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Artenvielfalt durch Fleischverzehr

Mein heutiges Abendessen rettet zehn Zipfelfaltern das Leben, schafft Lebensraum für ein Dutzend Sumpfschrecken und erleichtert zwanzig Laubfröschen den Alltag. Die Mahlzeit auf meinem Teller: Eine Beinscheibe. Vom Weiderind.

Sie grasen und düngen, laufen und spielen, balzen, gebären und säugen unter der Sonne: Weiderinder spüren ihr gesamtes Leben den Hauch der Brise auf der Wiese, ihrem natürlichen Lebensraum. Ihr Verhalten macht sie zu weit mehr als Verbrauchern auf dem saftigen Grasland: Weidetiere sind ein wichtiges Instrument im Symphonieorchester des Lebens. Ihr Fraß und Tritt kommen keiner melodischen Verzierung gleich; vielmehr sind sie die Basslinie: Ohne sie würde die Komposition des Graslandes einbrechen und schwinden. Denn Grasland braucht Grasfresser. Sonst verbuscht und verwaldet es und seine Bewohner verlieren ihren Lebensraum.

Hunderte Tier- und Pflanzenarten spielen ihre Melodien des Lebens in einem Konzertsaal, den Rinder und Pferde abstecken: Wenn sie Ufer und Röhrichte beweiden, erwärmt sich durch den Lichteinfall das Wasser zur Laichzeit im Frühjahr stärker. Dadurch können sich Laich und Larven der Frösche und Kröten besser entwickeln. Süß- und Sauergräser im Uferbereich fressen die Weidetiere teils so kurz, dass sogar die anspruchsvolle Wechselkröte einen geeigneten Ort für den Nachwuchs findet. Auch die Abdrücke der Hufe helfen den Amphibien: Darin bilden sich Kleinstgewässer, die Fröschen als Rückzugsraum dienen. Laufkäfer und Stechimmen nutzen Huftierpfade als Lebensraum. Selbst die Ausscheidungen der Weiderinder spenden Leben: Sie sind Futtergrundlage für zahlreiche Dungkäfer, an denen sich wiederum bedrohte Vogelarten wie die Blauracke bedienen.1

Weidetiere tragen die Symphonie des Lebens auch buchstäblich auf dem Rücken: In ihrem Fell transportieren sie Pflanzensamen, Sporen, Käfer, Spinnen, Wanzen und sogar Reptilien und Schnecken über weite Strecken und helfen so bei deren Verbreitung. Je nach Region und Jahreszeit haften im Fell eines Schafes bis zu 8.500 Samen von über 50 Arten, können dort über drei Monate verbleiben und reisen so hunderte Kilometer mit.2

Was nützt uns diese Artenvielfalt? Sie stabilisiert Ökosysteme und damit unsere Ernährungsgrundlage. Artenvielfalt ist das Gegenteil der Monokultur, unserem überwiegenden Vorgehen zum Erzeugen pflanzlicher Lebensmittel.3 In einer Monokultur, zum Beispiel auf einem Kartoffelacker, genügt eine einzige Krankheit, um alle Pflanzen auszulöschen. Leben dort jedoch viele Arten, mögen vielleicht die Kartoffeln sterben, doch andere Arten sind nicht anfällig für die Krankheit und das Leben geht weiter. Wenn so viel Bewegung und Wettkampf zwischen den Spezies herrscht, haben verheerende Krankheiten allgemein weniger Angriffspunkte.

Artenvielfalt ist unser genetischer Reichtum – eine Schatztruhe, aus der wir alle uns bedienen: Wir essen heute überwiegend Kulturpflanzen, die wir aus der Vielfalt der Natur gewonnen haben. Einige Züchter arbeiten weiter mit Landsorten und entdecken stets neue Juwelen im Genmaterial. Artenvielfalt sichert unsere Ernährung.

Durch Weidehaltung erhalten wir Weidelandschaften und damit auch Kulturland. Wäre in unserer Zeit der Schutz von Naturlandschaften nicht viel wichtiger? Tatsächlich verfügt Mitteleuropa kaum noch über wilde Gebiete. Die vom Menschen geprägten Kulturlandschaften sind jedoch nicht grundsätzlich weniger wertvoll als die unberührten Flecken auf unserem Planeten. Sie gehören zu unserem Kulturerbe, sind Errungenschaften des Menschen wie das gesprochene Wort oder das Laufen auf zwei Beinen.

Wir können keine Naturlandschaft wiederherstellen. Wir können nur ein Stück Land sich selbst überlassen. Dann verwildert es und auch das kann ästhetisch Wert haben und der Artenvielfalt dienen. In solchen Fällen müssen wir allerdings eine Fläche aufgeben, die wir zuvor kultiviert haben: Eine Entscheidung zugunsten der Natur und gegen die Kultur des Menschen. Keine leichte Wahl, wenn man aus lauter Achtung vor Tier und Natur nicht den Respekt vor Mensch und Kultur vergessen möchte.

