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Der Wandel des Kochens

Wandel des KochensKochen: Der ewig lästige Schritt vor dem Essen. Seit Anbeginn unserer Zeit versuchen wir, uns das Kochen zu erleichtern. Die Geschichte zeigt klare Trends für die Zukunft. Werden Häuser in der Zukunft über keine Küchen mehr verfügen und stattdessen ein Schrank mit Kühlschrank, Mikrowelle und Spülmaschine ihren Platz einnehmen?

Technische Entwicklungen haben in der Vergangenheit wiederholt unser Koch- und Essverhalten beeinflusst und dabei auch das Zusammenleben verändert. Wo man sich einst um das offene Feuer oder den Ofen in der Küche versammelte, nahm bald ein geschlossener Herd deren Platz ein. Vorbei waren die Abende, an denen wir gemeinsam ins Feuer starrten oder uns in der Küche Geschichten erzählten und austauschten. Unsere Häuser sind längst nicht mehr um die Feuerstelle organisiert.

Seit den 60er Jahren verbringen wir nur noch ungefähr halb so viel Zeit mit dem Kochen: 27 Minuten sind es in den USA täglich im Durchschnitt. Plus 4 Minuten für den Abwasch.

Kochen sollte immer schneller und einfacher gehen. Ehemals schufteten Sklaven und Kinder in den Küchen, heute übernehmen Maschinen viel manuelle Arbeit. Neben unserem Wohnraum müssen wir auch unseren Tagesablauf nicht mehr um den Erhalt des Feuers strukturieren. Wir haben Zeit für andere Dinge und weinen den alten Zeiten diesbezüglich kaum eine Träne nach. Warum sollte sich diese Entwicklung nicht fortsetzen?

Der erste Gasherd kam in Großbritannien im Jahr 1824 auf den Markt. Bis dahin regierten Holz- und Kohleherde, welche sich ihrerseits nur langsam gegen ihren Vorgänger, das offene Feuer, durchsetzen konnten. Erst 60 Jahre später übernahmen die in der breiten Öffentlichkeit als giftiges Teufelszeug verschrienen Gasherde den Markt.

Heute meistert die Mikrowelle eine ähnliche Herausforderung. Viele Berufsköche haben ihren praktischen Nutzen für spezifische Aufgaben längst erkannt und nutzen sie effizient. Auch in über 70% der Privathaushalte hat sie einen festen Platz gefunden, dabei unsere Esskultur verändert und das Essen individualisiert: Jeder kann essen wann er will und was er will. Vorportionierte Fertiggerichte machen es möglich, erzwingen es geradezu. Denn kaum eine Mikrowelle erlaubt das Aufwärmen oder Zubereiten von Essen für mehr als zwei Personen. Setzt sich das Gerät endgültig gegen den Gas- oder Elektroherd durch, ist es vorbei mit dem Familienessen und die Mikrowelle wird die Gesellschaft ähnlich verändert haben wie der Siegeszug des Gasherds 80 Jahre zuvor.

Nur ein schrumpfendes Grüppchen von Zweiflern wehrt sich noch und wirft dem Mikrowellenofen gesundheitliche Risiken vor, ohne überzeugende Beweise. Einige sprechen ihr die ernsthafte Brauchbarkeit zum Kochen ab. Sicherlich kann man in der Mikrowelle ein Steak nicht so anbraten wie auf einem Gasherd. Dass das Resultat anders schmeckt als auf der Vorgängertechnologie, hat aber schon den Gasherd nicht aufhalten können. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann auch dieser Widerstand bricht. Die Erfindung ist erst 70 Jahre alt und das erste markttaugliche Modell erschien 1967. Verglichen mit dem Gasherd bleibt der Mikrowelle zur Vollendung ihres Feldzuges also noch ein Jahrzehnt.

