Dieser Artikel ist auch als Podcast bzw. Netcast zum Anhören verfügbar: Sollten wir Milch trinken? (Urgeschmack-Podcast #21)
Milch in der Ernährung des Menschen bleibt ein umstrittenes Thema. Gesundheitlich zeigen sich sowohl mögliche Vorteile als auch potentielle Probleme. Die Diskussion um die A1/A2-Problematik zeigt, wie dringend nötig eine Differenzierung ist. Eine pauschale Abwertung von Milch und Milchprodukten wird der Realität offensichtlich nicht gerecht. In diesem Artikel geht es um zwei weitere, häufige Argumente gegen den Verzehr von Milch. Sollten wir Milch trinken?
Argument #1: Die normalerweise übliche Laktoseintoleranz im Erwachsenenalter bedeutet, dass wir keine Milch trinken sollten
Laktose ist der Milchzucker. Um ihn verdauen zu können, ist das Enzym Laktase nötig. Alle neugeborenen Säugetiere verfügen über Laktase, deren Aktivität allerdings im Laufe der Entwöhnung stark sinkt. Erwachsene verfügen nur noch über wenig Laktase und entwickeln somit eine natürliche Laktoseintoleranz. Unvollständig verdauter Milchzucker kann dann zu Blähungen und Durchfall führen.
Außerhalb Europas ist die Laktoseintoleranz so weit verbreitet, dass sie oft nicht als Nahrungsmittelunverträglichkeit gilt. Stattdessen ist dort die Laktasepersistenz, also das Fortbestehen einer hohen Laktaseaktivität eher die Seltenheit.
Denn in der Regel sind nur Bevölkerungen, die schon sehr lange Milchwirtschaft betreiben, durch eine genetische Mutation in der Lage, Milchzucker auch im Erwachsenenalter zu verdauen. Das bedeutet: Der Mensch hat die Fähigkeit, Milch anderer Tiere zu nutzen, erst in den letzten rund 10 000 Jahren erworben – darauf deuten auch archäologische Befunde hin.
Ist das ein Argument für den Milchverzicht? Kaum. Gerade die Tatsache, dass sich die Laktasepersistenz durchsetzt, zeugt von ihrer Vorteilhaftigkeit. Das ist das Prinzip der Evolution. Milch und Milchprodukte sind reich an Nährstoffen. Es ist alles andere als abwegig, dass ihr Verzehr einen Vorteil bietet.
Und warum entwickelt sich dann überhaupt nach dem Säuglingsalter eine Laktoseintoleranz?
So vorteilhaft das Stillen auch ist, irgendwann muss das Jungtier entwöhnt werden. Denn die Mutter kann nur eine begrenzte Milchmenge produzieren und optimalerweise setzt sie mehr als nur ein Kind in die Welt. Nur so kann der Fortbestand der Spezies gesichert werden.
Das Jungtier bekommt also ab einem bestimmten Zeitpunkt keine Milch mehr, dementsprechend auch keine Laktose. Wer keine Laktose isst, benötigt auch das Enzym Laktase nicht. Ein weiteres Prinzip der Evolution zeigt, dass sich unnötige oder dem Überleben nicht hilfreiche Eigenschaften zurückbilden. Und so lässt sich auch der Ursprung der Laktoseintoleranz im Erwachsenenalter erklären. Sie ist demnach die Folge einer veränderten Ernährung – nicht die Ursache.
Argument #2: Kuhmilch ist für Kühe da. Sie ist nicht für den Menschen gemacht.
Richtig ist, dass biologisch gesehen Kühe Milch für ihre Kälber produzieren. Haben sie kein Kalb, produzieren sie auch keine Milch. Evolutionsbiologisch scheint es ein guter Weg zu sein, dass Mütter ihre Kinder in den ersten Lebensjahren oder -monaten säugen. Die Natur hat also die Kuh nicht so entwickelt, dass sie Milch für den Menschen produziert. Einige Gegner des Milchverzehrs argumentieren deshalb, die Milch sei allein deswegen nicht für den Menschen geeignet. Dies wirft jedoch die Frage auf, was der Mensch sonst essen sollte, denn:
Welches Nahrungsmittel ist „für den Menschen gemacht“?
Sicherlich hat die Natur auch Rinder, Vögel und Fische nicht entwickelt, nur damit der Mensch sie essen kann. Sie sind also auch „nicht für ihn gemacht“. Folgte man der Logik der oben genannten Milchgegner, dürfte der Mensch generell keine Tierprodukte essen.
Und auch die Pflanzenwelt produziert ihre Früchte nicht speziell für den Menschen. Genauso wächst Gras nicht nur, um Kühe zu ernähren und Ameisen leben nicht nur als Futter für den Ameisenbären. Auch ist der Mensch nicht das einzige Tier, das andere Tiere melkt: Ameisen halten und melken Blattläuse.
Der Mensch ist jedoch ein Opportunist und ein Omnivore. Das sind zwei Eigenschaften, die zu seinem Erfolg als Spezies beitragen. Hinzu kommt seine Intelligenz und in der Folge die Fähigkeit, seine Umgebung so zu gestalten, dass er das jeweils beste für sein Überleben daraus machen kann (dass es ihm dabei stellenweise an Weitsicht mangelt, sei ihm verziehen).
Die Tatsache, dass die gemeine Kuh ihre Milch also ursprünglich nicht spezifisch für den Menschen produziert, kann daher kein Argument sein, sie als Mensch nicht zu trinken.
Moralisch ist dieses Argument sicherlich wesentlich gewichtiger: Denn Kuhmilch wird eben für Kälber produziert und wenn der Mensch sie trinkt, dann bekommen die Jungtiere weniger oder nichts mehr.
In der industriellen Produktion bekommen die Kälber stattdessen einen Futtermittelersatz. Einige kleine, handwerklich arbeitende Betriebe melken nur einen Teil der Milch zur Weiterverarbeitung und sorgen dafür, dass die Jungtiere noch genügend Muttermilch abbekommen. Auch ethisch besteht daher in diesem Punkt zumindest grundsätzlich kein Problem mit dem Verzehr artfremder Milch.
Fazit: Sollten wir Milch trinken?
Die Evolution scheint dem Menschen sagen zu wollen, dass er mit dem Verzehr von Milch gar nicht so verkehrt liegt: Ein Massensterben nordeuropäischer Bevölkerungen durch Milchkonsum ist kaum abzusehen. Solange die zuvor diskutierten Probleme hinsichtlich der Milchqualität Beachtung finden, spricht offenbar nichts gegen die Fortsetzung dieses Verhaltens.
Als eine der derzeit einflussreichsten Spezies des Planeten ist es allerdings vermutlich ratsam für den Menschen, bei der Produktion seiner Lebensmittel nachhaltige Praktiken anzuwenden, um sich auch in Zukunft noch ausreichend mit Nahrungsmitteln versorgen zu können.
Quellen und weiterführende Informationen:
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