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Kein Trigger: Über den Umgang mit unangenehmen Reizen | Mentale Gesundheit pflegen und erhalten

»Wenn mein Freund die Klobrille nicht runterklappt, dann triggert mich das!« nörgelt Xenias Freundin Isabelle. Und Xenia erwidert: »Und mich triggert das voll, wenn meine Mutter staubsaugt oder die Abzugshaube einschaltet. Und wenn mein Kollege im Büro schmatzt.« Trigger. Den Begriff hört man immer häufiger – besonders von Menschen, die nicht den Mut finden, Störenfriede anzusprechen und so Probleme auszumerzen, statt sich immer wieder daran zu stoßen. Durch ihre Aussagen und die Betitelung jeglichen Ärgernisses als Trigger schaden sich die beiden allerdings selbst, sie berauben sich jeglicher Lösungswege und verhalten sich respektlos gegenüber den Opfern zum Beispiel schwerer Gewalt.

Ein Begriff wird falsch benutzt. Das triggert mich. Oder doch nicht?

In dieser Episode geht es nicht um Wortklauberei, sondern um den sinnvollen Umgang mit störenden Reizen und damit um mentale Gesundheit, Respekt und Rücksichtnahme. Was geschieht, wenn dich etwas stört? Stellst du dich nur an? Ich erläutere, warum man sich sogar anstellen muss, wenn man gesund bleiben möchte. Was geschieht, wenn man den Begriff Trigger falsch verwendet? Wie kann man besser mit solchen Situationen umgehen und einen gesunden Umgang mit störenden Reizen lernen?

Was ist ein Trigger?

Ein Trigger ist in der Psychologie ein Reiz, der eine starke oder unerwartete emotionale Reaktion in Form intensiven Wiedererlebens eines vergangenen Erlebnisses oder früherer Gefühlszustände verursacht. Das kann so stark sein, dass die betroffene Person sie nicht als Erinnerung erkennen kann und sie als aktuelles Ereignis erlebt. Das kann das Wiedererleben eines vergangenen Traumas sein.

Also: Nicht alles, was dich stört, ärgert oder aufregt, ist ein Trigger. Der Begriff ist in diesem Kontext reserviert für ein spezifisches Ereignis mit einer schweren Auswirkung. Wenn deine Frau dich Hasi nennt, deine Mutter dir quer durch den Supermarkt hinterherruft oder dein Vater die Musik aus dem Autoradio mitsingt, sind das keine Trigger.

Du bist nicht getriggert, sondern du stellst dich an

Wenn du dich ärgerst, an etwas störst oder dich aufregst, dann ist das deine Reaktion auf einen Reiz. Es ist deine Entscheidung, wie diese Reaktion ausfällt. Das stellte schon der antike Philosoph Epiktet vor rund 2000 Jahren fest: Es kommt nicht darauf an, was dir widerfährt, sondern, wie du darauf reagierst.

Deine Reaktionen auf die Außenwelt sind genau wie deine Emotionen allein deine Aufgabe. Niemand kann dich zwingen, einen anderen Menschen zu lieben oder zu hassen. Die Kontrolle liegt bei dir. Das gibt dir die Macht zur Unverwundbarkeit gegenüber Beleidigungen oder verbalen Verletzungen. Beleidigen kann man dich nur, wenn du dich beleidigen lässt – auch das hat bereits jemand in der Antike formuliert, nämlich Marcus Aurelius: Entscheide dich, nicht verletzt zu sein – und du wirst dich nicht verletzt fühlen.

Diese Perspektive empfinde ich als äußerst lehrreich, denn sie lenkt meinen Blick weg von dem, was mir womöglich an anderen Menschen nicht gefällt hin auf das Königreich in mir: Hier bin ich Souverän.

Der schmatzende Tischnachbar; der Junge, der mit weit geöffnetem Mund kaut; die 13-jährige Tochter, die mit ihrer Frage »Kann ich Nüsse?« ihre mangelnde Fähigkeit zur Satzbildung demonstriert; die stinkende Frau im schmutzigen Jogginganzug an der Kasse vor mir; das tendenziöse Gewäsch in der Tagesschau; der Raucher vor dem Krankenhauseingang: Das kann mich ärgern, stören oder aufregen. Meine Fußnägel können sich bis in die Knie hochrollen.

