Die Kalorienbilanz stellt einen einfachen Zusammenhang zwischen Nahrungsaufnahme, Verbrauch und Körpergewicht her. Sie basiert auf den physikalischen Gesetzen der Thermodynamik und suggeriert, dass Gewichtsab- und -zunahme ganz einfach zu kontrollieren seien. Ärzte, Ernährungsberater und Abnehmwillige verlassen sich auf dieses auch Energiebilanz genannte Konzept – und erliegen einem Irrtum. Denn die Kalorienbilanz ist zur Steuerung des Körpergewichts praktisch nutzlos.
Was ist die Kalorienbilanz?
Die Kalorienbilanz wird auf unterschiedlichste Weise beschrieben und lautet etwa
Kalorienbedarf – Kalorienzufuhr = Änderung Körpergewicht
Oder: Wer abnehmen möchte, muss mehr Kalorien verbrauchen, als er sich zuführt.
Als Beispiel: Wer 3000kcal benötigt, jedoch nur 2500kcal isst, verliert 500kcal, welche als Fett etwa 56g wiegen.
Das klingt plausibel und einfach und es wird immerhin durch etablierte physikalische Gesetze gestützt. Doch auch der Umstand, dass das Kalorienzählen als Abnehmstrategie für einige Menschen funktioniert, ändert nichts daran, dass die Kalorienbilanz unrealistisch ist, von falschen Annahmen ausgeht und letztlich als sicheres Mittel zur Steuerung des Körpergewichts nutzlos ist.
Was stimmt nicht an der Kalorienbilanz?
Der Mensch ist keine Maschine. Oder sagen wir: Der Mensch ist keine einfache Maschine. Er steckt voller teils noch nicht erkannter und erforschter Variablen. Die einfache Formel der Kalorienbilanz lässt dies außer Acht.
Wir wissen nicht alles über den menschlichen Organismus. Aber wir wissen folgendes:
Der Energiebedarf oder -verbrauch ist variabel. Er ist abhängig von der Aktivität des Individuums und vom Stoffwechsel. Und er ist abhängig von der verfügbaren Energie. Wer nichts isst, hat keine Energie und bewegt sich nicht – und verbraucht in der Folge weniger.
Die Energiezufuhr ist variabel. Man kann viel essen und wenig. Die Zufuhr können wir recht gut steuern, dennoch ist der Mensch seinem Hungergefühl unterworfen. Und der Hunger ist nicht allein abhängig vom Energieverbrauch, sondern vornehmlich von Hormonen, die keinesfalls allein dem Verbrauch unterliegen. Die Energiegewinnung ist darüber hinaus variabel und abhängig von der Bakterienbesiedlung unseres Darms. Hinweise verdichten sich, dass spezifische Bakterien die zugeführte Nahrung unterschiedlich effizient verwerten und in für uns verfügbare Energie umsetzen.
Die Energiespeicherung ist variabel. Ihre Position am anderen Ende der Formel suggeriert, sie sei einzig eine einfache Folge, eine Differenz oder Summe der vorangegangenen Werte. Doch die Energiespeicherung ist von mehr abhängig: Sie richtet sich nach dem Niveau des Stoffwechsels, nach der Art der zugeführten Kalorien, nach Hormonspiegeln und mehr. Und sie hat direkten Einfluss auf Energiebedarf und -zufuhr.
Es handelt sich also um drei miteinander verbundene Variablen mit weiteren Verknüpfungen. Da nicht alle Faktoren bekannt sind, ist die Gleichung schlichtweg nicht lösbar.
Das ist der Grund, warum die Kalorienbilanz für die Gewichtskontrolle nutzlos ist.
Warum ist die Kalorienbilanz nutzlos?
Es folgen einige Probleme der Energiebilanz für Menschen:
Der genaue Energiebedarf ist unbekannt. Es gibt diverse Faustformeln zur Berechnung des Energiebedarfs. In der Regel gehen diese von einem Grundumsatz aus. Etwa das, was der Mensch für den Leerlauf und normale Tätigkeiten wie Atmung, Herzschlag etc. benötigt. Hinzu rechnet man den Aktivitätsbedarf. Etwa Bürotätigkeit oder gelegentlicher Sport. Diese Formeln gehen davon aus, dass alle Menschen einen gleichermaßen effizienten Stoffwechsel haben und jeden Tag genau gleich leben. Wir alle wissen, dass das nicht der Fall ist. Einigen Proponenten der Energiebilanztheorie ist das klar und sie weisen deutlich auf den Charakter der Faustregel hin: Die Kalorienbilanz sei nicht täglich zu verstehen, sondern funktioniere über längere Zeit. Wir werden im Folgenden sehen, warum selbst das nicht stimmen kann.
Die genaue Energiezufuhr ist unbekannt. Wir können noch so lange mitteln: Keine zwei Karotten haben den gleichen Energiegehalt. Natürliche Lebensmittel unterliegen Schwankungen, daher kann auch eine gewissenhaft zusammengestellte Tabelle keine genau Auskunft über den Kaloriengehalt individueller Lebensmittel geben. Haken wir also auch dies unter Mittelwert ab und gestehen eine langfristige Wirkung zu.
Der Aktivitätsgrad ist abhängig von Art und Menge der zugeführten Kalorien. Wer viel isst, bekommt mehr Energie und kann sich mehr bewegen. Dafür sorgt der Körper in der Regel von selbst. Wer bei einem Kindergeburtstag einen Korb Süßigkeiten aufstellt kann sich davon überzeugen: Der Körper bemerkt die verfügbare Energie und regt zur Bewegung an, die Kinder werden in der Regel unruhiger, lauter und rennen mehr umher – wenn man sie lässt.
