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Ist Getreide wirklich ungesund?

Ist Getreide wirklich ungesund?Getreide enthält Anti-Nährstoffe, macht fett und fördert Zivilisationskrankheiten. So lauten die Vorwürfe besonders aus den Reihen der Paleo-Anhänger, den Wortführern der Steinzeiternährung. Getreide sei somit eines der wesentlichen Übel unserer heutigen Ernährung und vom Verzehr stets abzuraten. Doch stimmt das? Ist Getreide wirklich ungesund?

Die Vorwürfe sind nicht haltbar

Ein Review einer ganzen Reihe von Studien zu diesen Vorwürfen kommt zu dem Schluss: Es gibt offenbar einzelne Schadpotenziale, jedoch keinen allgemeinen Nachweis.1 Es gibt viele Theorien zur Schäd­lichkeit einzelner Getreidebestandteile. Gemeint sind meist die sogenannten Anti-Nährstoffe.

Einige dieser Theorien sind in Laborversuchen direkt bestätigt worden, doch es gibt keine allgemeine Gültigkeit. Mit anderen Worten: Getreide und dessen Bestandteile können schädlich sein, doch sie sind es bei weitem nicht immer.

Ist Getreide wirklich ungesund?

Eine Durchsicht der Theorien und Versuche zeigt einen verbreiteten Mangel dieser Vorwürfe: Die (von der Wissenschaft durchaus geförderte) reduktionistische Betrach­tung. Wenn ein Versuch im Reagenzglas zeigt, dass ein isolierter Getreidebestandteil eine schadhafte Wirkung auf isoliertes Gewebe hat, beweist das keine Schädlichkeit des Getreides für den Menschen im Kontext seiner Ernährung. Schon bei der Milch (beziehungsweise Rohmilch) zeigt sich, dass in der Milch selbst Stoffe stecken können, die miteinander interagieren und so je nach Verarbeitungs­zustand unterschiedliche Wirkungen auf den Menschen haben.2

Und das bezieht noch nicht den übrigen Kontext ein. Welche Mengen Getreide seien ungesund? Bei welcher Häufigkeit? Welche anderen Lebensmittel stehen auf dem Speiseplan? Eine Betrachtung des Kontexts zeigt, dass Getreide nicht ungesünder, nicht toxischer ist als Brokkoli, Birne und Blattsalat: Von Bedeutung sind allein Menge und Zusammenhang. Es verhält sich wie beim Zucker: Die Dosis macht das Gift.

Getreide ist nicht gleich Getreide

Abgesehen vom mangelnden Kontext des Vorwurfs, sind nicht alle Getreidesorten gleich. Mais und Reis beispielsweise sind glutenfrei. Das erkennen auch die ärgsten Getreidegegner an. Doch da hören die Unterschiede nicht auf. Moderner Weizen ist so intensiv gekreuzt und gezüchtet worden, dass er dem Getreide vor 50 Jahren nur noch entfernt ähnelt. Hartweizen und Weichweizen sind verschieden, hinzu kommen Roggen, Dinkel und Hirse. Dazu die urtümlichen Getreidesorten Einkorn und Emmer, die nicht mit 42, sondern 14 bzw. 28 Chromosomen auskommen und entsprechend weniger komplex sind. Wie soll man diese Vielfalt pauschal beurteilen?

Verarbeitung: Der Kern des Problems

Bei alledem wird die Verarbeitung vergessen. Viele Wortführer der Steinzeiternährung meinen, Getreide gehöre zu den zu stark verarbeiteten Lebensmitteln, sei allein daher nicht mehr natürlich und sollte nicht gegessen werden.

Ich meine, das Gegenteil ist der Fall: Getreide sind (oft) nicht genug verarbeitet. Was wir im Supermarkt finden sind schnell verarbeitete, weiße Brote mit aggressiv arbeitenden Triebmitteln. Vom vollen Korn zum fertigen Brot in zwei Stunden: Das steht im krassen Gegensatz zu dem, was noch vor 50 Jahren weit verbreitet war: Eine lange, langsame und sorgfältige Verarbeitung. Das Einweichen von Getreide, lange Fermentation und behutsames Backen des Teiges.

Diese Fermentation bannt viele der potenziellen Gefahren des Getreides. Phytinsäure wird wirksam abgebaut, Lektine deaktiviert.3 Enzyme, Bakterien und Hefen im Getreide kümmern sich dabei nicht nur um Stoffe, die dem Menschen möglicherweise schaden könnten. Sondern sie stellen zuvor unzugängliche Nährstoffe zur Verfügung und verändern den Geschmack. Das leisten traditionelle Methoden dr Verarbeitung.