Oder es kann mich kaltlassen. Solche Unberührtheit erfordert allerdings die Fähigkeit zum Filtern – und Filtern kostet Kraft: Das Schmatzen »einfach« ausblenden kann schlichtweg nicht jeder. Die einen müssen sich stärker konzentrieren, andere brauchen Ohropax und wieder andere können einfach nur wegrennen. Das ist einfach so: Menschen sind je nach Sinn unterschiedlich sensibel – und an dieser Grundsensitivität kann man nicht viel ändern. Für mich gilt: Ich kann einem Gespräch nur schwer folgen, wenn irgendwo im Raum ein zweites läuft, egal wie leise. Ich kann es nicht filtern. Meinen Ohren entgeht nichts.

Ein feiner Geschmackssinn ist toll, wenn man sich an mehr Details als alle anderen Menschen erfreuen kann – zugleich ist er eine Last, wenn jeder kulinarische Makel stärker ins Gewicht fällt. Man kann solch sensiblen Menschen vorwerfen, sie stellen sich an. Und das stimmt natürlich. Wenn ich um den mit weit geöffnetem Mund schmatzenden Jungen im Supermarkt einen großen Bogen mache, stelle ich mich auf gewisse Weise an, im weitesten Wortsinne: Ich stelle mich auf eine bestimmte Weise an, wie es vielleicht jemand anders nicht tun würde. Warum?

Weil der Rüpel mich sonst Energie kostet, denn Anblick und Geräusch kosten mich Kraft. Damit so etwas nicht passieren muss, haben wir Dinge wie Tischmanieren und andere Umgangsformen entwickelt. Heute gelten die zusehends als verpönt, weil es wohl eine Zumutung sei, seinem Kind jegliche Verhaltensregeln mitzugeben, da es alle Freiheiten der Welt genießen aber bloß nicht die zugehörigen Pflichten erfüllen soll. Wer seinem Kind solche Regeln nicht konsequent mitgibt, lehrt es: Du brauchst auf andere Menschen keine Rücksicht nehmen. Das fördert eine Welt, in der sich immer mehr Menschen nicht wohlfühlen.

Schließen wir den Exkurs zu unangenehmen Reizen damit ab: Jeder akzeptiert, dass Menschen Schmerz unterschiedlich stark empfinden. Das ist einfach so. »Frauen leiden generell häufiger unter (fast!) allen Arten von Schmerzen als Männer. Sie weisen zudem eine höhere Schmerzempfindlichkeit und eine niedrigere Schmerzschwelle auf,« schreibt auch die Deutsche Schmerzgesellschaft.1 Solche Unterschiede im Schmerzempfinden gibt es auch zwischen Individuen. Das gleiche gilt für alle Reize: Laute Geräusche, unangenehme Gerüche, der Anblick von Erbrochenem, Fäkalien oder Blut – das empfinden Menschen unterschiedlich und natürlich stellen sie sich daraufhin in unterschiedlicher Weise an. Sie verhalten sich unterschiedlich. Sie reagieren unterschiedlich.

Natürlich gibt es affektiertes Verhalten, also gezierte oder gekünstelte, übertriebene Reaktionen auf bestimmte Reize. Affiges Gehabe. Und das sollte man sich sparen. Es genügt, wenn du dich vor dem Kothaufen ekelst oder die stinkende Person widerlich findest – du musst es nicht noch für die ganze Welt betonen, ausrufen, laut bekunden und theatralisch gestikulieren. Das dient niemandem und verdeutlicht nur deine Unsicherheit.

Zurück zur Souveränität über Reaktionen auf Reize. Ganz gleich wie unverschämt, respektlos oder rücksichtslos ich das Geschmatze meines Tischnachbarn oder den offenen Mund des Gegenübers finde: Wie ich darauf reagiere, entscheide ich. In der Regel kann man auf mehr als eine Weise reagieren. Um Rücksichtnahme bitten, auf die Anstandsregeln verweisen, sich die Ohren zuhalten, nicht hinschauen oder weggehen. Darf ich mir wünschen, die Welt wäre anders und alle würden sich an traditionelle Anstandsregeln halten, immer Rücksicht nehmen und Höflichkeit walten lassen? Klar. Das ist allerdings nicht die Realität und eine solche Welt fordert den Preis einer gewissen Starrheit, der auch nicht jedem Individuum gerecht würde.

