Wenn es ums Essen geht, stehen Verbraucher im Kreuzfeuer von Wissenschaft, Medien, Herstellern und Politik. Was ist gesund, was sicher und was nachhaltig? Diese Fragen scheinen hoffnungslos angesichts täglich neuer, oft widersprüchlicher Meldungen. Frustrierte Konsumenten reagieren mit Resignation oder Zynismus. Doch könnten wir konstruktiv handeln? Könnte die Lösung ganz einfach sein?
Woher kommt die Unsicherheit?
Offenbar stellt sich diese Frage erst seit der Industrialisierung der Lebensmittelproduktion nach dem letzten Weltkrieg. Daraus folgen mehrere Ursachen:
- Das Bekanntwerden wissenschaftlicher Untersuchungsergebnisse und
- fragwürdiger Produktionsmethoden
- sowie deren sensationalistische Darstellung durch die Medien.
Gepaart mit steigendem Wohlstand und einer sich stark verändernden Kultur (u. a. Überfluss) ist so das Feld bestellt für Zweifel auf der einen und Auswahlparalyse (Die Qual der Wahl) auf der anderen Seite.
Vor diesem Hintergrund wirken Entscheidungen über die Ernährung schwierig. Groß ist die Verlockung, sich davor zu drücken: Viele Verbraucher geben ihre Selbstbestimmung auf und legen die Verantwortung für ihre Ernährung in die Hände von Industrie und Politik, repräsentiert durch Fernsehen, Supermärkte und Verbände.
Diese Unsicherheit dient als fruchtbarer Boden für Ersatzreligionen, welche angesichts des Bedeutungsverlusts traditioneller Religionen an Zulauf gewinnen. Wer den zuvor genannten Institutionen nicht traut, findet Alternativen. Atkins, LowCarb, Rohkost, Vegetarisch, Vegan oder Paleo: All diese Gebilde existieren stets auch in dogmatischer Form mit strengem Regelwerk und dem Versprechen der endgültigen Erlösung.
Der Wandel der Ernährung
Einher mit der Industrialisierung unserer Lebensmittelherstellung gingen graduell und schleichend weitere Veränderungen unserer Ernährung. Michael Pollan beschreibt diese treffend in seinem Buch In Defence of Food:
Die Ernährungswissenschaft hat die Esskultur abgelöst
Die gepflegte Esskultur ist der reduktionistischen Ernährungswissenschaft gewichen. Statt auf Traditionen, Ritualen und Genuss liegt der Fokus heute auf Einzelteilen: Wie viele Kohlenhydrate stecken in dieser Mahlzeit? Erfüllt sie die Funktion als Eiweißversorgung? Bekomme ich genügend Vitamine? Die Untersuchung dieser Fragen dient freilich auch zur Rechtfertigung der zuvor genannten Ersatzreligionen, die alle die ultimativen Antworten zu kennen glauben.
Losgelöst vom gemeinsamen Mahl am Esstisch, der Freude bei der liebevollen Zubereitung und der Pflege von Familienrezepten war die Ernährung ein leichtes Opfer für technische Neuerungen wie die Mikrowelle: Jeder isst für sich allein, vermeintlich maßgeschneidert auf seine eigenen Bedürfnisse und führt Buch über seine Nährstoffversorgung.
Samen haben Blätter abgelöst
Samen in Form von Getreide, besonders Weizen und Mais, sind heute allgegenwärtig. Sie verstecken sich in der Hamburgersauce (Glucose-Fructose-Sirup, hergestellt aus Mais), im Pudding (Maisstärke) und sogar im Fleisch (Mais als Futter in der industriellen Intensivtierhaltung). Wir essen immer mehr Samen und nur noch wenig Blätter (wie Kohl, Spinat, Salate…). Dementsprechend mangelt es uns an Nährstoffen aus Gemüse während sich ein Überfluss an Omega-6-Fettsäuren aus Getreide einstellt. Unsere Nahrung wird eintönig.
Quantität hat Qualität abgelöst
Wer braucht aromatische Zutaten, wenn man den Salat in Soße ertränken und ihn so genießbar machen kann? Wo früher der Geschmack eine Rolle spielte, zählt heute einzig die Menge. Immer mehr und immer billiger soll das Essen sein. Die Fleischberge im Einkaufswagen müssen wachsen und mehr Tomaten sind besser als wenige – ganz gleich wie sie schmecken.