Getreide enthält kein Gluten

Gluten ist ein Proteingemisch, im Falle des Weizens aus Gliadin und Glutenin, welches erst bei der Vermischung mit Wasser entsteht. Im Falle einer entsprechenden Allergie oder Unverträglichkeit (zum Beispiel Zöliakie) spielt das keine Rolle, wohl aber zur differenzierten Betrachtung.

Denn eine sorgfältige und gezielte Fermentation kann offenbar sogar Gluten bzw. dessen Bestandteile weitgehend abbauen.4 Ein mit Sorgfalt hergestelltes Sauerteigbrot könnte demnach praktisch frei von Anti-Nährstoffen und somit jeglichem Schadpotenzial sein.

Einer der vielen Gründe für die Unklarheiten hinsichtlich der Schädlichkeit sind auch Sortenunterschiede, also die in Studien oft mangelhafte Differenzierung zwischen verschiedenen Sorten der gleichen Getreideart.5 Die Mehrdeutigkeit der Ergebnisse hinsichtlich Glutenunverträglichkeit demonstriert ein Forscher, dessen Aussagekraft dazu binnen eines Monats stark wankt.6

Vollkorn ist nicht gesünder

Die Studienlage zur Frage, ob Vollkorn nun gesünder sei als gesiebtes Mehl ohne Schale (Kleie) und Keimling ist nicht eindeutig. Die verbreitete Theorie geht davon aus, Ballaststoffe seien für den Menschen grund­sätzlich gesünder. Wirklich nachweisen konnte das bislang niemand*. In der Tat enthalten Kleie und Keimling Nährstoffe, die im gesiebten Mehl nicht enthalten sind. Doch sie enthalten auch den Großteil der Anti-Nährstoffe. Sie wegzulassen, kann daher sinnvoll sein.

* Den Nachweis für jedwede Argumentation diesbezüglich kann immer derjenige vorbringen, der sich Zeit nimmt, die entsprechenden Studien, die seine Sicht unterstützen, herauszupicken. Ich kann mir einen sinnvolleren Zeitvertreib vorstellen.

Auch hier ist wieder der Kontext von Bedeutung: Wenn ich nichts anderes esse als Getreide, ist die Frage nach den Ballaststoffen sicherlich kritisch. Ernähre ich mich hingegen ausgewogen und setze reichlich Obst und Gemüse auf den Speiseplan, stellt sich weder die Frage nach den Ballaststoffen, noch die nach Vitaminen und Mineralstoffen.

Ist Getreide Nährstoffarm?

Auf den Papieren der Nährstofftabellen macht sich Getreide im Vergleich zu Gemüse nicht so gut. Ein häufiger und heute nachvollziehbarer Vorwurf der Getreidegegner ist, es sei arm an Nährstoffen. Auch das ist jedoch kein grundsätzliches Problem des Getreides, sondern lässt sich zurückführen auf unseren Umgang damit, konkret die Züchtung und den Anbau. Eine Studie aus dem Jahr 2008 zeigt, dass der Mineralstoffgehalt der heute verbreiteten Getreidesorten seit der Grünen Revolution der 1960er Jahre bis heute drastisch um bis zu 50% gesunken ist.7 Legt man den Nährstoffgehalt alter Sorten zugrunde und vergleicht diesen mit Gemüse, zeigt sich das Getreide durchaus ebenbürtig. Im Übrigen leiden moderne Gemüsesorten unter dem gleichen Nährstoffschwund.8

Aber so viele Menschen merken, dass Getreide schlecht für sie ist. Wie kann das sein?

Diese Frage beantwortet man am besten anhand der Geschichte einer Mahlzeit (frei nach Richard Bertinet). Stellen wir uns zwei Scheiben Sandwichbrot vor: Ohne Rinde, aus dem Supermarkt; mit einer Zutatenliste länger, als man sie auf dem Heimweg vollständig lesen könnte. Ein Brot, das innerhalb von höchstens zwei Stunden aus gebleichtem Mehl hergestellt und gebacken wurde.

Unser Hauptdarsteller wird nacheinander mit Halbfett-Margarine und fettarmer Mayonnaise beschmiert, danach legt der unbedarfte Verbraucher noch ein paar Krabben darauf, die zuvor vermutlich tiefgefroren waren. Dieses Sandwich, auch Stulle genannt, wird packt er nun sorgfältig in Frischhaltefolie und legt es über Nacht in den Kühlschrank. Am nächsten Tag reist die Stulle ungekühlt zum Arbeitsplatz und liegt dort auf dem Tisch bis zur Mittagspause, wo sie in der Wärme langsam vor sich hin arbeitet.

Nun endlich macht sich der Konsument über sie her, verschlingt sie und spült sie zusammen mit einer Cola oder einer Tasse drei Stunden alten Kaffees herunter. Eine halbe Stunde später fühlt er sich müde, schlapp, aufgequollen und leicht übel.

