Zum Inhalt springen

Selen: Mikrogramm mit kiloschwerer Wirkung | Schilddrüse, Immunsystem, Haut & Haare, Muskeln, Sperma

Yvonne, 33, ist erschöpft und übergewichtig. »Ich habe schon alles versucht«, klagt sie und verweist auf ein halbes Dutzend Diäten und angefangene Aerobic-Kurse. Und damit hatte sie auch Erfolg, denn Yvonne ist hartnäckig und diszipliniert. Mit diesen Eigenschaften sollte ihr das Abnehmen leicht fallen. Doch ihr fehlt Energie und egal wie sorgfältig sie vorgeht: Noch weniger essen kann sie sich nicht vorstellen.

Yvonne macht im Grunde alles richtig und trotzdem will der Bauch nicht knackig werden oder ihr Energielevel steigen. Das ist unglaublich frustrierend. Wir schauen uns ihre Blutwerte an uns stellen fest: Ihr fehlt etwas. Eine wirklich winzige Kleinigkeit. Diese paar Mikrogramm eines Spurenelements, die ihr fehlen, verursachen auf Umwegen ein paar Kilo mehr auf der Waage. Selen: Wenn nur ein paar Mikrogramm fehlen, kann sich das Millionenfach auf das Körpergewicht auswirken.

Themen der heutigen Episode:

  • Wofür benötigen wir Selen?
  • Muss man sich Sorgen um eine Selenvergiftung machen?
  • Was geschieht bei Selenmangel?
  • Wie entstehen Selendefizite und wer ist besonders betroffen?
  • Wie misst man am besten den Selenbedarf und wie sollte man es dosieren?

2. Wofür benötigen wir überhaupt Selen?

Sind es über 600 Prozesse im menschlichen Körper wie beim Magnesium oder über 300 wie beim Zink? Es spielt keine Rolle, an wie vielen trennbaren Prozessen im Körper Selen beteiligt ist – es ist ein essenzieller, ein lebenswichtiger Mikronährstoff wie alle anderen lebenswichtigen Mikronährstoffe. Ein Puzzleteil im Puzzle namens Mensch, ohne das er nicht rund läuft und dementsprechend krank wird und Leistung verliert. Es ist egal, wie groß oder klein das Puzzleteil ist.

Die folgenden Beispiele für Selen-relevante Vorgänge eignen sich daher wie auch die Beispiele früherer Episoden nicht für ein Vorgehen nach dem Schema »Das funktioniert bei mir nicht, also muss Selen fehlen!« Selen kann der eine entscheidende Schlüssel sein; es kann nur einer von mehreren fehlenden Nährstoffen sein; oder es kann alles nach Selenmangel aussehen und dann stellt sich doch eine andere Ursache heraus – oder man bemerkt viel mehr, dass man nach der Ursache der Ursache der Ursache suchen muss. Wenn also eindeutig Selen fehlt, lautet die folgerichtige Frage zuerst: »Warum fehlt Selen?«

Das vertiefen wir später. Beginnen wir mit der Liste:

Antioxidativer Schutz: Selen ist Bestandteil der Glutathionperoxidase, und schützt damit Zellen vor freien Radikalen.

Schilddrüsenstoffwechsel: Selen ist von zentraler Bedeutung für die Funktion der Schilddrüse. Die Umwandlung des Schilddrüsenhormons T4 in die aktive Form T3 durch Deiodinasen erfordert eine gute Selenversorgung. Das gilt auch für T4-Medikamente: Ohne genügend Selen können die kaum wirken.

Immunsystem: Zu den essenziellen Funktionen des Selens zählt die Unterstützung der T-Zellen, natürlichen Killerzellen und die Regulation entzündungsfördernder Zytokine.

Muskelstoffwechsel und kardiovaskulärer Schutz: Selen schützt vor Muskelschäden, insbesondere bei hoher Belastung und eine gute Versorgung ist wichtig zum Verhindern von Herzmuskelerkrankungen.

DNA-Synthese und -Reparatur, Zellwachstum und -differenzierung: Selen reguliert Zellfunktionen, das ist wichtig für Geweberegeneration, Zellteilung und Reparatur; wie auch Haare, Haut und Nägel.

