Katja steht im Badezimmer und ist den Tränen nahe. Sechs Monate hat sie Kalorien gezählt. Ein tägliches Defizit von 300 Kalorien multipliziert mit 180 Tagen ergibt 54000 kcal, das entspricht sechs Kilogramm Fett. Doch die Waage lacht ihr ins Gesicht und zeigt lediglich ein Kilo weniger an als vor einem halben Jahr. Was hat sie falsch gemacht? Muss sie noch mehr hungern, noch weniger essen, noch härter trainieren?
Nichts dergleichen. Katja fehlen nur Informationen. Das Konzept der Kalorienbilanz zum Abnehmen ist mangelhaft. Die Vorstellung »Wer abnehmen möchte, muss weniger Kalorien essen, als er verbraucht« klingt plausibel, setzt jedoch eine sehr einfache und vollständig kontrollierte Maschine voraus. Diese Voraussetzungen erfüllt der Mensch nicht. Neben vielen noch immer unbekannten Faktoren im Körper machen eine Reihe bekannter Wechselwirkungen des Hormonsystems mit Nahrungsmitteln die genaue Bestimmung des Energieverbrauchs unmöglich. Dem gegenüber stehen Listen und Tabellen mit dem Nährwert unserer Lebensmittel, die uns deren Energiegehalt nur vorgaukeln. Dabei fallen wir auf einen der ältesten Tricks der Zivilisation herein: Es steht schwarz auf weiß geschrieben, also muss es stimmen. Doch diese Werte spiegeln nur scheinbar den Energiegehalt der Lebensmittel wider.
Den Energiewert von Lebensmittel messen wir überwiegend in der Einheit kcal, umgangssprachlich Kalorien. Zwei für uns greifbare Einheiten sind der Meter als Längeneinheit und das Kilogramm als Masse. Ein Stück Holz hat eine Größe und ein Gewicht (eine Masse). Beide Werte lassen sich relativ einfach messen. Die Kalorie hingegen können wir im Haushalt kaum nachvollziehen. Tatsächlich ist die Bestimmung des genauen Energiewertes von Lebensmitteln ein schwieriges technisches Problem. Eine direkte, genaue Berechnung ist aufgrund der Komplexität in Zusammensetzung und Struktur und der Unterschiede unserer Verdauungssysteme nicht möglich. Deswegen nehmen Ernährungswissenschaftler Schätzungen vor. Diese basieren auf vereinbarten, nicht perfekten Regeln. Daraus entsteht eine Konvention: das Atwater-System.
Diese Konvention kam anfangs durch Messung und Berechnung pro Gramm Lebensmittel auf Werte von 4 kcal für Protein, 4 kcal für Kohlenhydrate und 9 kcal für Fett. Im Atwater-System ignorierte man ursprünglich unter anderem die leichten Variationen des Energiegehalts zum Beispiel im Protein aus Eiern (4,36 kcal/g) oder braunem Reis (3,41 kcal/g), eine Differenz von immerhin über 25 Prozent. Dementsprechend hat man einige der Listen angepasst. Ähnliche Korrekturen nahm man in Hinblick auf den variierenden Stickstoffanteil der Proteine vor, durch den man deren Anteil am Lebensmittel misst. Unterm Strich wirken sich die Schwankungen dennoch so gering aus, dass viele Ernährungswissenschaftler sie ignorieren. Das Atwater-System ist somit eine flexible Konvention, die ständiger Modifikation unterliegt.
Das Kernproblem des weltweit verbreiteten und akzeptierten Atwater-Systems ist seine reduktionistische Perspektive. Getreu dem Nährstoffismus haben wir durch sie einen Faktor in Zahlen gefasst und dies ohne weiteres Hinterfragen zur Maßgabe erhoben. Dabei ist der Fehler offensichtlich. Die Kalorienzahl kennen wir auch als Brennwert. Grund dafür ist ihre Herkunft. Zum Bestimmen der Kalorienzahl eines Lebensmittels verbrennt man es in einem Kalorimeter. Die dabei gemessene Wärmeenergie gilt als der Brennwert oder Energiewert. Dieser Messvorgang verdeutlicht einen essenziellen Mangel des Kalorienkonzepts: Der Mensch verbrennt keine Nahrung. Er verdaut sie.