Simplizität hat Komplexität abgelöst
Die Welt ist komplex und mit ihr alle Bestandteile. Alles ist verbunden und jeder Flügelschlag eines Zitronenfalters kann tiefgreifende Auswirkungen haben. Wir wissen das und dennoch haben wir den Anbau von Pflanzen auf drei Buchstaben reduziert: NPK – Stickstoff, Phosphor und Kalium. Das sind die Bestandteile des sogenannten Volldüngers. Dies ist alles, was wir Pflanzen geben, damit sie möglichst schnell möglichst groß werden. Es verwundert kaum, dass angesichts dieser Vernachlässigung des Bodens die übrigen Mineralstoffe fehlen, um die pflanzlichen Produkte nicht nur widerstandsfähiger, sondern auch schmackhafter zu machen.
Raffiniert hat Vollwert abgelöst
Die Produkte in Supermärkten ähneln immer weniger unseren traditionellen Lebensmitteln. Die Zahl der industriellen Verarbeitungsschritte steigt stetig und damit auch der durch Mehrwert gerechtfertigte Preis. Mit jedem Verarbeitungsschritt gehen Nährstoffe verloren, Mineralstoffe werden ausgespült, Vitamine zerstört und Pflanzenstoffe herausgebleicht. Es bleiben leere Kalorien: Energie ohne weiteren Nährwert, deren Verzehr nicht befriedigt. Mittels aufwendig ermittelter Formeln fügen Hersteller die optimalen Salz-, Zucker- und Fettmengen hinzu, um ihre Produkte mit Maximaler Genießbarkeit und hohem Suchtfaktor zu versehen.
Wertschätzung am Boden
Die Deutschen geben so wenig Geld für Lebensmittel aus wie nur wenige andere Länder auf der Welt. Nur rund 11% ihrer Konsumausgaben sind ihnen Nahrungsmittel, die zukünftige Substanz ihres Körpers und die Grundlage ihrer Gesundheit wert. 1980 war es noch das doppelte. Verlockt dieser geringe Betrag zur Achtlosigkeit beim Einkauf?
Die kulturelle Wertschätzung der Lebensmittel ist gesunken und auch ihr finanzieller Wert. Ernährung ist endgültig zur ungeliebten Nebensache geworden. Verbraucher stecken in einer Sackgasse aus Verunsicherung und Desinteresse. Wie konnte es so weit kommen?
Stephen Jay Gould schrieb: »We will not fight to save what we do not love« (»Wir werden nicht für die Rettung von etwas kämpfen, das wir nicht lieben.«) Er bezog dies auf die Rettung unserer Umwelt, doch es ist eine universelle Eigenschaft des Menschen.
Die Ernährung zurückerobern. Wo ist der Ausweg?
Glücklicherweise ist die Lösung nicht kompliziert: Der Ausweg aus einer Sackgasse ist der Weg zurück. Wir können nicht über Nacht die Industrie mit all ihren Produkten abschaffen, wir können unsere ernährungswissenschaftlichen Erkenntnisse nicht vergessen und die Skandale ignorieren.
Doch wir können uns die Frage stellen, wie wichtig uns unsere Gesundheit ist und welchen Stellenwert in der Folge unsere Ernährung haben sollte. Was sind das für Dinge, die wir in unseren Körper stecken? Wo kommen sie her? Woraus sind sie gemacht? Kenne ich die Bestandteile überhaupt? Weiß ich, was das mit mir anrichtet? Wer hat es hergestellt? Und wie?
Ist es nicht faszinierend, welchen erheblichen Einfluss die Art der Tierhaltung auf den Geschmack und die Qualität des Fleischs hat? Versetzt Sie der Vorgang der Fermentation, die Herstellung von Sauerkraut, nicht in Staunen? Ist es nicht eine wundervolle Tradition, sein Essen in Ruhe gemeinsam am Tisch zu genießen?
Beschäftigen Sie sich mit dem Essen. Die Gesundheit ist Ihr höchstes Gut. Kann man dafür zu viel Zeit oder Geld investieren? Ist es wirklich so schlimm, ein paar Cent mehr für die bessere Paprika auszugeben? Befriedigt es Sie nicht viel mehr, ein paar Minuten länger in der Küche zu stehen und etwas leckeres zu kochen als abends in der gleichen Zeit am Fernseher zu versacken?
Investieren Sie die Zeit. Stecken Sie ein wenig Ihrer 24 Stunden in aufrichtiges Interesse an ihren Lebensmitteln. Sie können so viel gewinnen: Genuss, Begeisterung, Befriedigung. Jede investierte Sekunde bedeutet Liebe. Und was Sie zu lieben lernen, werden Sie behüten.
Wertschätzung ist Liebe. Liebe ist Zeit. Je mehr Zeit sie investieren, desto mehr werden Sie es lieben.