Und doch sehnen wir uns scheinbar nach dem Feuer. Jedes Jahr im Frühling stehen Millionen Menschen sehnsüchtig am Fenster und warten auf den Beginn der Grillsaison. Feierlich fahren sie dann den Grill aus dem Gartenschuppen, laden Freunde und Verwandte ein und starten ein offenes Feuer. Fleisch am offenen Feuer zu grillen, war früher Alltag. Dass ein fachgerecht an der Flamme gegrillter Fleischspieß mit keiner anderen Technologie wie dem Backofen oder der Pfanne zu vergleichen ist, wird jeder Grillfreund ohne Zögern bestätigen. Doch wie viele Menschen kennen noch den Unterschied? Wie lange sind unsere Gärten noch groß genug, können wir uns den Brennstoff noch leisten, wird das Grillen noch erlaubt sein? Wann sinkt die gemein­same Grillfeier auf der Prioritätenliste unter das Gefummel am Smartphone? Wie lange finden wir noch das passende Werkzeug und wer bewahrt das Know-how und die Erfahrung über die Aufrechterhaltung eines guten Feuers? Das Grillen trägt heute zusehends rituelle Züge. Wann ersäuft auch dieser alte Brauch im Fahrwasser der Effizienz?

Mit jedem dieser Entwicklungsschritte verlieren wir auch Geschmäcker und Aromen. Neben dem Geschmack von Fleisch auf Feuer sind heute auch die Aromen alter Obst- und Gemüsesorten kaum noch bekannt. Und die nächste Revolution hat bereits begonnen:

Soylent nennt sich das von einem Programmierer entwickelte Nahrungsmittel auf Sojabasis, welches alle nötigen Nährstoffe enthalten soll. Einfach mit Wasser mixen und trinken, schon ist das lästige Essen erledigt. Zumindest aus Perspektive des Nährstoffismus handelt es sich bei Soylent um eine ganzheitlich vollwertige Mahlzeit. Motivation und Konsum dieses Produkts sind leicht nachzuvollziehen: Nicht jeder macht sich etwas aus Essen und für viele ist es eine lästige Notwendigkeit. Wem Fertiggerichte zu teuer oder zu ungesund sind, der findet in Soylent die optimale Lösung. Der Name bezieht sich auf den Roman New York 1999, erinnert jedoch eher an die darauf basierende Dystopie Soylent Green.

Soylent habe keine Langzeitstudien durchlaufen, lautet eine der vielzähligen Kritiken. Doch das gleiche trifft auf die meisten Fertiggerichte zu. Als Folge liegen anatomische Veränderungen am Menschen nahe, der nun nicht mehr kauen muss und dessen Zähne sicher auch auf die Veränderung reagieren werden. Fatal wird die Auswirkung auf die Sinneskompetenz sein. Wer den immer gleichen Brei trinkt, verliert binnen kurzer Zeit die Fähigkeit zum Schmecken subtiler Aromen und saisonaler Unterschiede.

Die wenigen, die ihrem Essen einen hohen Stellenwert beimessen, werden zu Liebhabern wie heute Kunstsammler oder Musiker. Die sinnliche Welt der kulinarischen Genüsse gerät zu einer ähnlichen Nische wie die der Ölmalerei, des Klavierspiels oder der Poesie. Ein kleiner Teil der Bevölkerung wird noch selbst kochen, teure Gewürze kaufen und seine Freizeit mit dem Kochen verbringen. Wenige davon eröffnen ein Restaurant. In diesem Gallerie-Äquivalent servieren sie Essen für andere Kenner. Kochen reiht sich ein in die lange Reihe kreativer praktischer Fähigkeiten, die ein zusehends kleinerer Teil der Bevölkerung beherrscht oder versteht.

Wer das für abwegig hält, wage noch einen Blick in die Vergangenheit: Noch vor 50 Jahren war es üblich, in den Garten zu gehen, ein Huhn zu packen, zu töten, zu rupfen, auszunehmen und vollständig zu kochen. Heute scheint das für die meisten Menschen unvorstellbar und geradezu abstrus. Jeder weiß doch, dass Fleisch in Plastikschalen im Supermarkt wächst.

