Schummeln, täuschen, mogeln: Eine ganze Subkultur ernährungsbewusster Menschen erklärt regelmäßigen Betrug zum rechten Mittel ihrer Zwecke – und frisst sich damit Richtung Essstörung.
Der Cheat Day (deutsch: Betrugstag) ist ein Tag je Woche, an dem man die Beschränkungen seiner gewählten Diät aufgibt und isst, was man möchte. Meist genau die Dinge, welche die Diät verbietet. Ein Paleo-Anhänger entfesselt seine Fantasien von Schokoriegeln, Eiscreme, Croissants, Käsekuchen und Zuckerkram jeglicher Art. Wer sonst auf Kohlenhydrate verzichtet, startet vielleicht eine Brot- und Nudelorgie.
Sinnvoll sei das, weil es genüge, sich die meiste Zeit gesund zu ernähren. Dabei führt man das 80/20-Verhältnis an: Ernährt man sich 80 Prozent der Zeit gesund, könne man in der übrigen Zeit schadlos die Zügel loslassen. Das störe den Diäterfolg nicht; im Gegenteil: Es fördere sogar entsprechende hormonelle Vorgänge. Zudem müsse man schließlich das Leben auch mal genießen. Immer nur Verzichten, das untergrabe jeden Ernährungserfolg.
Weil man seiner gewählten, beschränkten Ernährung die meiste Zeit treu ist, könne man dann auch mal schummeln.
Man kann sich alles einreden. Eines bleibt: Man betrügt sich selbst.
Der Cheat Day: eine Essstörung.
Ich kenne persönlich nicht wenige Menschen, die sich mit religiösem Eifer an die Steinzeiternährung halten: Kein Tropfen Milch, kein Getreidestaub darf im Essen stecken; beim Anblick von Pflanzenfett kreischen sie wie ein Teufel, der sich ins Weihwasserbecken gesetzt hat; und selbst Kartoffeln, Tomaten und Paprika haben sie vom Speiseplan verbannt, weil jeder weiß: Diese Lebensmittel sind Nachtschattengewächse und somit tödliches Gift. Tugendhaft schaufeln sie Fleisch und Gemüse und die sechs abgezählten Macadamianüsse ins grimmige Gesicht. Derweil zwingt sich ein LowCarber beim Knabbern am glutenfreien, staubtrockenen, gummiartigen LowCarb-Brot ein Lächeln aufs Gesicht. »Schmeckt viel besser als richtiges, knuspriges, saftiges Brot!« Das erinnert an religiöse Selbstgeißelung.
Dann kommt der Cheat Day und sie springen freudig aus dem Bett, rennen ins Café und frühstücken Croissants mit Nuss-Nougat-Creme und Marmelade, genießen den Milchkaffee mit Sahne. Mittags fahren sie zur Eisdiele und verschlingen feierlich drei Becher Eis mit eingestreuten Schokoriegeln. Einige von ihnen übergeben sich danach. Aber da muss man durch und es muss weitergehen; so einen Tag muss man schließlich nutzen.
Nicht jeder begeht seinen Cheat Day in so extremer Weise. Dennoch bleibt es eine Essstörung. Essen ist lebensnotwendig. Würde jemand einen Tag pro Woche nur noch laut schnaufend atmen, weil er seine Atemtechnik an den übrigen Tagen als Last empfindet: So jemandem würde man unbestreitbar eine Atemstörung bescheinigen.
Cheat Days weisen hin auf ein gestörtes Verhältnis zu Lebensmitteln. Sie bedeuten, es gebe eine klare Linie zwischen gutem und bösem Essen und erschaffen eine künstliche moralische Bewertung einzelner Nahrungsmittel. Wer so über sein Essen denkt, belegt es mit Schuldgefühlen und Gewissensfragen. Das sind psychologische Merkmale einer Essstörung.
Die Denkweise hinter dem Cheat Day kann die moralische Urteilsfähigkeit untergraben: Ist es in Ordnung, mein freiwilliges Versprechen regelmäßig zu brechen? Kann ich meinen Partner einfach einmal die Woche betrügen, wenn ich den Rest der Woche treu bin?
Die Anwender des Cheat Days betrachten die Welt naiv und reduktionistisch, meist genau wie ihre Ernährungskonzepte: Lebensmittel sind für sie höchstens die Summe ihrer Teile, selten mehr als Eiweiß, Fett und Kohlenhydrate. Auch ihren Körper betrachten sie als simple Maschine. Sechs Tage regelkonform essen wie im Korsett, dann einen Tag Schrott hineinstopfen: Im Durchschnitt wird das schon passen. Doch unsere Biologie und Psychologie funktionieren nicht so linear: Ob wir uns zehnmal einen Zentimeter tief in die Brust stechen oder einmal zehn Zentimeter tief, das ist nicht das Gleiche.