Spermienproduktion: Selen ist wichtig für Spermienmotilität und -struktur.

Entgiftung: Selen ist nötig für Enzyme, die Schadstoffe neutralisieren.

Bevor wir tiefer in die Folgen eines Selenmangels und dessen Vorbeugung einsteigen, beantworte ich eine der häufigsten Fragen zu diesem Nährstoff:

3. Ist Selen nicht giftig? Kommt es nicht schnell zur Überdosis?

Klar kann man überdosieren. Das klappt ja auch mit Wasser. Hier passt eine berühmte Aussage, die der gute Paracelsus vor rund 500 Jahren tätigte: Alles ist ein Gift. Allein die Dosis macht das Gift.

Wir haben bereits festgestellt, dass Selen lebenswichtig ist. Wie schnell wird es also giftig? Formulieren wir um: Wie wahrscheinlich ist eine Überdosis und wie äußert sie sich?

Tatsache ist: Selentoxizität ist in Deutschland selten.1 Viel weiter verbreitet sind hierzulande Defizite oder Mängel, wie der durchschnittliche Serumwert von um 80 µg/l zeigt.2 Der liegt nämlich am unteren Ende sogar des an sich schon mies definierten Referenzbereichs. 80 µg/l liegt weit unter dem idealen Spiegel, welcher wiederum weit unterhalb der Grenze zur Toxizität liegt.

Also: Nein, bei Selen kommt es bei verantwortungsvollem Umgang nicht schnell zu einer Überdosis. Klar, es ist ein Spurenelement und die sinnvollen Mengen befinden sich in einer anderen Größenordnung als die für Magnesium oder Fischöl. Aber dementsprechend sind die Nahrungsergänzungsmittel auch dosiert.

Woran bemerkt man eine Selentoxizität? An Haarausfall, brüchigen Nägeln, Übelkeit, neurologischen Störungen und Knoblauchgeruch im Atem.

Deutlich größer als durch Toxizität ist das Sterberisiko durch niedrige Selenspiegel. Das lässt sich leicht erklären mit Blick auf die Folgen eines Selendefizits:

4. Was geschieht bei Selenmangel?

Schwächung des Immunsystems und damit erhöhte Infektanfälligkeit.

Schilddrüsenprobleme und reduzierte Stoffwechselrate, weil Selen zur Umwandlung des Schilddrüsenhormons T4 in T3 nötig ist. Mögliche Folgen: Schlappheit, Energiemangel, Reizbarkeit, Gewichtsprobleme, allgemeine Stressanfälligkeit.

Muskelschwäche und Muskelschmerzen durch mangelhaften Schutz vor oxidativem Stress. Das kann zu Muskelschäden, Muskelschwäche und -schmerzen führen, teils durch Degeneration der Muskelzellen. Diese Folge kann irreversibel sein und betrifft häufig auch den Herzmuskel. Das führt zu:

Kardiomyopathie, Herzmuskelschwäche, z.?B. Keshan-Krankheit. Eine unzureichende Versorgung mit Selen und damit ausbleibende Sättigung der Selenoproteine erhöht deutlich das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und kardiovaskulären Tod.3

Unfruchtbarkeit bei Männern durch beeinträchtigte Spermienqualität.

Wachstumsstörungen vor allem bei Kindern.

Erhöhte oxidative Schäden durch unzureichenden antioxidativen Schutz, eine der zentralen Funktionen des Selens.

Neurologische Störungen und dadurch zum Beispiel gestörte Bewegungskoordination.

Höheres Risiko für bestimmte Krebsarten durch gestörte Zellschutz­mecha­nismen – auch hier spielt die antioxidative Wirkung des Selens eine Rolle.

Verzögerte Wundheilung durch eingeschränkte Zellregeneration, denn Selen ist nötig für Zellneubildung und Entzündungsregulation.

Haarausfall – diffus oder büschelweise, da Selen für das Haarwachstum nötig ist.