Wenn du gesund bleiben möchtest, musst du dich anstellen

Ich esse keinen Fast-Food-Burger; esse in der Regel bei Familientreffen keine Kekse oder andere Süßigkeiten; lehne Einladungen nach 18 Uhr in der Regel ab; bestehe darauf, morgens mein Krafttraining zu machen; meide Gespräche über Politik. Dafür habe ich gute Gründe, die allesamt mit meinem Wohlbefinden und meiner Gesundheit zu tun haben. Man könnte sagen: Der Felix stellt sich an. Und das stimmt. Ich stelle mich auf eine bestimmte Weise an, betreibe einen gewissen Aufwand, um spezifischen Dingen aus dem Weg zu gehen, die andere einfach hinnehmen. Ich bin konsequent beim Verfolgen meiner Ziele. Ich lebe mein Leben. Täte ich das nicht, würde ich also einfach alles hinnehmen, was mir Unwohlsein bereitet, würde das Spannungen erzeugen. Damit würde ich gegen meine Werte verstoßen, meine Integrität beschädigen und krank werden. Und das Ausfiltern der unerwünschten Reize kostete mich Energie, die mir dann nicht mehr zur Verfügung steht.

Eine andere Perspektive auf das Sich-Anstellen: Wenn du spazieren gehst und einen Hundehaufen vor die auf der Straße siehst, unternimmst du einen Aufwand und gehst drum herum oder steigst darüber hinweg. Du stellst dich auf eine bestimmte Weise an und gehst damit der von dir empfundenen Unannehmlichkeit aus dem Weg. Du stellst dich an. Du könntest ja auch einfach normal weitergehen und gegebenenfalls in den Haufen treten. Was stellst du dich so an?

Ich denke, es steht mir nicht zu, den Rotzlöffel im Supermarkt zu konfrontieren, der mit weit offenem Mund vor sich hin schmatzt. Ich bin ja nicht die Sittenpolizei und denke mir: Leben und leben lassen – auch wenn ich es so drehen kann, dass mein Gegenüber mich in dem Moment eben nicht leben lässt, sondern mich belästigt. Allerdings ist bei der Bewertung dieses schmalen Grats zwischen individueller Freiheit und Belästigung das gesellschaftliche Barometer definitiv nicht auf meiner Seite.

Offene Konfrontation ist für mich keine Option, auch weil mir meine Kraft dafür in diesem Fall zu schade ist (es ist eine einmalige Begegnung, die Konfrontation würde mir kaum nutzen). Und auf das Niveau passiv-aggressiver Bemerkungen möchte ich mich nicht herablassen. Das lässt mir zwei Optionen:

  1. Ich ärgere mich bis zur Weißglut über diesen Affen – damit schade ich mir. Wütend auf jemanden sein ist, als würde man Gift trinken und hoffen, dass der andere daran stirbt. Diese Option kommt dem Tritt in den Hundehaufen gleich.
  2. Oder ich gehe ihm aus dem Weg. Man könnte sagen: Ich gebe nach; ich betreibe Aufwand weil ich den Bogen um ihn mache; ich zahle den Preis. Dafür bekomme ich allerdings nicht nichts, sondern meinen Frieden. Der ist mir viel Wert. Sollte er so teuer sein? Nein. Es sollte kein Hundekot auf dem Gehweg liegen. Aber in dieser Welt, in der immer mehr Eltern Manieren und Erziehung ihrer Kinder als optional erachten und die Gören schmatzen, schlürfen, schlingen und schniefen, geht es nicht anders. Oder man zieht in eine dünn besiedelte Gegend.

Wer einen Reiz wie Schmatzen oder üblen Körpergeruch empfängt, hat also eine ganze Handvoll von Möglichkeiten zur Reaktion. Optionen. Souveränität. Man kann höflich um Rücksicht bitten oder konfrontieren oder aus dem Weg gehen. Oder alles nacheinander. Jedenfalls muss man sich nicht ärgern, aufregen oder daran stören. Wer an dieser Stelle allerdings sagt (oder denkt) »Das triggert mich«, begeht einen Fehler, schadet sich selbst und ist respektlos. Warum?

Was geschieht, wenn du den Begriff Trigger falsch verwendest?

Die Bedeutung von Trigger ist genau definiert, auch für den nun etablierten Kontext: Ein Trigger ist ein Reiz, der eine starke oder unerwartete emotionale Reaktion in Form intensiven Wiedererlebens eines vergangenen Erlebnisses oder früherer Gefühlszustände verursacht. Beispiele (Vorsicht, ich umreiße emotional unter Umständen aufwühlende Szenarien – lies gegebenenfalls im folgenden Absatz weiter oder spule 25 Sekunden vor): Ein Vergewaltigungsopfer kommt fünf Jahre nach diesem Ereignis in eine Situation, in dem es sich sexuell bedrängt fühlt; ein Vater konnte sich bei einem Autounfall als einziger aus dem brennenden Auto retten und musste hilflos mitansehen, wie seine Familie den Flammen zum Opfer fällt – Jahre später hört er ähnliche Schreie; ein ehemaliger Soldat, der intensive Kampfeinsätze erlebt hat und unter posttraumatischer Belastungsstörung leidet, hört in einem Film intensiven Beschuss.