Wir alle sind verantwortlich
Der Farmer und Autor Wendell Berry schreibt: »Wir alle sind Landwirte durch einen Bevollmächtigten.« Wir wählen diesen Bevollmächtigten, also sind wir auch für seine Handlungen mitverantwortlich. Wir wählen mit unserem Portemonnaie. Dass jemand sein Kreuz neben einem ihm unbekannten Namen im Supermarkt macht, entbindet ihn nicht von der Verantwortung. Verantwortung für dessen Handlungen gegenüber der Umwelt, Tieren und Pflanzen.
Wir alle kennen den Namen unseres Zahnarztes, unseres Steuerberaters und unseres Anwaltes. Menschen, die wir bestenfalls ein Mal im Jahr sehen und benötigen. Doch wer kennt den Landwirt, der seine Lebensmittel erzeugt? Den Menschen, dessen Dienste wir täglich benötigen? Denjenigen, den wir mit unserem Geld beauftragen, für uns Pflanzen- und Tierprodukte zu erzeugen? Ein Landwirt versorgt heute rund 140 Menschen. Eine riskante Entwicklung mit steigender Tendenz, denn so lastet die Ausführung auf immer weniger Schultern. Noch können wir diese Person kennenlernen, noch finden wir solche Menschen auf dem Wochenmarkt oder im Hofladen in der Nachbarschaft.
Was dürfen wir essen?
Letztlich ist die Antwort einfach: Entscheiden Sie selbst. Lassen Sie sich die Entscheidung nicht abnehmen. Nicht von der Politik, der Industrie oder den Medien. Treffen Sie Ihre Entscheidungen selbst. Lassen Sie sich nicht verunsichern. Seien Sie mutig, informieren Sie sich und fällen Sie mündige Entscheidungen. Sie sind verantwortlich. Ernährung ist keine unwichtige Nebensache. Sie ist lebenswichtig.
Wir alle essen. Essen ist unser vereinigender Faktor. Ist es da nicht angebracht, der Ernährung den entsprechenden Stellenwert beizumessen? Zeigen Sie ihre Entschlossenheit, übernehmen Sie die Verantwortung für Ihre Ernährung, Ihr Leben. Nehmen Sie die Kontrolle in die Hand.
Was soll ich tun? Wie kann ich besser essen?
Es gibt reihenweise Möglichkeiten, mehr Sicherheit bei der Wahl der Lebensmittel zu erlangen. Drei der effektivsten finden Sie hier:
1) Kochen Sie selbst. Sie müssen kein Sternekoch werden. Sie müssen keine teure Ausrüstung kaufen. Sie müssen nicht Stunden in der Küche verbringen. Doch jedes selbst gekochte Mahl bringt Sie ihren Lebensmitteln näher, macht Sie kompetenter. Zu kochen bedeutet, Liebe zu investieren. Liebe zu ihrer Ernährung und somit zu sich selbst. Zugleich gehen Sie mit jeder selbst gekochten Mahlzeit einem Fertiggericht oder einer industriell verarbeiteten Speise aus dem Weg. Sie bekommen mehr Nährstoffe, werden satter und zufriedener.
2) Essen Sie am Tisch. Nicht am Schreibtisch. Nicht an der Theke. Am Esstisch. Am besten in Gesellschaft. Setzen Sie sich in Ruhe hin, atmen Sie vor dem Essen wenigstens tief durch, kommen Sie an, richten Sie Ihre volle Aufmerksamkeit auf das Essen, die Gerüche, den Geschmack, die Texturen. Essen Sie langsam und genießen Sie jeden Bissen. Wenn Sie nachdenken wollen, dann überlegen Sie, wonach das Essen schmeckt, was Ihnen daran gefällt oder was Ihnen fehlt. Wer bewusst isst, wird schneller und länger satt. Und er lernt mit jedem Bissen mehr Wertschätzung.
3) Meiden Sie den Supermarkt. Kaufen Sie möglichst viele Lebensmittel so nah an der Quelle wie möglich. Direkt beim Erzeuger, im Hofladen oder auf dem Wochenmarkt. So können Sie die Menschen kennenlernen, die jene Dinge erzeugen, die Sie sich in den Mund stecken. Sie erfahren mehr über die Arbeit, die dahinter steckt und die Motivation des Erzeugers. Lassen Sie sich von seiner Leidenschaft für gute Lebensmittel anstecken. Zeigen Sie ihre Wertschätzung.
Erste Tipps für die Wahl der Lebensmittel finden Sie in Kurzform auch hier in den Urgeschmack-Empfehlungen.
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