Unsere Entwicklung zeigt seit Jahrhunderten klare Pfeile:

  • Wir verbringen immer weniger Zeit in der Küche.
  • Wir erleben immer geringere geschmackliche Vielfalt.
  • Wir haben immer weniger Kontakt zur Natur.
  • Wir verbringen trotz wachsender Bevölkerungen immer weniger Zeit miteinander – besonders beim Essen.

Kurz: Unsere Wertschätzung des Essens und der Esskultur sinkt.

Soylent und die Mikrowelle sind keine Teufelswerke, sondern die Antworten auf bestehende Ansprüche und Wünsche. Sie sind logische Folge gesellschaftlicher Verän­derung auf der einen und Ursache für weitere Veränderung auf der anderen Seite. Sie zeichnen keine schreckliche Zukunftsvision, die wir verhindern müssen. Sie fördern lediglich eine wahrscheinliche Änderung unseres Essverhaltens und unserer Gesellschaft.

Glücklicherweise hat jeder einzelne von uns die Wahl, an diesem gesellschaftlichen Trend teilzunehmen oder beim Alten zu bleiben. Die Lösung scheint einfach: Sich bewusst und achtsam mit dem Essen und dessen Herkunft – geografisch wie geschichtlich – befassen. Selbst kochen.

Die zentrale Frage lautet dabei weiterhin: Was und wie und mit wem möchte ich essen? Das kann Soylent sein, das kann aus der Mikrowelle kommen, das kann allein am Schreibtisch sein. Solange man sich dieser Wahl bewusst ist, sie bewusst trifft und Klarheit über die Konsequenzen herrscht, besteht kein Konflikt. »Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers«, ist ein jahrhundertealter Aphorismus ungemeiner Treffsicherheit. Er zeigt uns den Stellenwert und die Chancen des Loslassens – und entbehrt im Falle der Mikrowelle nicht einer gewissen Ironie.

Was können wir verlieren?

  • Einen weiteren Interaktionspunkt mit der Natur, weil wir weniger frische Lebensmittel verarbeiten und weniger über deren Herkunft wissen.
  • Kunst- und Fachwissen, denn wenn wir es weniger anwenden, fehlen uns Praxis und Erfahrung.
  • Genuss und Sinneskompetenz, denn je weniger Vielfalt wir erleben, desto weniger lernen wir zu erkennen.
  • Einen Ort der sozialen Interaktion, die Küche und den Esstisch als Mittelpunkt des Familienlebens.

Was können wir gewinnen?

Was davon tatsächlich eintritt, hängt allein von uns ab. Soylent und die Mikrowelle, als zwei Symbole der Entwicklung, sind lediglich technische Entwicklungen. Werkzeuge. Wir können sie destruktiv nutzen, die gewonnene Zeit mit passivem Medienkonsum verbringen, fett werden und den gewonnenen Raum mit noch mehr Ramsch füllen, während wir die lästigen Details über das Essen vergessen und unsere Sinne mit Massenware betäuben.

Oder wir können das Kochen in die sorgsamen Hände derer legen denen es zutiefst am Herzen liegt und die es bewahren. Wir können die gewonnene Zeit nutzen, Lösungen für die Probleme dieser Welt zu erarbeiten. Wir können sie in der Natur verbringen oder miteinander oder beim ruhigen und bewussten Erleben unserer Sinneseindrücke. Am besten alles zusammen. Den Raum können wir nutzen, um anderen Menschen etwas abzugeben und selbst einfach weniger zu verbrauchen.

Die Welt verändert sich. Wir können sie nicht aufhalten. Aber jeder einzelne kann die Veränderung mitgestalten. Im eigenen Leben, vor der eigenen Tür, mit den eigenen Mitmenschen.

Quellen und weiterführende Informationen:

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