Die Wirkung des Triggers kann so stark sein, dass die betroffene Person sie nicht als Erinnerung erkennen kann und sie als aktuelles Ereignis erlebt. Das kann das Wiedererleben eines vergangenen Traumas sein.

Nicht jeder, der solche brutalen Situationen erlebt hat, erlebt diese Reize als Trigger. Doch wer sie so erlebt, hat darüber keine Kontrolle. Es ist eben keine souveräne Reaktion wie mein Umgehen des schlecht erzogenen Flegels oder des Hundehaufens oder das Konfrontieren des schmatzenden Tischnachbarn.

In der Sprache haben wir nicht immer, aber oft präzise Begriffsdefinitionen. Getriggert sein ist ziemlich gut abgegrenzt von sich ärgern oder sich gestört fühlen oder auch im übertragenen Sinn allergisch reagieren – zum Beispiel wenn der 13-jährige Sohn auch nach der 500sten Ermahnung noch immer in die Babysprache zurückfällt, wenn er Mist gebaut hat. Das ist kein Trigger. Es nervt, es mag sich respektlos anfühlen, man mag sich ohnmächtig fühlen. Aber es ist eindeutig kein Trigger, denn es ist kein intensives Wiedererleben eines vergangenen Erlebnisses. Ein Trigger ist eine unfreiwillige, drastische und unangenehme Einschränkung.

Diese unangemessene Nutzung der Phrase »das triggert mich« ist aber nicht einfach nur sachlich, inhaltlich falsch – denn das könnte dem Nutzer gleichgültig sein, wenn er ein Laie ist und ihm solche Themen schlicht egal sind. Wenn Xenia den Begriff so inflationär nutzt, schadet sie sich selbst aus mehreren Gründen:

Sie beschränkt ihre Freiheit durch einen unzutreffenden Glaubenssatz. Wenn Xenia sagt »Das Geschmatze meines Bruders triggert mich« und sich daraufhin zur Weißglut ärgert, dann gibt sie die Kontrolle aus der Hand. Sie begibt sich in die passive Position und suggeriert, ihre Reaktion auf das Schmatzen läge nicht in ihrer Hand. Wenn sie die Reaktion aus der Hand gibt, beschränkt sie ihren Handlungsspielraum und damit ihre Freiheit. Dieser dauerhafte Blick durch die Trigger-Brille beschränkt ihr ganzes Leben, weil sie ihren Alltag und entsprechende Anlässe so plant, dass ihr vermeintlicher Trigger ausbleibt. Das ist eine Art von Voreingenommenheit, ein einschränkender Glaubenssatz.

Das gilt im Übrigen nicht nur für den Begriff Trigger, sondern für alle derartigen Aussagen, denn sie sind absolut – oft in Zusammenhängen, die das Leben weiter einschränken. Wer als Kind oder Jugendlicher sagt »Bananen finde ich ekelig!« oder »Ich hasse Metal Musik!« und diese Urteile (Glaubenssätze) nie anzweifelt, sondern seinen Geschmack als gegeben und unveränderbar betrachtet, nimmt sich viele Gelegenheiten zur Entdeckung oder Erweiterung des Horizonts. Der Geschmack einer Banane ist eine Sache, wie man darauf reagiert, eine ganz andere.

Sie macht sich krank. Wenn Xenia in ihrer Voreingenommenheit jedes Geschmatze schon im Vorfeld als Trigger bezeichnet, setzt sie ein Kette von Ereignissen in Gang, die ihrer Gesundheit schadet. Sie erwartet, dass das Schmatzen sie zutiefst stört, sie hört das Schmatzen und stört sich zutiefst daran und kocht daraufhin innerlich. Obwohl sie Alternativen hätte (Ohropax, Konfrontation, aus dem Weg gehen), wählt sie die Option innere Weißglut und macht das Schmatzen zu einem starken Stressor, der sie belastet. Aus dieser Gewohnheit gerät jedes kleinste Schmatzgeräusch zum Stressor, jede Mücke zum Elefanten. Die Belastung macht krank