Verdauung ist ein Vorgang, eine Aktivität im Körper. Sie kostet Energie. Abhängig von Art und Beschaffenheit des Lebensmittels steigt der Stoffwechsel dabei um bis zu 25 Prozent. Je größer der Proteinanteil, desto höher die Energiekosten der Verdauung. Je größer der Fettanteil, desto geringer die Verdauungskosten. Tierexperimente zeigen: Je härter, zäher, größer die Lebensmittelpartikel, desto Energieaufwendiger die Verdauung. Je größer und kälter die Mahlzeiten, desto höher die Verdauungskosten und so weiter.
Für 100 Gramm Steak haben wir einen festen Brennwert gesetzt. Essen wir dieses Steak roh und am Stück, gewinnt unser Körper daraus jedoch erheblich weniger Energie, als wenn wir es vorher fein hacken und garen. Das ist die Erfolgsbasis jeder Ernährungsumstellung auf weniger stark verarbeitete Lebensmittel, wenn es um das Abnehmen von Körpergewicht geht: Wer sein Essen nicht mehr püriert, hackt, schneidet und kocht, gewinnt aus der gleichen Nahrungsmenge weniger Kalorien, weil seine Verdauung mehr Energie benötigt.
Das Atwater-System geht außerdem davon aus, dass wir immer den gleichen Lebensmittelanteil verdauen. Jedoch wissen wir, dass das nicht der Fall ist. Abhängig ist das vom Grad deren Behandlung. So verdauen wir volle Getreidekörner weniger vollständig als Vollkornmehl, dies wiederum weniger vollständig als weißes Mehl. Auch der Kontext beeinflusst den Energiebedarf bei der Verdauung. Essen wir Protein zusammen mit vielen Ballaststoffen, verdauen wir es weniger vollständig.
Das Atwater-System, welches wir weltweit zur Bestimmung des Energiewertes verwenden und somit die Basis der verbreiteten Kalorienbilanz darstellt, ist demnach unrealistisch. Es liefert ungenaue Werte, die nicht die Realität der Verdauung widerspiegeln.
Aus diesem Grund ist das Konzept der Kalorienbilanz zum Abnehmen für Menschen eine minderwertige und ineffektive Methode. Die Formel als solche ist laut den Gesetzen der Thermodynamik korrekt. Jedoch sind die Variablen (Energiezufuhr und Energieverbrauch) in der Praxis überwiegend unbekannt. Die Kalorienbilanz kann bestenfalls dann zum Abnehmen funktionieren, wenn man eine große Fehlertoleranz einbaut, sprich: Wenn man die Energiezufuhr stark über- und den Energieverbrauch stark unterschätzt. Oder dann, wenn die spezifische Ernährung, also der Verarbeitungsgrad der Lebensmittel, und der individuelle Stoffwechsel, wie etwa der Zustand des Hormonsystems, dem Mittelwert durch Zufall entsprechen.
Die Anwendung der Kalorienbilanz basiert demnach auf Zufall und grober Schätzung. Für viele Abnehmwillige funktioniert sie deswegen nicht. Dass demgegenüber zahlreiche Menschen damit Erfolg hatten und haben, mag dem scheinbar widersprechen. Sicher stärkt es die Plausibilität des Konzepts. Doch Plausibilität ist kein Beweis, wie wir spätestens seit der Erkenntnis wissen, dass die Sonne nicht um die Erde rotiert.
Katja hat sich informiert. Sie versteht nun, wie Nahrungsmittel auf ihren Körper wirken, wie wenig wir eigentlich über den Umgang unseres Körpers mit dem Essen wissen und dass sie mit Zahlenspielen nicht weiterkommt. Statt rohe Gewalt – ein starkes Kaloriendefizit – anzuwenden, isst sie sich wieder an viel Gemüse satt. Sie bleibt aufmerksam und vermeidet einfach, sich zu überfressen. Auch kündigt sie ihre Mitgliedschaft im Fitnesscenter und spart sich wöchentlich die drei zeitaufwendigen Trainingseinheiten in den sterilen, lauten Hallen. Dafür geht sie häufiger stramm spazieren und bewegt sich mehr zwischendurch. Sie findet wieder die Energie zum Treppenlaufen und zwischendurch einfach draußen zu spielen, zum Rennen, Hüpfen und Springen. Und sie hat endlich die Zeit, einen Tanzkurs zu belegen und sich körperlich auszudrücken. Dabei lernt sie ihren Körper kennen und lieben. Und sie begreift, dass ein paar Kilo Fett am Körper weder ein Weltuntergang, noch ein unüberwindbares Problem sind.
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