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Wie Anteilnahme die Ernährung verbessert

Feinste Zutaten und liebevolle Zubereitung: Das genügt nicht für ein wahrlich köstliches Mahl. Andere, weniger greifbare Bestandteile einer Mahlzeit beeinflussen unseren Geschmackssinn. Unser Empfinden von Geschmack und Genuss, Sättigung und Zufriedenheit – Eigenschaften, die direkt unser Essverhalten und damit unsere Gesundheit betreffen – können wir steuern durch Erwartung, Erlebnis und Erinnerung.

Der Geschmack einer Tomate fußt auf ihrer chemischen Zusammensetzung, auf den enthaltenen Pflanzen- und Mineralstoffen, den Zuckern und Säuren, ihrem Wasseranteil, der Zellwandstärke und anderen physikalischen Eigenschaften. Stecken wir sie in den Mund und beißen zu, erfassen wir diese Merkmale über die Zunge und ihren Tastsinn, den Rachenraum, die Nase und natürlich die Geschmacksknospen. Unsere Wahrnehmung deutet diese Reize und wirkt dabei wie ein Filter: Der tolle Wein, den man in der provenzalischen Abendsonne im Urlaub so genossen hat, schmeckt daheim flach und beißend. Denn die Wahrnehmung steht unter dem Einfluss unserer Psyche: Ein verliebter Junge verzeiht seinem Schwarm jede Macke; die Frohnatur tanzt im Regen; das Lieblingsessen schmeckt nach einem Streit am Tisch nicht.

So wirken auf den Geschmack des Essens neben den nüchternen, physikalischen Eigenschaften weitere Dimensionen: Erwartung, Erlebnis und Erinnerung.

Erwartung färbt den tatsächlichen Geschmack zum Beispiel dann, wenn uns salzige Eiscreme überrascht: Serviert uns jemand wortlos eine Kugel cremefarbenes Eis, finden wir den Geschmack schrecklich, wenn es sich als salziges Parmesaneis herausstellt. Denn bei dieser Farbe erwarten wir Vanilleeis – süßen Geschmack. Wenn uns die Bedienung die Kugel allerdings als Parmesaneis vorstellt, ändert sie damit unsere Erwartung: Wir sind vorbereitet, schmecken anders und könnten das Eis mögen. Entsetzen ist zumindest unwahrscheinlich.

Erlebnis besteht beim Essen aus mehr als dem Geschmack. Praktisch die gesamte Umwelt beeinflusst Wahrnehmung und Genuss. Art, Form und Farbe des Geschirrs, Hintergrundgeräusche, die Mitmenschen am Tisch, die Farbe der Wand: Sie alle wirken auf unseren Geschmack und bilden als Gesamterlebnis den Zusammenhang der Mahlzeit.1 Ist der Teller sauber, weiß und rund, das Besteck massiv, die Wandfarbe rosarot und die Hintergrundmusik erfüllt von Klingeln, schmeckt die Tomate süßer.

Erinnerung verändert unsere innere Welt. Einige Erlebnisse erinnern wir so, wie sie niemals stattgefunden haben. Wir schwelgen in Erinnerungen an Großmutters Vanillepudding, obwohl er überzuckert, klumpig und angebrannt war. Warum? Weil damals alles in Ordnung war: Wir, Kinder ohne Verpflichtungen, saßen vereint am Tisch, die Liebe der Familie beleuchtete den Raum, wir fühlten uns geborgen in zwischenmenschlicher Wärme. Vanillepudding muss dann eben genau so schmecken: Grässlich, klumpig, zuckerig, angebrannt. Nur dann ist es Omas leckerer Pudding.

Erwartung, Erlebnis, Erinnerung: So verwandeln Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unseren Geschmack. Das können wir zu unserem Vorteil nutzen, wenn wir Esskultur pflegen. Dafür braucht es Anteilnahme, eine Form von Andacht im nicht-religiösen Sinne: Innere Gesammeltheit.