Sie macht sich zum Opfer. Xenia mag die Rücksichtslosigkeit des Schmatzens als überdurchschnittlich unangenehm und störend empfinden. Es mag drohen, sie aus der Fassung zu bringen. Doch anders als das Opfer eines Triggers stehen ihr Alternativen zur Verfügung. Ihre Reaktion ist nicht unfreiwillig, sie kann etwas tun und ihre Souveränität wahren. Sich die Ohren zuhalten, um Rücksicht bitten, aufstehen und gehen oder, wenn all das nicht wirkt: Die Situation als Übung zur Meditation oder Gelassenheit, jedenfalls als Herausforderung betrachten. Sie ist kein Opfer. Wer sich unnötig in die Opferrolle begibt, gibt die Kontrolle ab – auch das ist ein krankmachender Stressor – und sieht auch in anderen Situationen weniger Lösungswege aus eigener Kraft. Das reduziert die Selbstbestimmung und Zufriedenheit.

Sie verharmlost die Folgen, unter denen Traumatisierte leiden. Xenia neigt dazu, jedes unangenehme Ereignis, Gespräch oder Erlebnis als Trauma zu bezeichnen. »Der Streit mit meiner Mutter hat mich voll traumatisiert«, wäre eine typische Aussage von ihr. Damit trivialisiert sie die Folgen, unter denen tatsächlich traumatisierter Menschen leiden, etwa Opfer von schwerer häuslicher Gewalt, Krieg oder Folter. Diese inflationäre Nutzung gilt auch beim Begriff Trigger: Wer jeden Hasenfurz als Trigger bezeichnet, trivialisiert letztlich die Opfer tatsächlicher Trigger und das ist respektlos.

Das bedeutet: Wer einen Begriff wie Trigger oder Trauma unzutreffend verwendet, fügt mindestens sich selbst massiven Schaden zu. Dieses Verhalten schränkt die Handlungsfreiheit ein, verursacht Stress und bremst die eigene Entwicklung.

Was kann Xenia besser machen?

Es schadet selten, wenn man sich mit Psychologie befasst. Wie bei jedem Gesundheitsthema läuft man allerdings Gefahr, falsche Diagnosen und Selbstdiagnosen zu stellen. Bei Begriffen wie Trigger kommt hinzu, dass Laien sie falsch in den alltäglichen Sprachgebrauch übernehmen. Ja, Sprache lebt und Sprache entwickelt sich. Doch jeder kann und sollte diese Entwicklung bewusst mitgestalten und dabei auch die Auswirkung des eigenen Beitrags beachten. Es dient niemandem, wenn wir die Bedeutung eines Nein einfach zu einem Vielleicht oder gar Ja umdeuten. Für ein friedliches Miteinander benötigen wir eine gemeinsame Sprache und darin gelten Grenzen und Definitionen. Ein Ärgernis ist kein Trigger. Ein Tritt in einen Hundehaufen ist kein Trauma. Wer diese Dinge verwechselt, ist mindestens gedankenlos, und muss sich den Vorwurf der Trivialisierung schwerer Gewalt gefallen lassen.

Gedankenlosigkeit – das erinnert an mangelnde Reflexion. Genau da könnte Xenia ansetzen: Im Grunde leidet sie unter einem beschränkten Vokabular. In dem Moment wenn sie sich der hässlichen Fratze des mit weit geöffnetem Mund gähnenden oder kauenden Jungen gegenübersieht, gehen ihr ein halbes Dutzend Gefühle durch den Kopf: Ekel, Wut, Abscheu, Empörung, Enttäuschung, Abneigung. Diese Flut überwältigt sie. Sie verliert sozusagen die Kontrolle. Das verursacht ihre Kurzschlussreaktion. Sie kocht innerlich und das erste Wort, das ihr in den Sinn kommt ist: Trigger. Das hilft weder ihr, noch ihrer Umwelt. Stattdessen nützt es Xenia – und ihren Mitmenschen – wenn sie in einer ruhigen Viertelstunde reflektiert:

  1. Was genau stört mich am Schmatzen? Ist es das Geräusch oder die Person, die es verursacht? Die Rücksichtslosigkeit des Schmatzenden? Oder die Nachlässigkeit in seiner Erziehung, die dahintersteht?
  2. Was genau löst dieses Geräusch aus? Die Antwort darf und sollte mehr sein als die ein oder zwei Silben einer einfachen Emotion wie Wut, Hass oder Ekel sein. Je differenzierter die Beschreibung, desto klarer das Bild dessen, was im Kopf vorgeht. Dieses Verständnis dämpft meist bereits einen Teil des Reizes.
  3. Verursache ich selbst solche Geräusche (oder Gerüche oder Anblicke) und störe ich damit womöglich andere? Ist das Verursachen solcher Sinnesreize vermeidbar? Ganz oder teilweise?
  4. Sollte mich dieser Reiz stören? Wie gehen andere damit um und bin ich vielleicht besonders sensibel bei dieser Art Reiz? Wie groß ist also mein Anteil an diesem Ärgernis? Ist der andere zu laut oder sind meine Ohren zu sensitiv?
  5. Wie reagiere ich am besten in solchen Situationen? Also welche Reaktion verursacht mir und anderen den geringsten Stress? Wenn ich wirklich den anderen als zu rücksichtslos empfinde, inwieweit kann und darf ich ihn darauf hinweisen, wieviel Rücksichtnahme darf ich einfordern? Wenn ich übermäßig empfindlich bin – ganz gleich ob durch grundsätzliche Sensitivität, Schlafmangel, Erschöpfung oder hormonelles Ungleichgewicht –, wieviel Zugeständnis kann und darf ich machen, ohne meine eigenen Grenzen zu verletzen, wie tolerant kann und darf ich sein?

Xenia beantwortet die erste Frage so: »Was mich stört ist einfach die zusätzliche Geräuschbelastung. Ich mag Stille – und jedes zusätzliche Geräusch, vorbeifahrende Autos, Gehämmer in der Ferne, der Rasenmäher des Nachbarn oder eben Schmatzen belastet meine Nerven und erschwert meine Konzentration. Zu einem Teil finde ich es auch rücksichtslos, wenn jemand laut schmatzt, denn das Geräusch wäre einfach zu vermeiden, indem er einfach den Mund schließt. Den Motor extra aufheulen lassen, unnötig mit Spielzeug herumklappern, Dinge absichtlich laut auf den Boden ballern – das ist alles vermeidbar und damit rücksichtslos.«

Zur zweiten Frage fällt Xenia letztlich nur Wut ein. Das malt sie so aus: »Das Schmatzen verbinde ich wohl mit dem Blick in den offenen Mund. Mit offene Mund kauen finde ich unhöflich und respektlos gegenüber anderen Menschen. Diese Rücksichtslosigkeit macht mich in dem Moment sehr wütend. Geräusch und Anblick empfinde ich als eine Überschreitung meiner Grenze. Und dann würde ich am liebsten schreien, mein Gegenüber schütteln oder wegrennen. Diese Wut überfordert mich einfach.«

Die Antwort auf Frage drei fällt Xenia leichter. Natürlich verursacht beim Kauen jeder Geräusche. Alles, was etwas fester ist – ein Stück Fleisch, eine Möhre, Nüsse – muss man gründlich kauen. Wenn man dabei allerdings die Lippen geschlossen lässt, dämmt das den Pegel deutlich. Auch kann man Speichelgeräusche im geschlossenen Mund durchaus eingrenzen. Ganz vermeiden kann man solche Geräusche nicht immer. Doch man muss im Großraumbüro nicht mit offenem Mund eine frische Möhre schmatzen und dabei kundtun: »Ach, das knackt so schön!« (Ja, das durfte ich genau so miterleben.) Jedenfalls kann Xenia ruhig das Zugeständnis machen, dass Essen nicht immer lautlos vonstattengeht – das ist niemandes Schuld, sondern einfach unumgänglich, wenn man sich nicht nur von Brei ernähren möchte.

Auf Frage vier gibt es selten eine klare Antwort. Ist Xenia zu sensibel oder ihr Gegenüber zu rüpelhaft? Man darf sich durchaus umschauen und sehen, wie andere mit dem gleichen Reiz umgehen. Die Folgerung: »Die meisten Menschen haben damit kein Problem, also stellt Xenia sich unnötig an!« wäre jedoch absolut falsch. »Die meisten Menschen« zählen überhaupt nicht. Die meisten Menschen sind normal – und Normal ist nicht gesund. Aus »die meisten Menschen« wird außerdem schnell »die Mehrheit« und die ist schon bei 51 Prozent erreicht. Menschen sind nun einmal verschieden. Die einen empfinden Gerüche intensiver, die anderen Geräusche (dazu gehöre auch ich) und wieder andere können sich nicht wehren gegen das Nachempfinden der Emotionen anderer Menschen. Oberhalb einer definierten Sensitivität können wir dies als Abweichung von der Norm bezeichnen, die Karte der Neurodivergenz zücken und »Autist« rufen – das ändert nichts daran, dass es viele solcher Menschen gibt. Und dass wir deren Fähigkeiten unbedingt benötigen.