Wenn Weidetiere so wertvoll sind für unsere Ökosysteme und Artenvielfalt, Klima und Bodenfruchtbarkeit – warum essen wir sie dann auf? Gewiss wäre es folgerichtig, ließen wir die Tiere nach einem langen Leben in der Natur eines natürlichen Todes sterben: Verhungern, verdursten, verenden durch Krankheit oder gerissen von Raubtieren.4 Noch vor den Einwänden der Ethiker und Tierschützer stehen praktische Hürden: Land kostet Geld und selbst wenn Weidetiere die teils kostspielige Landschaftspflege5 übernehmen, fallen sie nicht vom Himmel. Wir müssen Zäune errichten und Tiere herbeischaffen, das Gebiet behüten und verwalten. Wenn wir das Fleisch der Tiere vermarkten, können wir wenigstens einen Teil der Kosten finanzieren und so den Erfolg des Vorhabens langfristig sichern.

Das sind Überlegungen für den öffentlichen Bereich, wo wir Ausgaben für den Naturschutz vor dem Steuerzahler rechtfertigen müssen. Die meisten Landwirte können sich eine derartige Wildnisentwicklung im großen Stil ohnehin nicht leisten. Dennoch können sie durch Weidehaltung zu Naturschutz und Landschaftspflege beitragen. Zur Vermarktung ihrer Tiere sind sie gezwungen, sonst kann diese Art der Naturpflege nicht stattfinden.

Landwirte sehen sich heute vermehrt dem Vorwurf ausgesetzt, ihre Arbeit schade der Natur. Der Mensch kann mit seiner Macht die Umwelt zerstören wie kein anderes Wesen. Doch er kann auch der Natur größter Hirte sein und ihr zu mehr Blüte und Leben verhelfen als sie allein vermag. Durch den Überblick des Dirigenten kann der Mensch die Symphonie des Lebens mit überwältigender Kraft erfüllen.

Der Landwirt steht in diesem Sinne als Dirigent eines Kleinstadtorchesters vor der Herausforderung, die Komposition auch kommerziell attraktiv zu gestalten. Er kann der Umwelt dienen – jedoch nur, wenn auch jemand das Fleisch seiner Weidetiere kauft.

Ich mag Musik und ich mag die Natur. Deswegen bezahle ich bei Konzerten gerne Eintritt. Und deswegen kaufe ich nur Fleisch von einem Landwirt, der seine Tiere auf der Weide hält und die Natur pflegt. Äße ich gar kein Fleisch, müsste ich mehr Pflanzen essen und das meiste Gemüse auch mit Bio-Siegel wächst in Monokulturen auf dem Acker mit geringer Artenvielfalt. Lieber unterstütze ich Weidewirtschaft und Landschaftspflege.

In der Natur herrscht ein dauernder Wettbewerb: Vögel und Insekten, Amphibien und Fische, Reptilien, Raubtiere und Pflanzenfresser, Gräser, Büsche, Bäume und Pilze – sie alle möchten leben und am liebsten ein Solo spielen. Zwischen alledem stehen wir Menschen mit dem Taktstock. Ganz gleich, ob wir eine große Komposition schreiben oder Improvisationen zulassen: Auch Jazz folgt Regeln und Absprachen. Unsere große Macht erfordert eine ebensolche Verantwortung. Dieser Verantwortung können wir durch den Erhalt des Graslandes besser gerecht werden als durch reinen Ackerbau.

Daran kann einfach mitwirken, wer das Fleisch im Supermarkt und Discounter liegenlässt und stattdessen den örtlichen Landwirt bei der Weidehaltung unterstützt.

Fußnoten

  1. Siehe auch: M. Bunzel-Drüke et al. (2008) „Wilde Weiden“ – Praxisleitfaden für Ganzjahresbeweidung in Naturschutz und Landschaftsentwicklung. Arbeitsgemeinschaft Biologischer Umweltschutz im Kreis Soest e.V. (ABU), Bad Sassendorf-Lohne; Jedicke, Eckhard (2015 ) „Lebender Biotopverbund“ in Weidelandschaften. Naturschutz und Landschaftsplanung 47 (8/9), 2015, 257-262, ISSN 0940-6808.
  2. ebd.
  3. Selbst eine Fruchtfolge ist eine Monokultur; die zeitliche Begrenzung ändert daran nichts.
  4. Das geschieht in sogenannten Wildnisentwicklungsgebieten wie Oostvaardersplassen in den Niederlanden.
  5. Siehe auch weidefleisch.org/landschaftspflege.

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