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Restaurants als Bordelle

Knackiges Essen»Das erste Anzeichen ehelicher Probleme ist, wenn Mann oder Frau es anwidert, gemeinsam am Esstisch zu sitzen«, schreibt Richardson Wright 1943 in seinem Bed-Book of Eating and Drinking. Mehr gemeinsame Mahlzeiten am Küchentisch würden »den ehelichen Status stabilisieren. Ich glaube, dass ein Mann nicht um die Bedeutung und Sicherheit einer glücklichen Ehe weiß, bevor er sich selbst eine Mahlzeit gekocht hat.«

Der Gang ins Restaurant zur Befriedigung des Hungers oder des Appetits wäre dem­nach die Flucht aus der Partnerschaft. Eine sinnliche Befriedigung gegen Geld: Eine Art Dienstleistung, wie sie auch im Bordell stattfindet. Das ist keine Wertung, schon gar keine moralische, sondern eine Perspektive. Und sie wird mit einem Blick auf die Qualität umso interessanter, wenn wir ihre Konsequenzen und Implikationen betrachten.

Da wäre der Fokus auf die visuelle Präsentation, ohne den kaum ein Restaurant heute noch auskommt. Nicht erst seit wir die Wirkung spezifischer Anordnungen und Kom­bi­na­ti­o­nen immer konkreter messen können, nutzen Köche die Wirkungen ihrer Zu­ta­ten auf unsere primitiven Triebe. Ein Vorgehen, das wir in unzähligen Magazinen und Kochsendungen beobachten können: Das Essen muss sexy aussehen, die Soße lasziv am Fleisch herunterlaufen und der Salat knackig schimmern.

Der Autor, Poet und Farmer Wendell Berry beschrieb einen solchen Zusammenhang 1989 in The Pleasures of Eating: »Wie industrieller Sex ist industrielles Essen zu einer degradierten, armen und erbärmlichen Sache geworden. Unsere Küchen und anderen Orte des Essens ähneln mehr und mehr Tankstellen, so wie unsere Häuser immer stärker Motels ähneln.«

Auch die Autorin M. F. K. Fisher bezieht sich darauf: »Es ist kaum zu glauben, dass normale Menschen das durchschnittliche Restaurantessen nicht nur tolerieren, son­dern dem Essen zu Hause sogar vorziehen. Die einzig mögliche Erklärung für solch vor­sätz­liche Massenvergiftung, eine Art Suizid des Geistes wie des Körpers ist, dass die Mahlzeiten in der Intimität des familiären Esszimmers oder der Küche unerträglich sind.«

Das mag harsch klingen, überzeugt jedoch umso mehr, wenn wir den Akt des Essens genau betrachten. Was gibt es denn intimeres als die Nahrungsaufnahme? Wir stecken Lebensmittel in uns hinein und schlucken sie herunter, wir verdauen sie, dabei werden sie ein Teil von uns und wir ein Teil von ihnen. Essen wir ein Stück Gemüse, wird dies für lange Zeit Bestandteil unseres Körpers sein. In dieser Hinsicht ist Essen intimer als Sex.

Nahrungsbestandteile beeinflussen unseren Organismus signifikant und unmittelbar. Wir können binnen weniger Stunden die Auswirkungen einer Mahlzeit spüren und uns in kürzester Zeit akut vergiften. Unter diesen Gesichtspunkten ist der Gang zu einem fremden Koch ein extremes Risiko.

Die Einladung eines Fremden an den gedeckten Tisch galt und gilt noch heute vieler­orts als Vertrauensvorschuss oder Bekundung von Zuneigung. Mit wem und bei wem wir essen ist in vielen Kulturkreisen eine intime Entscheidung. »Ein gemein­samer, gesunder Appetit und Wissen über Essen und Kochen sind die Basis für eine gute Beziehung«, meint Richardson Wright in Bezug auf die Ehe.

Der Vergleich von Restaurants mit Bordellen ist unter diesen Gesichtspunkten plau­sibel. Wer es zu Hause nicht bekommen kann oder will, lässt es sich von jemand anderem machen und bezahlt dafür. Hunger, Appetit und Nährstoffbedürfnis lassen sich so zwar befriedigen. Doch selbst, wenn es mit Liebe gemacht ist, lässt sich echte Nähe nicht ersetzen. Diesen Anspruch erheben auch die wenigsten Restaurants.

Und was ist mit den Menschen, die alleine leben? Auch die können sich zu Hause auf die Intimität ihrer Lebensmittel einlassen, sich selbst etwas kochen und sinnlich genießen. Esskultur kann man auch alleine pflegen und es ist eine effektive Praxis zum Erlernen, sich mit sich selbst wohlzufühlen.