Doch selbst mit normaler Empfindsamkeit kann man festhalten, dass Kauen und Schmatzen mit geöffnetem Mund einfach vermeidbar und genauso rücksichtslos ist wie offenes und lautes Gähnen. Komischerweise ließ sich wenigstens zum Husten und Niesen – ebenfalls gerne offen und mitten in den Raum – in Zeiten einer umgehenden, schweren Krankheit recht schnell ein Konsens herstellen. Die Lippen beim Kauen geschlossen halten. Das kostet doch nichts. Nicht bei jedem Schritt laut aufstampfen; nicht lauter sprechen als nötig; lautlos gähnen; nach dem Stuhlgang die Schüssel reinigen; ins Urinal pinkeln und nicht daneben (und danach die Hände waschen); exzessiven Körpergeruch einschränken durch Hygiene; den Einkaufswagen nicht mitten im Gang stehenlassen: Das kostet alles nichts und es sorgt dafür, dass man anderen Menschen nicht unnötig das Leben erschwert. Es gab eine Zeit, da war dieses gemeinschaftliche Prinzip selbstverständlich. Eine bescheidenere Zeit. Das ist noch gar nicht so lange her.

Xenia reagiert überdurchschnittlich sensitiv oder empfindsam auf Geräusche – unter Misophonie leidet sie allerdings nicht, sie wird also nicht impulsiv von Aggression oder Wut überwältigt, wenn sie jemanden schmatzen hört. Sie kann nicht erwarten, dass die ganze Welt um sie herum eine Blase der Stille schafft. Sie genießt durch ihr empfindliches Gehör Vorteile, die nur ihr selbst nutzen. Dafür muss sie einen Preis zahlen. Ihre Mitmenschen müssen ihrem Lebensalltag auf ihre Weise nachgehen können, müssen morgens um sechs Uhr aufstehen und ihr Training im rücksichtsvollen Rahmen absolvieren, ihren Shake mixen und ins Bad gehen können. Doch dabei kann man die Tür leise schließen und man muss die Hanteln nicht auf den Boden ballern und den Shake nicht schlürfen. Man muss sich abends um 22 Uhr auf der Terrasse unterhalten können – aber man darf dabei auch Rücksicht nehmen und die Lautstärke beachten. So schmal ist dieser Grat nicht. Das kann jeder.

Und es wäre toll, wenn wir dafür keine weiteren Gesetze benötigen. Ich finde Zigarettenrauch abscheulich und es stört mich, wenn dieser widerwärtige Gestank mich beim Spazieren noch 200 Meter weiter belästigt und vergiftet, weil jemand seine tägliche Zigarette unbedingt draußen rauchen muss. Dass mich die kognitive Dissonanz wurmt, die es bedeutet, wenn solche Naturfreunde argumentieren, im Freien würde der Rauch ja schnell verdünnt und abziehen, sich dann aber darüber aufregen, wenn die Industrie ihre Abfälle mit dem gleichen Argument in die Weltmeere entleert, ist freilich allein mein Problem. Jedenfalls finde ich es ätzend, beim Spazieren draußen mit Zigarettenrauch vollgequalmt zu werden. Solch rücksichtsloses Raucherverhalten sollten wir jedoch zwischenmenschlich und gesellschaftlich in den Griff bekommen können und nicht durch noch mehr Verbote auf dem Weg zum Polizeistaat.

Frage Nummer fünf erfordert höchst individuelle Antworten. Werden wir möglichst konkret und kehren zurück zu Xenia: Wenn Sie das Geschmatze innerhalb der Familie stört, könnte sie das Thema durchaus ansprechen. Viele Menschen sind durchaus dankbar, wenn man sie darauf hinweist, dass sie sich daneben benehmen und dadurch ihrer Gesellschaft unangenehm sind – denn oft ist es ihnen nicht bewusst. Das ist sogar Xenias Pflicht. Natürlich spielt dabei ihr Tonfall eine Rolle.