»Oh Mann«, sagt er sich, »diese Paleo-Jungs haben wirklich Recht: Getreide ist nicht gut für mich!«

Es it unbestreitbar: Getreide bekommt einigen Menschen nicht. Allen voran jene, die an Zöliakie erkrankt sind.

Viele Unverträglichkeiten lassen sich jedoch auf unsachgemäßen Gebrauch des Getreides zurückführen. Und darauf, dass nur wenige Menschen wirklich wissenschaftlich vorgehen: Im gleichen Atemzug mit dem Verzicht auf billiges Brot lassen sie auch Halbfett-Margarine, Mayonnaise und minderwertigen Krabben hinter sich und unterliegen dann dem Placebo-Effekt.

Die gesundheitlichen Sprünge, die viele Menschen nach einer Umstellung auf die Steinzeiternährung (oder Vegetarismus oder Rohkost …) machen, liegen vor allem am bewussteren Konsum, am Verzicht auf die vielen beinahe vollständig synthetisch hergestellten Produkte mit offensichtlichen Schadstoffen. Wer sich bewusster ernährt, greift in der Regel allgemein zu höherwertigen Produkten, nimmt sich mehr Zeit zum Essen, kaut sorgfältig. Und gibt Alkohol und Zigaretten auf und beginnt, Sport zu treiben.

Getreide: Ein perfektes Feindbild

Viele Getreideprodukte wie Gebäck und Torten sind verführerisch. Sie schmecken gut und können süchtig machen. Sie enthalten viel Zucker und können so der Gesundheit schaden. Solche Produkte sind allseits bekannt und beliebt. Diese Eigenschaften eignen sich perfekt für ein Feindbild. Je beliebter etwas ist und je mehr Menschen es gut kennen, desto besser lässt es sich angreifen. Im Zuge solcher Kampagnen kommt es leider häufig zu maßlosen Übertreibungen der durchaus nachweisbaren, negativen Eigenschaften. Aus dem möglichen Schadpotenzial moderner Getreidesorten wird schnell eine Legende vom vermeintlich universellen, konzentrierten Gift.

Wann ist Getreide ungesund?

Getreide roh und unverarbeitet essen: Das ist für Menschen nicht ratsam. Anders als Vögel haben wir keinen Kropf und Kaumagen, wir können die ganzen Körner nur schlecht verdauen.

Getreide ist ungesund, wenn es jahrelang in Tüten vor sich hin oxidiert. Besonders Vollkornmehle sind fetthaltig und Fette sind anfällig für Oxidation.

Getreide ist ungesund, wenn wir sein volles Schadpotenzial unserem Körper zuführen und Phytinsäure9, Lektine10 und Gluten11 ihr Werk anrichten und unseren Darm angreifen lassen. Das kann passieren, wenn wir es unfermentiert oder roh essen.

Getreide ist ungesund, wenn wir es unsachgemäß verarbeiten, mit nachteiligen Prozessen bearbeiten und mit ungesunden Zusatzstoffen anreichern.

Getreide ist ungesund, wenn wir zu viel davon essen. Das kann auch zu Übergewicht führen.

Getreide ist ungesund, wenn eine spezifische Erkrankung wie Zöliakie oder Glutenunverträglichkeit vorliegt.

Wann ist Getreide gesund?

Gesund kann Getreide insofern sein, als es Mikronährstoffe und viel Energie in Form von Kohlenhydraten liefert. Ähnlich wie Kartoffeln. Oder weißer Reis (auch ein Getreide). Es ist ein Lebensmittel. Es kann Leben retten.

Getreide ist dann nicht ungesund, wenn wir es mit Bedacht vorbereiten. Wenn es aus sorgfältigem Anbau stammt, und wir es möglichst frisch nach dem Mahlen verarbeiten. Wenn wir es sorgsam fermentieren und wenn wir ihm keine unnötigen Zusatzstoffe zufügen.

Getreide ist dann unproblematisch, wenn wir nicht anfällig sind für seine Antinährstoffe oder wenn wir sie unschädlich machen.12 Und dann, wenn wir beim Verzehr Maß walten lassen.

Das Mikrobiom: Die Antwort auf alle Fragen?

Der Darm des Menschen enthält Milliarden verschiedener Bakterien, welche maßgeblichen Einfluss auf die Verdauung und den individuellen Gesundheitszustand haben. Dieses Mikrobiom lebt in Symbiose mit dem Menschen und es ist noch weitgehend unerforscht. Die Forschung zeigt: Einige Darmbakterien können Gluten verwerten und abbauen.13 Das könnte eine Behandlungsmethode für Zöliakie eröffnen. Außerdem kann eine glutenfreie Enährung sich negativ auf das Darm-Ökosystem auswirken.14

Das sind recht frische Ergebnisse, welche weitere Forschung erfordern. Sie zeigen allerdings deutlich: Der Schlüssel zum Verständnis inkonsistenter Ergebnisse und abweichender Anekdoten zur Glutenverträglichkeit könnte im individuellen Bakterienprofil verschiedener Menschen liegen.

