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Ist Hafer glutenfrei?

Enthält Hafer Gluten?Das Internet beantwortet diese Frage genau richtig: Ja, nein, vielleicht. Hafer haftet der Status als gesündestes aller Getreide an. Als Grund gilt sein beeindruckender Nährstoffgehalt: Durch die Bank der Vitamine und Mineralstoffe befindet er sich stets auf den vordersten Plätzen der Getreide. Jenseits dieser reduktionistischen Perspektive bietet Hafer als robuste, anspruchslose Pflanze einen markanten, nussigen Geschmack. Er ist die Basis für Porridge, die Füllung des Haggis, Zutat in Cookies.

Als Getreide reiht Hafer sich neben Gattungen wie Gerste, Roggen und Weizen ein. Damit begibt er sich in zweifelhafte Gesellschaft, denn diese Verwandten enthalten Gluten. Für Menschen mit spezifischen Erkrankung wie Glutenunverträglichkeit oder Zöliakie ist das ein Problem. Genau diese Menschen – und seit einer sich verbrei­ten­den, hysterischen Trendwelle allgemeiner Glutenangst noch viele mehr – stehen häufig vor der Frage:

Enthält Hafer Gluten?

Ja, nein, vielleicht – um die Korrektheit dieses Resultats nachzuvollziehen, müssen wir nicht in die Quantenphysik abtauchen, sondern lediglich differenzieren. Dazu gehört zum einfacheren Verständnis ein kurzer Überblick über die Natur des Glutens.

Tatsächlich enthält kein Getreide Gluten, sondern lediglich Glutenbestandteile, die sich in Verbindung mit Wasser zu Gluten verbinden (also spätestens beim Verzehr).1 Diese Bestandteile sind je ein Protein aus zwei verschiedenen Gruppen, den Prolaminen und den Glutelinen.

Jedes Getreide enthält Prolamine und Gluteline.2 Beim Weizen sind das Gliadin und Glutenin, Roggen enthält Secalin und Secalinin. Auch Hafer enthält mit Avenin und Avenalin diese Stoffe. Sogar im unbestritten als glutenfrei anerkannten Reis stecken diese Stoffgruppen in Form von Oryzin und Oryzenin.

Da alle Getreide Prolamine und Gluteline enthalten und dies die Bestandteile des Glutens sind, könnte man logisch folgern: Alle Getreide enthalten Gluten.

Die Allgemeinheit – oder der Volksmund – ist sich jedoch einig, dass das nicht stimmt. Uneinigkeit herrscht lediglich im Detail. Ursache ist die unklare Definition.3 Der höchst renommierte Harold McGee beschreibt in On Food and Cooking, seinem Standard­werk zur Küchenwissenschaft, Gliadin und Glutenin als die Glutenproteine, meint also streng genommen nur Weizen. Geht es um Zöliakie und Glutenunverträglichkeit, beziehen sich viele Texte allein auf das Weizen-Prolamin Gliadin als Übeltäter, zugleich ergeht jedoch eine Warnung auch vor Roggen und Gerste. In diesem Zusam­menhang gelten Weizen, Roggen und Gerste als Tabu, nicht jedoch Mais, Reis und Hirse.

Die Antwort hängt also davon ab, ob man die Frage einem Bäcker, einem Ingenieur oder einem Zöliakiepatienten stellt. Fragt man einen backenden, an Zöliakie erkrankten Ingenieur, erlebt man möglicherweise eine spontane Selbstentzündung. Höchste Zeit, die Frage umzuformulieren:

Kann ich Hafer bei Zöliakie oder Glutenunverträglichkeit essen?

Die Deutsche Zöliakie-Gesellschaft tendiert zu einem Ja, sofern das Produkt unkontaminiert, also nicht durch Weizenrückstände aus einer Mühle verunreinigt ist.4 Für den Zöliakiepatienten enthält Hafer demnach kein Gluten. Das ist allerdings eine stark vereinfachte Darstellung.

Kann ich mit Hafer backen?

Nicht so wie mit Weizen. Die meisten Bäcker werden dem Hafer Glutenfreiheit attestieren. Einige sprechen aber auch Roggen und Gerste die Fähigkeit ab, ordentliches Gluten zu bilden und mischen daher ihren Broten Weizenmehl bei. Aus Perspektive eines Bäckers ist das absolut nachvollziehbar, denn für ein luftig-fluffiges Brot ist das Roggengluten nicht stark genug.

Keine dieser Antworten ist wirklich richtig

Bei Zöliakie und Glutenunverträglichkeit geht es nicht um Gluten. Und es geht auch nicht allein um Gliadin, sondern um Sequenzen von Aminosäuren, aus denen dieses Protein zusammengesetzt ist. Sequenzen, die wir in ähnlich problematischer Form auch in einigen Maissorten finden (der generell als glutenfrei gilt).5 Auch im Falle des Hafers ist man sich aufgrund von Sorten­unter­schie­den nicht so einig, wie die DZG-Erklärung vermuten lässt.6 Die Wissenschaft ist gespalten. Sogar einzelne, spezia­li­sier­te Forscher wie Dr. Evan Newnham müssen ihre Erkenntnisse ständig umformulieren und differenzieren, pendeln zwischen ja7 und8 nein9.