Aber was macht sie in der Kantine? Hier gibt es aus meiner Sicht zwei vernünftige Strategien: Die erste, schwierigere ist der offene Konflikt. Sie kann sich auf die Etikette, Tischmanieren berufen und den Täter auf sein Vergehen und dessen Auswirkungen hinweisen. Das ist selten einfach, wirkt manchmal unangebracht (ist allerdings im Kontext eines Kollegiums in der Kantine realistischer als meine zufällige Begegnung mit dem Bengel im Supermarkt) und nicht immer von Erfolg gekrönt – in der Regel abhängig von der Sozialkompetenz beider Beteiligten. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, nicht zu schmatzen? Es stört mich sehr.«

Die zweite Möglichkeit ist, dass sie sie aufsteht und sich mit den Worten »Entschuldigt, ich suche mir einen Tisch, an dem weniger geschmatzt wird« verabschiedet. Empfindliche, unsichere Gemüter können diese Äußerung als passiv-aggressiv deuten – das ist allein deren Problem. Mit dem geeigneten und leicht zu findenden Tonfall ist dieser Satz lediglich eine Information und Tatsachenfeststellung, die durchaus Raum zur freundlichen Diskussion, Besserung und Gesichtswahrung bietet. Wichtig scheint mir dabei, dass sie den Fehler nicht auf ihre Seite zieht mit Worten wie »ich bin da aber auch besonders empfindlich, das ist allein mein Problem« – denn das ist es nicht. Sie hat Bedürfnisse und darf diese geltend machen wie jeder andere. Diese muss man aushandeln und sollte dabei nicht in Runde eins sämtlichen Boden aufgeben.

»Ich suche mir einen Tisch, an dem nicht geschmatzt wird«, das ist nichts anderes als »Ich suche mir eine Ecke, in der nicht geraucht wird« – schon ein ziemlich großes Zugeständnis auf Xenias Seite. Sie könnte sich stattdessen auch schweigend Ohropax in die Ohren stecken oder einen sichtbaren Gehörschutz aufsetzen. Erstere empfinde ich persönlich als unangenehm, beide erschweren jegliche weitere Kommunikation, welche in der Kantine durchaus erwünscht sein könnte. Sie könnte auch schweigend aufstehen und gehen.

Solche lautlosen Lösungen regen allerdings keine Lösung des Problems an. Das ist nichts anderes als Weglaufen. Es mag häufig die einfachste Lösung sein und manchmal scheint alles andere zwecklos. Doch ich denke, der ausdrückliche, sinngemäße Hinweis »Das Schmatzen stört mich« ist wichtig nicht nur für gesellschaftliche Bewegung, sondern letztlich auch für Xenias mentale Gesundheit.

Zusammenfassung

Der Begriff Trigger eignet sich nicht zu Beschreibung jedes Ereignisses, das dich stört, ärgert oder aufregt. Wer den Begriff dazu missbraucht, trivialisiert die Erlebnisse von Opfern schwerer Gewalt, macht sich selbst zum Opfer und erschwert sein eigenes Leben.

Wer Aufwand betreibt, um einen störenden Reiz zu umgehen – den Tritt in einen Hundehaufen, das Schmatzen des Kollegen, den Rasenmäherlärm des Nachbarn –, der stellt sich an. Das ist völlig in Ordnung. Wenn man seine Grenzen wahren möchte, muss man sich auf eine bestimmte Weise anstellen. Wer sich nicht anstellt, wird krank. Affektiertes Verhalten, künstliches Gehabe und Theater sollte man sich hingegen sparen. Nimm hin, was du hinnehmen kannst.

Benutzt man den Begriff Trigger für jeden störenden Reiz, erliegt man schnell einem Glaubenssatz, wird Opfer seine Emotionen und Impulse und nimmt sich jegliche alternativen Lösungswege. So macht man sich krank, weil man regelmäßig unter Emotionen leidet, die Stress verursachen.

Ein gesunder Umgang mit als unangenehm empfundenen Reizen erfordert Reflexion: Was genau stört an diesem Reiz? Der Reiz selbst, der Verursacher oder das, was man damit verbindet? Was genau löst dieser Reiz aus? Verursache ich selbst solche Reize, sind sie überhaupt vermeidbar? Sollte mich dieser Reiz stören? Was wäre in solch einer Situation eine sinnvolle Reaktion, wie kann ich sie womöglich künftig vermeiden oder die Auswirkung dämpfen? Ist ein Kompromiss nötig und wie handele ich den aus?

Fußnoten

  1. https://www.schmerzgesellschaft.de/patienteninformationen/besonderheiten-bei-schmerz/schmerz-bei-frauen-und-maenner#:~:text=Frauen%20leiden%20generell%20h%C3%A4ufiger%20unter,h%C3%A4ufiger%20unter%20chronischen%20Schmerzen%20leiden.