Fazit: Ist Getreide gesund oder ungesund?

Es läuft auf eine Antwort hinaus: Liebe. Belohnt wird, wer Getreide, wie jedem anderen Lebensmittel auch, die für die Nutzung als optimalen Nährstoff notwendige Zeit zukommen lässt. Zeit ist Liebe. Liebe zum eigenen Körper oder der Familie. Liebe zur Tradition und Kultur und Liebe zum Essen.

Damit man Getreide ohne Bedenken essen kann, braucht es mehr Zeit und Aufwand als eine Karotte. Und eine vollständige Nährstoffversorgung allein durch Getreide kann man kaum erreichen (durch Möhren, Nüsse oder Brokkoli allein allerdings auch nicht). Getreide enthält reichlich Kohlenhydrate, welche zu Blutzuckerproblemen und Übergewicht führen können.

Wem es nicht bekommt, wer abnehmen möchte oder wem die Produkte egal sind, der macht sich das Leben durch Verzicht auf Getreide leichter.

Wer Getreide meidet, geht damit vielen potenziellen Problemen aus dem Weg. Jedoch trifft auch das auf andere Lebensmittel zu, wie etwa Fleisch aus Massentierhaltung. Oder Kartoffeln. Oder Nüsse. Wichtig ist das Maß – unbedacht verzehrt kann jedes Lebensmittel krank machen. Getreideprodukte haben Platz in einer gesunden Ernährung, auch wenn der maßvolle Umgang mit den verführerischen Teigteilen manchmal schwerfällt.

Getreide ist zugleich vielseitig: Unzählige Brote, Gebäck, Kuchen, Pasta. Nicht das Getreide als solches ist das Problem – sondern unser Umgang damit.

An all diesen Produkte hängt mehr als das bloße Lebensmittel. Kultur, Tradition, die Liebe des Bäckers und die Freude des Verbrauchers sind wertvoll. Sie dienen der Gesundheit von Geist und Seele.

Mit offenen Augen einkaufen, sich beim Zubereiten etwas Zeit nehmen und mit allen Sinnen genießen: So umschifft man die meisten Probleme. Denn essen ist einfach.

Fußnoten

  1. de Punder, Pruimboom (2013) The Dietary Intake of Wheat and other Cereal Grains and Their Role in Inflammation. Nutrients. 2013 Mar; 5(3): 771 – 787.
  2. Siehe auch Olschewski, Felix (2014) Ist Milch gesund? Urgeschmack.
  3. Siehe auch Olschewski, Felix (2012) Ist fermentiertes Getreide gesund? Urgeschmack.
  4. Rizello et al. (2007) Highly efficient gluten degradation by lactobacilli and fungal proteases during food processing: new perspectives for celiac disease. Appl Environ Microbiol. 2007 Jul;73(14):4499 – 507.
  5. Comino et al. (2015) Role of oats in celiac disease. World J Gastroenterol. 2015 Nov 7; 21(41): 11825 – 11831.
  6. Vergleiche: Newnham et al. (2011) Gluten causes gastrointestinal symptoms in subjects without celiac disease: a double-blind randomized placebo-controlled trial. Am J Gastroenterol. 2011 Mar;106(3):508 – 14. und Newnham (2011) Does gluten cause gastrointestinal symptoms in subjects without coeliac disease? J Gastroenterol Hepatol. 2011 Apr;26 Suppl 3:132 – 4.
  7. Fan et al. (2008) Evidence of decreasing mineral density in wheat grain over the last 160 years. J Trace Elem Med Biol. 2008;22(4):315 – 24.
  8. Siehe auch Olschewski, Felix (2016) Warum sinkt der Nährstoffgehalt unserer Lebensmittel? Urgeschmack.de
  9. Details: Olschewski, Felix (2012) Was ist Phytinsäure? Urgeschmack.
  10. Details: Olschewski, Felix (2010) Was sind Lektine? Urgeschmack.
  11. Details: Olschewski, Felix (2011) Was ist Gluten? Urgeschmack.
  12. Das geht so: Olschewski, Felix (2017) Getreide und Hülsenfrüchte optimal einweichen. Urgeschmack.
  13. Fernandez-Feo et al. (2013) The cultivable human oral gluten-degrading microbiome and its potential implications in coeliac disease and gluten sensitivity. Clinical Microbilogy and Infection. Volume 19, Issue 9
    September 2013.
  14. Yolanda Sanz (2010) Effects of a gluten-free diet on gut microbiota and immune function in healthy adult humans. Gut Microbes. 2010 May – Jun; 1(3): 135 – 137.

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