Sprödes, glanzloses Haar & trockene, schuppige Haut auch hier durch mangelhafte Regeneration, dementsprechend auch Störung der Schutzfunktion der Haut.

In dieser Liste finden wir eine einfache, häufige Erklärung für Yvonnes verzweifelten Kampf gegen Übergewicht und Erschöpfung: Selen ist unabdingbar für die Funktion der Schilddrüsenhormone. Wenn dieses System nicht korrekt funktioniert kommt es zu genau dem, was Yvonne erlebt: Schwäche, Erschöpfung, leichte Reizbarkeit, Neigung zu Übergewicht – die Stoffwechselrate sinkt. Im Detail erläutere ich diese Mechanismen in den Episoden:

Yvonne fehlt Selen. Dadurch kann ihr Körper nicht genügend Schilddrüsenhormon T4 in die aktive Form T3 umwandeln. Darunter leidet der ganze Körper, denn jede Zelle hat Rezeptoren für Schilddrüsenhormone. T3 (Trijodthyronin) steigert den Energiegrundumsatz, indem es die Aktivität der Mitochondrien erhöht. Es fördert die Glukoseaufnahme in Zellen und steigert die Glykolyse, ist also wichtig für einen gesunden Zuckerstoffwechsel und Blutzuckerspiegel. Gleichzeitig aktiviert T3 den Fettabbau (Lipolyse) und erhöht die ?-Oxidation von Fettsäuren. Es erhöht außerdem die Expression von Enzymen des Zitratzyklus und der Atmungskette. Insgesamt stimuliert T3 nahezu alle Prozesse des Energiestoffwechsels.

Und so wirkt das Fehlen weniger Mikrogramm Selen exponentiell auf Yvonnes Körper: Ihr fehlt Energie und sie nimmt zu, weil ihr Energieumsatz sinkt. Natürlich bleibt es dabei, dass man nur durch Kalorienüberschuss zunehmen kann. Yvonne isst also zu viel für ihre Verhältnisse. Ja, sie könnte ganz einfach abnehmen, indem sie weniger isst. Aber weniger essen ist bei bester Disziplin schwierig, wenn der Körper durch die geringe Nahrungszufuhr aus allen Zellen nach mehr Nahrung schreit: Essen ist mehr als nur Energiezufuhr! Je weniger Yvonne isst, desto weniger Protein, Vitamine und Mineralstoffe nimmt sie auch zu sich, die im Fall eines Mangels genau solche Probleme wie der Selenmangel verursachen können. Außerdem passt der Körper sich an ein Kaloriendefizit an und senkt seinen Verbrauch weiter.

Für Yvonne sieht das Problem letztlich so aus: Sie hält sich sehr diszipliniert an ihre gesunde Ernährung und isst für einen Menschen ihrer Größe und ihres Aktivitätsgrads genau die richtige Menge minus ein paar Kalorien für ein Energiedefizit. Sie treibt außerdem täglich Sport, damit alle Stoffwechselprozesse gut laufen und sie physisch und psychisch gesund bleibt. Durch die schlechte Funktion des Schilddrüsensystems verringert ihr Körper allerdings den Verbrauch für alle anderen Tätigkeiten. Das beinhaltet die Sport-unabhängige Aktivitätsthermogenese wie Zappeln, Aufstehen, Hausarbeit, zur Arbeit gehen und die genannte Stoffwechselrate im Ruhezustand, den Grundverbrauch für Herzschlag, Atmung, Gehirnaktivität, Organfunktion und so fort. Deswegen fühlt sie sich schlapp. Und wer sich schlapp fühlt, bewegt sich weniger. Zum Glück lässt sich dieses Problem lösen. Aber werfen wir kurz einen Blick auf die andere Seite der Medaille:

Paradox wirken neben den Mangelerscheinungen einige der Folgen einer Selenüberdosierung, denn die können sich ähnlich äußern. Besonders fällt hier auf: Haarausfall, ebenfalls diffus oder in Büscheln; jedoch auch Spröde, brüchige Haare oder Nägel, oft mit weißen Flecken oder Ablösungen. Das verdeutlicht die nötige Vorsicht bei einer Diagnose: Haarausfall kann als Ursache einen Selenmangel haben. Jedoch kommen auch Zink- und Vitamin-B7-Mängel infrage. Weitere mögliche Selen-Überschusssymptome wären: Übelkeit, Erbrechen, Durchfall als erste Anzeichen einer akuten Vergiftung; metallischer Geschmack im Mund als weiteres häufiges Frühsymptom; knoblauchartiger Atemgeruch durch Ausscheidung von Dimethylselenit; Hautausschläge und Rötungen durch Reizung und Entzündung; Nervensymptome wie Kribbeln, Muskelschwäche oder Koordinationsstörungen; Reizbarkeit, Konzentrationsprobleme als neurotoxische Wirkung bei chronischer Aufnahme; Leber- und Nierenschäden bei starker Überdosierung; und Kreislaufprobleme in schweren Fällen.

Noch einmal: Selentoxizität kommt hierzulande nur selten vor. Ein Selen-Defizit ist hingegen häufig und es belastet die Gesundheit auf vielen Wegen.

5. Wie entstehen Selendefizite, wie weit sind sie verbreitet und wer ist besonders betroffen?

Damit Selen in die Nahrungskette gelangt, müssen Pflanzen es aus dem Boden aufnehmen. Wenn der Boden kein oder nur wenig Selen enthält, können die Pflanzen es auch nicht aufnehmen. Durch missverständliche Begriffswahl lassen sich über die deutschen Böden in der Literatur unterschiedliche Angaben finden, eine Zusammenstellung der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe zeigt vergleichsweise weitgehend selenarme Böden mit besonderer Schwäche in Nord- und Ostdeutschland sowie weiten Teilen Süddeutschlands.4

Während also deutsche Böden schon von sich aus meist nur wenig Selen hergeben, schwächen folgende landwirtschaftliche Methoden die Selenversorgung weiter:

  • Intensive Düngung und Bewässerung erhöhen die Erträge, jedoch bleibt die Aufnahmefähigkeit der Pflanzen für Nährstoffe begrenzt und kann mit dem schnellen Wachstum nicht schritthalten. Das ist ein umweltbedingter Verdünnungseffekt.
  • Die Zucht von Sorten mit größeren Erträgen, besserer Schädlingsresistenz und erhöhter Klimaanpassung führt den genetischen Verdünnungseffekt herbei: Ertrag­reichere Sorten enthalten demgemäß unter gleichen Wachstumsbedingungen anteilig weniger Nährstoffe.
  • Und der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln reduziert auch den Anteil von Antioxidantien. Ökologisch erzeugte Lebensmittel enthalten mehr dieser sekundären Pflanzenstoffe, was man auf den größeren Stimulus zum Selbstschutz der Pflanze zurückführt.

Das heißt: Die moderne Paprika mag größer sein, doch sie enthält anteilig weniger Mikronährstoffe (und mehr Wasser) als die langsam gewachsene kleine Paprika. Siehe zu den Details auch meinen Leitartikel und Podcast mit dem Titel: Wie Nahrungs­ergän­zungs­mittel gezielt die Lebensqualität verbessern.

Weitere Gründe für eine schlechte Selenversorgung: Zusehends mehr Fertiggerichte und Fast Food; allgemein schlechtere Darmgesundheit und dadurch reduzierte Nährstoffaufnahme; vermehrte Aufnahme von Antinährstoffen, welche die Bioverfügbarkeit von Mikronähstoffen verschlechtern; und erhöhter Verbrauch von Nährstoffen. Und genau dieser erhöhte Verbrauch ist wichtiger Faktor bei der individuellen Beurteilung des zusätzlichen Selenbedarfs:

Ein erhöhter Bedarf besteht in Schwangerschaft und Stillzeit, bei Kinderwunsch insbesondere beim Mann, bei Veganern, Vegetariern und Rauchern, durch Schwermetallbelastung; und wie üblich haben auch Leistungssportler und Alternde einen erhöhten Bedarf.