Was ist das überhaupt für eine Ernährung, von der man eine Pause braucht? Wenn sie mich derart einengt, warum sollte ich so leben wollen?
Essen ist mehr als Energieaufnahme und Genuss. Eine gesunde Ernährung muss Körper, Geist und Seele nähren. Jeden Tag. Daher muss sie auch harmonieren mit meinen Mitmenschen, muss angepasst sein an die Gegebenheiten meiner Umwelt und der Wirtschaftskreisläufe meiner Heimat. Leistet sie das nicht, entzieht sie meiner Umwelt und mir Leben, statt es zu spenden.
Ein solch gesundes Verhältnis kann nicht darin bestehen, sechs Tage die Woche einen Zwang zu verspüren, von dem man sich erst am letzten Tag befreit.
Nichts spricht gegen Abwechslung in der Ernährung; und Belohnungsaufschub ist eine sinnvolle Übung. Nicht jedoch, wenn man sie formalisiert und mit einem naiv-reduktionistischen Blickwinkel betreibt. Durch einfache Dimensionen wie Abnehmen, Muskelaufbau oder Aussehen entsteht daraus gefährlicher Sprengstoff: Sie vergewaltigen Ernährung zu einem primitiven Werkzeug und reißen sie so aus ihrem Gesamtzusammenhang. »Heute darf ich endlich … essen« – solch ein Gedanke zeigt: Diese Ernährung ist nicht ins Leben integriert und verfehlt ihren natürlichen Zweck.
Eng verwandt mit diese Sichtweise ist die Belohnung durch Lebensmittel. Besonders dann, wenn die Belohnung in Form einer sonst als Sünde geächteten Speise erfolgt: Nach dem Training ein Stück Sahnetorte; nach sechs Tagen Diät eine Tafel Schokolade – schnell schwindet der wahre Genuss einer solchen Belohnung, denn sie gerät zum Selbstzweck. Das eigentliche Ziel verlieren wir aus den Augen, der Vorgang wird Gewohnheit – Abhängigkeit tritt an die Stelle der Belohnung.
Nahrung als Belohnung; als mechanischer Treibstoff; als Wahl zwischen Gut und Böse; als Mittel zum vermeintlich tugendhaften Entzug für 80 Prozent der Lebenszeit oder als selbst auferlegter Zwang: Das sind Wege in die Essstörung. Eine solche Ernährung ist nicht in das Leben eingeordnet, sie belastet die Gesundheit körperlich, geistig und seelisch.
Die Wahl unserer Lebensmittel betrifft niemals allein uns selbst, sondern berührt stets das Leben unserer Mitmenschen und Umwelt. Befinden wir uns mit denen nur gelegentlich im Einklang, läuft das Leben nicht rund.
Den Nachbarn sonntags anlächeln und ihn den Rest der Woche ignorieren, um keine Zeit mit Grüßen zu verschwenden: Das ist verlogene Heuchelei.
Nach dem Studium planen, erstmal 40 Jahre hart durchzuarbeiten und danach ein Wohnmobil zu kaufen, um fünf Jahre durch die Welt zu reisen: Das ist eine Wahnvorstellung.
Das Konzept Cheat Day ist doppelter Missbrauch. Es pervertiert Verzicht, indem es ihn mechanisiert und künstlich moralisiert. Und es verdirbt den Charakter durch die Art, wie es diesen Missbrauch behandelt:
Verzicht erhöht den Genuss. Eine besonders leckere Mahlzeit ist gerade deswegen so lecker, weil sie besonders ist. Äßen wir sie ständig, wäre sie gewöhnlich. Jedoch stehen uns tausende Geschmäcke und Kombinationen zur Verfügung. Deswegen kann jede Mahlzeit besonders und lecker sein. Verzicht auf einen bestimmten guten Geschmack können wir auch durch den Genuss eines anderen guten Geschmacks erreichen. Selbst der Verzicht auf jeglichen guten Geschmack (Extremfall: eine Woche trockenes Brot) sollte nur der Erhöhung des Genusses selbst dienen, niemals der Belohnung.
Einmal die Woche Schmausen; manchmal zweimal; aber nicht zu oft, weil es sich sonst abnutzt: Das ist etwas anderes, als ein regelmäßiger Entzug mit anschließendem Fressgelage, um die Diät auszutricksen für dicke Arme und dünne Haut.
Gedanken werden Worte. Worte werden Handlungen. Handlungen werden Gewohnheiten. Gewohnheiten werden Charakter – und umgekehrt. Wer Schummeln im Leben für akzeptabel hält, wird darüber auch so denken, es ausüben und durch die Wortwahl verallgemeinern. Wer betrügt, ist ein Betrüger. Daran ist nichts genial oder tugendhaft.
Siehe auch: Essverhalten – Der Weg zu gesunder Ernährung
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