive auf das Essen.

Die Nutznießer

Wer profitiert vom Nährstoffismus? Der Verbraucher konnte daraus bislang offenbar keinen Nutzen ziehen. Im Gegenteil: Die Zahl der als ernährungsbedingt entlarvten Epidemien der letzten drei Jahrzehnte steigt kontinuierlich. Parallel übrigens mit Anzahl und Komplexität der verarbeiteten Produkte in Supermärkten. Denn für deren Hersteller ist die aktuelle Interpretation der Nährstoffismus-Schriften irrelevant. Ganz gleich, was gerade im Trend liegt: Es gibt keinen Nährstoff, um den Margarine, Corn Flakes und Reiskekse sich nicht anreichern ließen.

Urgeschmack und Nährstoffismus

Für mich und Urgeschmack stand immer der Genuss im Vordergrund. Ich esse gerne gutes Essen, weil es mich sinnlich befriedigt. Essen stillt auch meinen Hunger und versorgt meinen Körper. Doch dass nimmt bei der Vorfreude immer einen untergeordneten Rang nach der sinnlichen Befriedigung ein.

In der Vergangenheit habe ich mich von außen viel mit Nährstoffismus befasst, habe Orthodoxien beleuchtet und in Frage gestellt. Gelegentlich konnte ich selbst nicht vermeiden, Nährstoffe isoliert zu betrachten. Auf diesem Wege konnte ich eine Reihe von Leserfragen beantworten. Vor allem jedoch ermöglicht mir dieser Hintergrund eine abgerundete Perspektive, die vieles in Relation setzt. Absolute Urteile erscheinen befremdlich, ich kann Getreide nicht pauschal als das pure Böse betrachten, weiß jedoch auch um die potentiellen Gefahren einer unausgewogenen Ernährung. Paracelsus’ Ausspruch „Die Dosis mach das Gift“ deutete dies schon vor rund 500 Jahren an.

Es steht außer Frage, dass in Einzelfällen eine wissenschaftlich bedingte, reduktionistische Betrachtung Individuen Linderung oder Heilung verschaffen, gar das Leben retten kann. Doch auch innerhalb dieser Szenarien bleibt Essen stets mehr: Es steckt in einem Netzwerk traditioneller, sozialer, kultureller und ökologischer Verknüpfungen.

Offensichtlich ist jedoch auch, dass wir wissenschaftlich mindestens noch mehrere Jahrzehnte von den allumfassenden Erkenntnissen entfernt sind, welche die Voraussetzung für wirklich absolute Aussagen bilden. Erst dann kann Nährstoffismus sich auflösen, damit Fakten seinen Platz einnehmen können. Wahrscheinlich werden wir jedoch diese absolute Sicherheit, ein vollständiges Verständnis der Natur, nie erreichen.

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