Es gibt keinen Hafer

Selbst wenn man sich innerhalb der Gattung Hafer (Avena) auf die zwei Anbauarten Avena sativa und Avena nuda beschränkt, steht man vor dutzenden Sorten mit variierenden Inhaltsstoffen. Was wir als Hafer bezeichnen, ist also nur eine grobe Zusammenfassung und wird dem tatsächlichen Objekt nicht gerecht. Das gilt bei landwirtschaftlich weiter verbreiteten Gattungen wie Weizen noch viel mehr. Wir können aus den Forschungsergebnissen lernen, dass wir mindestens hinsichtlich Zöliakie und Glutenunverträglichkeit fein differenzieren und kommunizieren müssen. Sonst tabuisieren wir eine ganze Gattung, obwohl das Problem nur einige Sorten betrifft. Derartige Vereinfachungen mögen sich leichter durchsetzen, doch sie sind selten korrekt.

Zugleich gewinnen wir viel, wenn wir uns genauer mit unseren Lebensmitteln auseinandersetzen und beginnen, Sorten zu unterscheiden. Unterschiedliche Zusammensetzungen bedeuten auch variierenden Geschmack. Während das Supermarktregal lediglich Weizenmehl als unspezifische Masse aus gemischten, ertragreichen Sorten bietet, wachsen auf den Feldern auch einige Weizenschätze mit einmalig intensivem Aroma.

Für den Bäcker ist es einfach. Er kann schnell herausfinden, welches Getreide und welche Sorte sich eignet, um das gewünschte Brot zu backen. Durch Ausprobieren. Wenn er sein Handwerk versteht, wählt er sein Mehl nach Anwendungsgebiet mit höherem oder niedrigerem Proteingehalt. Je nach Tradition wählt er Hartweizen oder Weichweizen und bei großer Leidenschaft arbeitet er eng mit seinem Müller und vielleicht auch Landwirten zusammen, um genau den Mahlgrad, die Mischung und die Frische zu erhalten, die er sich wünscht.

Wie lautet die Antwort? Steckt Gluten im Hafer?

Praktisch betrachtet: Nein. Die Deutsche Zöliakaie-Gesellschaft hält ihn bei vorsichtiger Einführung für einen möglichen Teil einer glutenfreien Diät. Und auch Bäcker würden ihn kaum zur Gruppe glutenhaltiger Getreide nach handwerklicher Sicht zählen.

Ingenieure und Wissenschaftler mögen widersprechen, Hafer sei technisch gesehen glutenhaltig. Aber das Essen ist letztlich eine Praxis und wer die titelgebende Frage stellt, ist überwiegend genau daran interessiert.

Der bunte Bereich zwischen einem klaren Ja oder Nein auf diese Frage ist abhängig von vielen Variablen. Darunter

  • die Gattung und Art des Getreides,
  • die Getreidesorte,
  • die Verarbeitung (z. B. etwaige Kontamination mit glutenhaltigen Produkten),
  • die Art der Vorbereitung (z. B. Einweichen, Fermentation),
  • der Kontext des Verzehrs (andere Lebensmittel in der gleichen Mahlzeit) und
  • die individuelle Darmflora.

Genau diese Variablen beeinflussen auch direkt Geschmack und Nährstoffgehalt. Sie gemahnen zur sorgfältigen Wahl, statt blind zur nächsten Tütenware zu greifen. Traditionelle Esskulturen wie in weiten Teilen Asiens unterscheiden Dutzende Reissorten und erkennen sie häufig allein am Geschmack.

Wer auf solche Details achtet, bereichert seine Sinne und seine gesamte Ernährung.

Weiterführende Literatur:

Einfach kochen

Fußnoten

  1. Lamacchia et al. Cereal-Based Gluten-Free Food: How to Reconcile Nutritional and Technological Properties of Wheat Proteins with Safety for Celiac Disease Patients. Nutrients. 2014 Feb; 6(2): 575–590.
  2. Rimbach, Gerald (2015): Lebensmittel-Warenkunde für Einsteiger
  3. Belitz, Grosch, Schieberle (2009): Lehrbuch der Lebensmittelchemie
  4. Stellungnahme der Deutschen Zöliakie-Gesellschaft e.V., Mai 2016: Hafer in der glutenfreien Ernährung
  5. Comino et al. The Gluten-Free Diet: Testing Alternative Cereals Tolerated by Celiac Patients. Nutrients. 2013 Oct; 5(10): 4250–4268.
  6. Comino et al. Role of oats in celiac disease. World J Gastroenterol. 2015 Nov 7; 21(41): 11825–11831.
  7. Newnham ED. Does gluten cause gastrointestinal symptoms in subjects without coeliac disease? J Gastroenterol Hepatol. 2011 Apr;26 Suppl 3:132-4.
  8. Biesiekierski JR, Newnham ED et al. Gluten causes gastrointestinal symptoms in subjects without celiac disease: a double-blind randomized placebo-controlled trial. Am J Gastroenterol. 2011 Mar;106(3):508-14.
  9. Biesiekierski, Peters, Newnham et al. No effects of gluten in patients with self-reported non-celiac gluten sensitivity after dietary reduction of fermentable, poorly absorbed, short-chain carbohydrates. Gastroenterology. 2013 Aug;145(2):320-8.e1-3.

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