Und doch kochen immer weniger Menschen selbst und überlassen dies zusehends fremden Unternehmen. Intimität weicht der Banalität in Form einer aufgerissenen Pappschachtel oder eines mit einer leeren Floskel servierten Tellers. Jedes nachlässig und sozial isoliert eingenommene Mahl ist eine verschenkte Chance, Zeit miteinander zu verbringen.

»Restaurants gibt es unzählige. Was hat das Kochen gewonnen? Ich würde eher sagen, was es verloren hat.« Sieht es so düster aus, wie Charles Monselet 1879 schreibt? Haben Restaurants neben der Dienstleistung als Futterlieferanten gar nichts beizu­tragen? Solange der Seltenheitswert des Selbstkochens zunimmt, wird dieser Dienstleistungssektor zweifelsohne wachsen.

Diese Entwicklung zeigt sich als eine schon heute sichtbare Einöde in Form von Straßen­zügen voller Gastronomiebetriebe. Es wäre nicht halb so traurig, würde nicht ein Großteil dieser als italienisch, griechisch, ägyptisch, mexikanisch oder peruanisch vermarkteten Betriebe das scheinbar gleiche Essen anbieten. Doch der Markt bietet an, was der Markt nachfragt. Denn der Markt, das sind potenziell wir alle. Und wenn wir immer weniger die heimische Esskultur pflegen, dann leidet unsere Sinneskompetenz und wir beginnen, uns selbst zu betrügen. Dann ist egal, wer uns befriedigt, solange es billig ist, schnell geht und wir uns nicht darum kümmern müssen. Dann torkeln wir von der Imbissbude zur Disko und danach ins Bordell.

In der Musik und der bildenden Kunst erlebten wir eine ähnliche Entwicklung. Auf­wändig komponierte und live auf akustischen Instrumenten in der kleinen Kammer vor Freunden vorgetragene Musik auf der einen Seite und am Fließband produzierte, elektrisch vervielfältigte und konservierte Beschallung von 70.000 Menschen gleich­zei­tig auf der anderen. Motive auf Bildern müssen groß und bunt und aggressiv sein, Filme können gar nicht mehr hektisch genug geschnitten sein; Hauptsache, man muss zum Erschließen des Sinneseindruckes nichts tun. Die Stimu­lation bleibt flach und unpersönlich.

Statt den Begriff der Essensgalerie oder gar des Geschmacksmuseums einzuführen, um eine Separation von den reinen Dienstleistern zu erreichen, könnten wir neue Wege gehen. Es gibt spannende Alternativen in Form konvivialer Konzepte wie Dario Cecchinis Solociccia. Im Konvivium (convivere ist lateinisch für Zusammenleben), der Rückbesinnung auch auf die sozialen Aspekte des Essens, fand auch die Slow Food Bewegung ihren Ursprung.

Restaurants (und Bordelle) werden weiter bestehen. Es liegt in unserer Hand, ob sie bloß billige Dienstleistungen bringen oder ihrem jeweiligen Fach wirklich etwas beizu­tragen haben. Ein Restaurant kann dem Gast zeigen, was Esskultur, Aroma, liebevolle Zubereitung und Tradition sein kann (analoges gilt sicherlich für Bordelle).

Das können diese Betriebe aber nur, wenn die Gäste einen Qualitätsanspruch haben, eine Sinneskompetenz, ein zumindest grundlegendes Verständnis des Handwerks und ein Interesse an ihrer eigenen Kultur und Tradition. Kurz: Wenn ihr Ziel nicht allein die Befriedigung primitiver Triebe ist.

Die Lösung zur Verbesserung der Restaurants ist somit kurioserweise, sie viel seltener zu Besuchen und stattdessen viel mehr selbst zu kochen. Denn nur wer viel selbst und sorgfältig kocht und aufmerksam isst, wird ein guter Koch. Er legt die Messlatte hoch und fordert das Restaurant heraus. Kann der Koch ihn dann überraschen oder über­zeu­gen, könnte dies einen Dialog starten.

Das Kochen ist keine Kunst. Es ist ein Handwerk, vielleicht ein Kunsthandwerk. Es besteht aus viel manueller Arbeit. Der Berufskoch von heute kann sich entscheiden, ein Arbeiter zu sein und Dienste zu leisten. Und er kann sich entscheiden seine Leidenschaft in das Essen zu stecken. Er kann die Geschichte erforschen, in die Tra­di­tion, die Kultur und die Region eintauchen und so eine Identität finden. Damit kann er seine Gäste und die Gemeinschaft bereichern. (Einen Menschen emotional berühren, eine Verbindung herstellen; für einige ist dies die Definition des Kunst­be­griffs. Eine Rolle spielt es nicht.)

Restaurants können der Masse isolierter Menschen massenweise isolierte Dienste leis­ten und so die Isolation fördern. Oder Köche und Restaurants können Esskultur be­wah­ren und auf Basis von Kultur und Tradition ein Angebot schaffen, das Menschen zusammen­bringt.

Quellen und weiterführende Literatur

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