Gemäß der Funktionen des Selens gilt die Indikation erhöhten Selenbedarfs auch bei Störungen der Schilddrüsenfunktion (besonders bei niedrigem fT3), bei erhöhter oxidativer Belastung (Selen ist Bestandteil von Enzymen wie der Glutathionperoxidase, die Zellen vor oxidativem Stress schützen), bei geschwächtem Immunsystem, häufigen Infekten und Entzündungsprozessen, Autoimmunkrankheiten, Herzkrankheiten, Herz- oder Niereninsuffizienz, Entgiftungsstörungen oder Leberkrankheiten sowie Glutathionmangel.

Wie ist es nun um deinen Selenspiegel bestellt? Wenn du nicht gezielt Selen zuführst, ganz gleich ob durch Lebensmittel oder durch Supplemente, dann liegst du erfahrungsgemäß eher im Defizit. Es gibt verschiedene, leider nicht vollständig aufschlussreiche Quellen, die teils eine zu geringe Seleneinnahme bei 70 Prozent der Deutschen sehen. Das deckt sich nicht mit meiner Erfahrung und der vieler Kollegen. Was wir sehen ist: Es sind eher acht bis neun von zehn Klienten oder Patienten, die ihren Selenspiegel verbessern müssten – oder sollten. Genauer wird es im nun folgenden Abschnitt:

6. Selen messen und supplementieren: Wieviel Selen braucht man und wieviel sollte man einnehmen?

Die Referenzwerte für Selen im Serum liegen meist bei 80 bis 120 µg/l.5 Der Durchschnittsdeutsche hat einen Serumspiegel um 80, liegt also am unteren Ende dieser Referenzwerte. Allerdings bilden diese Referenzwerte eben nur die tatsächlichen Spiegel ab und zeigen nicht, wo der Wert für bestmögliche Gesundheit eigentlich liegen sollte.

Yvonne hat ein Kind zur Welt gebracht und gestillt. Neben ihrem regulären Verbrauch hat sie das zusätzlich Selen gekostet. Auch ihr Sport erhöht den Verbrauch. Derweil hat sie sich nie besonders um Mikronährstoffe gekümmert – sie dachte, gesunde Ernährung müsse genügen. So ist sie bei einem Selenwert von 71 µg/l im Serum gelandet. Das ist deutlich zu wenig, aber ihr Arzt hat das nie gemessen.

Erst um 120 bis 140 µg/l im Serum (entspricht 140 bis 150 µg/l im Vollblut) besteht volle Versorgung und damit eine gute Funktion von Schilddrüse und Immunsystem, übrigens auch sehr wirksam im Fall von COVID-19. Und erst mit einem Selenspiegel in diesem Bereich ist die Gesamtsterblichkeit am niedrigsten.6

Übrigens, stelle ich wie üblich einen Spickzettel mit den Werten zum kostenlosen Download zur Verfügung: Spickzettel #3 – Selen.

Liegt man unterhalb dieses Bereichs von 120 bis 140 µg/l im Serum, wird eine Einnahme der von der DGE empfohlenen mickrigen 60 bis 70 µg/Tag nicht genügen. In der Realität liegen die meisten ohnehin darunter. Selenreiche Lebensmittel sind Meeresfrüchte, Fisch, Eier, Milch, Fleisch und bestimmte Pilze wie der Steinpilz. Und die Paranuss?

Ja, es gibt die Geschichte von der selenreichen Paranuss. Doch auch der Paranussbaum muss sein Selen irgendwo herbekommen und das echte Leben zeigt zweierlei:

  1. Es ist richtig, dass man mit zwei Paranüssen täglich über zwölf Wochen seinen Selenstatus verbessern kann. Ob das genügt, um aus einem starken Defizit heraus in den Idealbereich zu kommen, ist ein anderes Thema.
  2. Richtig ist auch, dass der Selengehalt in Paranüssen um etwa den Faktor zehn schwankt.7

Am Ende des Tages ist die Paranuss also kein Selenwunder, sondern eine Ernährung von Meeresfrüchten, Fisch, Fleisch, Innereien und Eiern kann das Gleiche leisten – das klingt nach einem weiteren Argument für die Steinzeiternährung.