Muskeln arbeiten unterschiedlich effizient. Die Umwandlung von Energie in Muskelarbeit unterscheidet sich bei gleichem Trainingsstand 20 bis 30 Prozent. Peter muss also zum Abarbeiten des Schweinebratens länger rudern als Ralf. Ja, so ungerecht kann das Leben sein.
Der Stoffwechsel arbeitet abhängig von der zur Verfügung stehenden Energie. Herrscht Energiemangel (=Hunger), fährt der Stoffwechsel seine Arbeit herunter und verbraucht entsprechend weniger Energie. Dem Hungernden wird kalt, er wird schlapp, leicht reizbar, womöglich depressiv. Jemand, der hingegen mehr isst als sein Körper gerade benötigt, fühlt sich eher voller Energie, fit, bekommt unter Umständen Hitzeschübe (Thermogenese) und ist ausgelassener. Hat er am Tag insgesamt viel gegessen, ist ihm möglicherweise auch nachts sehr warm, er lässt automatisch ein Bein unter der Decke hervorschauen. Auf diese Weise „verschwendet“ sein Körper die überschüssige Energie.
Die Art der zugeführten Kalorien –Protein, Fett oder Kohlenhydrate– beeinflusst direkt Stoffwechsel, Hunger und Speicherung. Kohlenhydrate stimulieren über den Insulinausstoß eher eine Speicherwirkung, wohingegen Eiweißzufuhr eher eine Energiefreisetzung durch Glucagon verursachen. All diese Nährstoffe haben unterschiedlichen Einfluss auf Sättigungshormone wie Leptin und Ghrelin und somit auch auf die Energiezufuhr. Die Folge: Isst jemand 2000kcal in Form von Zucker, wird tendenziell mehr Energie gespeichert und es steht weniger Energie für Aktivität zur Vefügung als hätte der Proband 2000kcal in Form von Fett oder Eiweiß gegessen. Zugleich hat er danach im ersteren Fall potenziell mehr Hunger.
Der Körper kämpft um sein Gleichgewicht
Die Regulation des Energiehaushalts ist ein durch Homöostase gesteuerter Gleichgewichtszustand. Der Körper strebt von selbst einen Ausgleich an. Er versucht, sein Gewicht zu halten. Genau dafür kann er Hormone wie Leptin, Ghrelin und Glucagon einsetzen, er kann Energie durch Thermogenese verbrauchen oder die Stoffwechselaktivität einschränken, um zu sparen. All das tut er ohne unser bewusstes Zutun. Wir können das nicht einfach kontrollieren. Jedoch können wir ihn stören – absichtlich oder unbeabsichtigt.
Wir können das praktizieren, was wir ungesunde Ernährung nennen. Zum Beispiel große Mengen Zucker essen und so den Insulinhaushalt durcheinander bringen. Oder wir können ständig hungern und so den Abbau von Muskelmasse und Knochensubstanz vorantreiben.
Wer hungert, verliert Muskeln
Fett ist die eiserne Reserve des Körpers. Er hält daran fest bis es nicht mehr anders geht. Das ist eine weitere, fatale Folge des naiven Glaubens an die Kalorienbilanz: Wer mit einer negativen Kalorienbilanz lebt, baut nicht einfach Körperfett ab. Er baut Körpersubstanz ab. Dazu gehören fast immer auch Muskeln. Und wer keine überschüssige Energie hat, bewegt sich weniger und stimuliert so kaum seine Muskeln. Ein weiteres Signal, dass diese weniger benötigt werden und zum Verbrauch zur Verfügung stehen.
Fazit: Die Kalorienbilanz ist nutzlos
Die Gesetze der Thermodynamik stimmen auch nach aktuellem Stand der Wissenschaft. Und auch die Kalorienbilanztheorie stimmt. Wer mehr Energie zu sich nimmt, als er verbraucht, wird zunehmen. Doch die Faktoren – Bedarf/Verbrauch, Zufuhr und Speicherung – liegen größtenteils nicht in unserer Hand und deswegen ist die Kalorienbilanz zur Steuerung des Körpergewichts nutzlos.
Zweifelsohne ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass jemand, der seinen errechneten Energiebedarf langfristig nicht deckt, Gewicht verliert. Er wird Fett, Muskeln und Knochensubstanz verlieren, er wird weniger Energie haben, ihm wird kalt, er wird sehr wahrscheinlich auch psychologisch beeinträchtigt. Dafür sorgt der Körper durch Homöostase.
Und wer langfristig weit mehr Kalorien isst, als er verbraucht und seinem Bewegungsdrang nicht nachgibt, wird wahrscheinlich neben Muskelmasse auch Fettgewebe aufbauen. Er wird es in der Regel wärmer haben und er sollte recht glücklich sein. Auch das ist der Homöostase zu verdanken.
Wann genau diese Zustände in welchem Maß einsetzen, können wir jedoch nicht vorhersehen. Es ist unter anderem abhängig von der individuellen Stoffwechseleffizienz und von der Art der zugeführten Kalorien.
Wer die Homöostase seines Körpers unterstützen bzw. in ihrer Arbeit möglichst wenig beeinträchtigen möchte, sollte sich gesund ernähren.
Quellen und weiterführende Informationen:
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