Die Griechen auf der Insel Kalymnos veranstalten große Festmahle als Rituale. Auf diesem Weg planen sie angenehme Erinnerungen für die Zukunft: Ein gemeinsam geteiltes, erlebtes Mahl zu einem ausgesuchten Anlass verankert alle Teilnehmenden zusammen an einem bestimmten Ort und Zeitpunkt. Wie der Vanillepudding mit der glücklichen Familie bei Oma. »Iss, damit du dich erinnerst!«, rufen die Kalymner ihren Gästen zu.2 Wer nicht mitisst, wird nicht Teil der Erinnerung.

Genießen wir eine Mahlzeit derart achtsam, schmeckt sie besser; wir gewinnen daraus mehr Zufriedenheit, werden besser satt: Die Speise nährt uns besser.

Solch ein Essen verbinden wir mit fröhlicher Erwartung, mit Achtsamkeit gerät es zum feierlichen Erlebnis und bleibt eine ewig schöne Erinnerung. Diese Anteilnahme können wir im Kleinen täglich vollbringen. Erwartung, Erlebnis und Erinnerung sind Dimensionen des Hedonismus, des Lustempfindens. Ihr Einfluss geht über den Geschmack des Essens hinaus und erstreckt sich auf jegliche Wahrnehmung; doch wenige Dinge des Alltags wirken so intensiv auf alle Sinne zugleich wie das Essen.

Gepflegte Esskultur räumt den täglichen Mahlzeiten einen festen Raum ein und respektiert ihren Stellenwert. Die schönste Speise aus dem Henkelmann ist vergebens, wenn man sie zwischen Kaffee, Schokoriegel und Meeting verschlingt.

Auch das einfachste Essen kann man erwarten, erleben und erinnern; es abwarten, würdevoll verspeisen und noch Stunden später Befriedigung verspüren. Gönnen wir uns diese Nahrung für Körper, Geist und Seele, ist das nichts weniger als Selbstachtung.

Wie können wir Erwartung, Erlebnis und Erinnerung des Essens im Alltag durch Anteilnahme verbessern?

  • Sein Essen selbst kochen – das ist ein Vorgang der Erwartung. Nimmt man sein bereits gekochtes Essen von zu Hause mit, dann muss die Erwartung nicht entfallen. Man sucht sich einen geeigneten und ruhigen Platz, räumt den Tisch frei, bringt Ruhe in den Kopf: Auch damit bereitet man das Essen vor und pflegt die Erwartung.
  • Beim Essen gibt man Acht und tut nur genau das: Essen. Nicht quasseln, fernsehen oder autofahren. Nur achtsam essen. So pflegt man das Erlebnis und erhöht Sättigung und Zufriedenheit.3
  • Nach dem Essen springt man nicht sofort auf, sondern verweilt ein wenig und ruht, schwelgt in den Aromen, die man schmeckte und gedenkt des schönen Erlebnisses im Alltag. Die Mahzeit gedanklich noch einmal essen, damit verankert man sie im Gedächtnis. Vielleicht nicht für immer. Doch wenigstens für den Rest des Tages. Solche Vorstellungen verringern spätere Hungergefühle.4

Das sind nur einige Beispiele. Gepflegte Esskultur dient gesunder Ernährung, muss nicht viel Zeit kosten und kann Platz finden in jedem Alltag.* Wenn man dafür bereit ist.

Fußnoten

  1. Siehe auch Olschewski, Felix (2016) Schön essen: Wie Dekoration den Geschmack verändert. Urgeschmack
  2. Sutton, David (2001) Remembrance of Repasts: An Anthropology of Food and Memory.
  3. Braude L and Stevenson Rj. (2014) Watching television while eating increases energy intake. Examining the mechanisms in female participants. Appetite. 2014 May;76:9-16; Blass et al. (2006) On the road to obesity: Television viewing increases intake of high-density foods. Physiol Behav. 2006 Jul 30;88(4-5):597-604; Ferridy, Danielle et al. (2015) Effects of eating rate on satiety: A role for episodic memory? Physiol Behav. 2015 Dec 1; 152(Pt B): 389–396.
  4. Morewedge Ck, et al.. (2010) Thought for food: imagined consumption reduces actual consumption. Science. 2010 Dec 10;330(6010):1530-3.

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