Was sollte man nun tun, um von einem Serumspiegel um 80 herauf auf über 120 und Richtung 140 zu kommen? Wie üblich verschreibe ich nichts, sondern ich teile meine Erfahrung als jemand, der selbst jahrelang reichlich der genannten Lebensmittel gegessen hat: Mit gesunden, frischen, besten Lebensmitteln allein gelingt das selten. Das deckt sich mit den Erfahrungen meiner Klienten und vieler Patienten. Möglicherweise kann man nach einigen Jahren solcher Ernährung eine Besserung der Versorgung erreichen. Aber will man in der Zwischenzeit die Folgen einer schlechten Selenversorgung in Kauf nehmen? Besser nicht.

Deswegen halte ich eine Supplementierung für sinnvoll. Eine Tagesdosis von 200 µg Natriumselenit pro Tag ist hierzulande ungefährlich und würde für praktisch jeden bedeutende gesundheitliche Vorteile bringen. Dass diese Empfehlung nicht von offizieller Seite gilt, ist ein weiterer Hinweis, dass nicht optimale Gesundheit, sondern die Verwaltung von Kranken das eigentliche Ziel unseres sogenannten Gesundheitssystems ist. Auch doppelt und dreimal so hohe Dosierungen können bei einem starken Mangel sinnvoll sein. Als Gegenanzeige kann man die genannten Symptome nutzen und wer auf Nummer Sicher gehen möchte, lässt seine Werte alle drei Monate messen und passt gegebenenfalls die Dosis an.

Natriumselenit ist eine anorganische Form, die sich in der Praxis gegenüber organischen Formen wie Selen-Methionin und Selen-Hefen als flexibler und einfacher erweist. Die organischen Formen werden schnell in Proteine eingebaut und stehen dann für andere Vorgänge nicht mehr zur Verfügung. Die anorganische Form ist wasserlöslich, das vereinfacht die Dosierung weiter und gestaltet auch die Arbeit mit den Blutwerten genauer.

Auch bei niedrigen T3-Werten erweist sich die Dosierung mit 200 µg Natriumselenit pro Tag häufig als gute Lösung.

Eine Quecksilberbelastung kann den Selenbedarf deutlich erhöhen und entsprechend hohe Dosierungen erfordern.

Künftig wird man den Selenstatus wohl vermehrt am sogenannten Selenoprotein P festmachen, das noch genauere Rückschlüsse über die Selenversorgung zulässt. Dieser Biomarker misst direkt das bioverfügbare Selen, zeigt also, ob das Selen wirklich dort ankommt, wo es gebraucht wird.

Sinnvoll ist die Einnahme des Natriumselenit morgens auf nüchternen Magen, zum Beispiel auch zusammen mit Schilddrüsenmedikamenten, jedoch am besten nicht zusammen mit Vitamin C, denn das kann die Aufnahme von anorganischem Selen (Selenit) beeinflussen.

Weitere Wechselwirkungen beziehungsweise Zusammenspiele mit Selen:

  • Jod: Beide wirken zusammen in der Schilddrüse. Ein Mangel an einem kann die Funktion des anderen beeinträchtigen.
  • Vitamin E: Gegenseitige Verstärkung im antioxidativen Schutz. Ein Mangel am einen erhöht den Bedarf des anderen.
  • Zink: Ähnliche Funktionen im Immunsystem und antioxidativen System. Ein Ungleichgewicht kann Prozesse stören.
  • Schwefelhaltige Aminosäuren (zum Beispiel Methionin): Wichtig für die Synthese von Selenoproteinen.
  • Kupfer: Hohe Selenmengen können Kupfer binden und dessen Bioverfügbarkeit senken.
  • Schwermetalle (u.a. Quecksilber, Cadmium): Selen bindet diese. Dadurch sinkt die Bioverfügbarkeit, zugleich unterstützt es die Entgiftung.

7. Zusammenfassung

Das Spurenelement Selen nehmen wir zwar nur in der Größenordnung Mikrogramm auf, doch seine Wirkung auf den gesamten Körper ist gewaltig. Beteiligt ist es an antioxidativem Schutz, Schilddrüsenstoffwechsel und Immunsystem, Muskelstoffwechsel und kardiovaskulärem Schutz, Zellstoffwechsel und mehr.

