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Der Wert des Essens

Was wir essen, wird ein Teil von uns. Essen wir eine Möhre, reist diese nicht einfach durch unseren Leib und landet hinterher in der Toilette. Sondern unser Organismus absorbiert die Nährstoffe und hinterlässt lediglich unverdauliche Fasern. Moleküle der Möhre werden zu Teilen unseres Körpers und begleiten uns mehrere Jahre.1 Die Nahrung auf unseren Tellern formt – nein: ist unser Leben morgen, nächste Woche, nächstes Jahr. Was bedeutet das für unsere Entscheidungen bei Einkauf und Essen, für den Wert des Essens, für gute Ernährung?

Kosten für Lebensmittel sind keine Ausgaben, sondern Investitionen. Investitionen in uns selbst: Unsere Zukunft, Gesundheit und Leistungsfähigkeit, unseren Genuss und die Lebensfreude. Etwa so, wie ein gutes Buch unser Leben verändern kann; oder eine gute Ausbildung, ganz gleich, ob formal oder autodidak­tisch. Wissen kann uns niemand nehmen und gute Ernährung ist eine ähnlich sichere Investition: Wir assimilieren die Lebensmittel und niemand kann sie uns entreißen oder gar wieder zusammensetzen. Nicht einmal mit Sekundenkleber.

Auch hier gibt es gute und schlechte Investitionen. Gute sind solche, die unsere Ziele – Gesundheit, Leistungsfähigkeit, Genuss – nachhaltig fördern; eine schlechte Investi­tion dient unseren Zielen nicht oder torpediert sie.

Kann vor diesem Hintergrund der Preis für gute Lebensmittel – Wucher und Betrug ausgenommen – zu hoch sein? Luxusspeisen wie Lachs, Kaviar und Trüffelöl selbst­redend ausgenommen. Lebensmittel kosten in Deutschland relativ wenig;2 selbst das Hartz-IV-Budget ermöglicht Bio-Lebensmittel, wenn gewünscht.3

Nicht die Lohntüte beschränkt den Zugang zu guter Ernährung. Auch wohlhabende Menschen essen oft schlecht, trotz aller Bemühungen. Schwierigkeiten bereitet vielmehr die Frage, was gute Ernährung eigentlich ist.

»Niemand wird behüten, was ihn nicht kümmert. Und niemanden kümmert, was er nie erlebt hat.« – David Attenboroughs Sinnspruch für die Naturkunde gilt auch für Ernährung. Wer nie gelernt hat, wie gutes und somit gesundes Essen sich anfühlen kann, wird es später nicht suchen und erlebt nie gute Ernährung. Wir verfügen heute über mehr Zeit und Wohlstand als je zuvor. Was wirklich fehlt, ist Bewusstsein.

Der Weg zu guter Ernährung ist kurz. Er führt nicht um die Klippen der Bio-Siegel und Diätpläne, auch nicht durch die Wüste des Verzichts. Gute Ernährung braucht keinen Meisterkoch und keine dicke Geldbörse. Ihr wichtigstes Merkmal ist Wertschät­zung. Wertschätzung jeder Mahlzeit, gleich welcher Herkunft. Der einfachste Kartof­felbrei, zubereitet mit Liebe und gegessen mit Respekt, kann Esskultur mit Gesundheit für Körper und Seele verbinden. Gnocchi, Püree, Spalten – welch Wonne lässt sich gewinnen aus einem gemeinen, unscheinbaren, günstigen Sack Kartoffeln.

Gutes Essen kostet nicht mehr Zeit oder Geld als schlechtes. Es erfordert allein, den Blick weg zu richten vom Smartphone, weg von den Kochsendungen im Fernsehen und hin auf unseren Teller, den Tisch, unsere Mitspeisenden. Was esse ich da? Wonach schmeckt es? Wer hat es zubereitet, wer angebaut? Mit welchen Menschen teile ich dieses Mahl und wie geht es ihnen? Diese Fragen scheinen optional, jedoch sind sie unerlässlich.

Was wir essen, wird unsere Zukunft. Unklug ist, wer investiert, ohne zu prüfen. Wer ein Haus kauft, inspiziert das Fundament, die Isolation, Leitungen, Lage und Umge­bung; vielleicht auch die Nachbarn. Ein gewissenhafter Anlageberater wird uns die Zusammensetzung eines Investmentfonds auch dann erklären, wenn wir nicht danach fragen. Das gehört zur Sorgfalt.

Beim Essen muss jeder diese Fragen selbst beantworten lernen. Schließlich essen wir nach Gusto und wollen bei dieser intimsten aller Tätigkeiten unsere Freiheit genießen. Wir stecken Lebensmittel in uns hinein und schlucken sie herunter, vertrauen ihnen unsere Zukunft an, machen sie zu unserem Wesen. Das geht einen Schritt weiter als Sex – und da sind wir meist recht wählerisch. Auch dort entscheidet Wertschätzung über Bedeutung und Zukunft.

Gute Ernährung ist keine Frage von Zeit und Geld. Gute Ernährung ist Selbstachtung. Wer das erkennt, wird seine Lebensmittel achten; genau diese Achtsamkeit ist die Wurzel der Neugier, aus der ein Baum des Wissens wächst. Dessen Frucht ist die Wertschätzung. Sie schließt den Kreis, der bei uns selbst anfängt.

Fußnoten

  1. Olschewski, Felix (2016) Wir werden, was wir essen. Urgeschmack.
  2. Selbst die ärmsten Haushalte geben nur 14 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel aus, dieser Tiefstwert hält sich seit dem Jahr 2000. Die meisten unserer europäischen Nachbarn bezahlen erheblich mehr (Quellen: Schröder, Malte: Nahrungsmittelausgaben und Einkommen: Eine empirische Studie für Deutschland. Agric-econ.uni-kiel.de. 16 Jan. 2015, Statista: Anteil der Ausgaben für Lebensmittel in Deutschland an den Konsumausgaben bis 2015 Statista. 2016, Sputnik: Ausgaben für Lebensmittel: Europäische Länder im Vergleich. De.sputniknews.com. 13 Jan. 2015.)
  3. Das Bio-Siegel ist keineswegs Voraussetzung für gesunde Ernährung. Zu den Preisen siehe auch Olschewski, Felix (2012) Was kostet gesunde Ernährung? Urgeschmack.

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