Eine Überdosierung mit Selen ist zwar möglich – wie mit jeder andren Substanz–, jedoch selten. Eine Unterversorgung ist hingegen in Deutschland viel wahrscheinlicher und die Folgen für die Gesundheit reichen weit und können tödlich sein. Daher kann man durchaus für die Lebenslange Selen-Supple­men­tierung argumentieren.

Angesichts der Datenlagen dürften zwei Drittel der Deutschen an einem deutlichen Selendefizit leiden. Zusätzlich erhöht ist der Bedarf unter anderem bei Schwangeren und Stillenden, Sportlern, Veganern, Vegetariern und Rauchern.

Zu den Folgen eines Mangels gehören eine Schwächung des Immunsystems, Schilddrüsenprobleme, Muskelschwäche und Herzprobleme, Unfruchtbarkeit bei Männern, Wachstumsstörungen bei Kindern, neurologische Störungen und ein höheres Risiko für bestimmte Krebsarten sowie Haarausfall und Hautprobleme.

Eine Supplementierung mit Natriumselenit ist fast immer sinnvoll und in angemessener Dosis hierzulande ungefährlich. Bei deutlichen Defiziten und entsprechender Dosierung bietet sich eine Messung alle drei Monate bis zum Erreichen des Zielwertes an.

Zur Unterstützung bei der Umsetzung stelle ich auch einen Spickzettel für den Alltag als kostenlosen Download zur Verfügung: Spickzettel #3 – Selen.

Yvonne beginnt mit einer Tagesdosis von 200 µg Natriumselenit und da sie es gut verträgt, erhöht sie gelegentlich die Dosis. Schon nach zwei Wochen bemerkt sie eine deutliche Besserung ihres Energielevels. Und: Die überflüssigen Pfunde beginnen zu schmelzen – und das, obwohl sie ihre Ernährung und Sportpensum nicht verändert hat. Doch weil sie endlich mehr Energie hat, bewegt sie sich den ganzen Tag über unbemerkt mehr, schafft mehr im Haushalt, kommt bei ihrer Arbeit besser voran und hat in ihrer Freizeit mehr Saft, um das Leben zu genießen – also verbraucht sie einfach mehr Energie. Der Stoffwechsel läuft endlich rund. Nach drei Monaten lässt sie ihren Selenspiegel messen und sie liegt nun bei 103 µg/l – deutlich besser als vorher, jedoch ist da noch deutlich Luft nach oben.

Fußnoten

  1. Agarwal P, Sharma S, Agarwal US. Selenium toxicity: A rare diagnosis. Indian J Dermatol Venereol Leprol. 2016 Nov-Dec;82(6):690-693. doi: 10.4103/0378-6323.186476. PMID: 27716724.
  2. Liaskos M et al. First review on the selenium status in Germany covering the last 50 years and on the selenium content of selected food items. Eur J Nutr. 2023 Feb;62(1):71-82. doi: 10.1007/s00394-022-02990-0. Epub 2022 Sep 9. PMID: 36083522; PMCID: PMC9899741.
  3. Schomburg L. Selen in der Kardiologie Zeitschrift für Orthomolekulare Medizin 2022; 20(03): 28-31 DOI: 10.1055/a-1923-5831
  4. https://numis.niedersachsen.de/trefferanzeige;jsessionid=338AAD7E8ED66A6784BE88CF726FC557?docuuid=842f6f96-21c2-4246-a1f0-de83c43e5fa1
  5. https://www.gesundheits-lexikon.com/Labormedizin-Labordiagnostik/Spurenelemente/Selen
  6. s.a. Orfanos-Boeckel. Nährstoff-Therapie – Der Praxisleitfaden, 2024, 1. Auflage, TRIAS Verlag, Stuttgart
  7. Thomson CD et al. Brazil nuts: an effective way to improve selenium status. Am J Clin Nutr. 2008 Feb;87(2):379-84. doi: 10.1093/ajcn/87.2.379. PMID: 18258628.