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Lecker ist gesund

Lecker ist gesund»Die Tomaten (Radieschen, Karotten, …) schmecken nicht mehr wie früher.« Die Früchte mögen noch so aussehen wie damals. Doch wenige Sekunden nach ihrer Reise in den Mund sinken dessen Winkel und Großmutter verbalisiert ihre Enttäuschung über das mangelnde Aroma. Wie schon so oft. Dabei beschäftigt sie sich in diesem Moment mit keiner Lappalie, sondern mit dem Grundstein eines der großen Gesundheitsprobleme unserer Zeit: Ihr auf der Zunge liegt ein wichtiges Puzzleteil zur Lösung unserer verbreiteten Ernährungsprobleme, darunter die Epidemie der Fettleibigkeit.

Ist der Geschmack überhaupt wichtig? Bei Parolen wie »Hunger ist der beste Koch« und der Erklärung, eine Fixierung auf guten Geschmack sei Luxus, gerät das Aroma unserer Lebensmittel schnell unter die Räder.

Auch viele Diätgurus und Bürokraten in den Gesellschaften für gesunde Ernährung fokussieren lediglich auf das, was Nahrung im Körper bewirkt. Die Frage nach dem Geschmack stellen sie nicht oder erst im Nachgang. Dabei beantwortet sie zugleich eine andere, lebenswichtige Frage: Wie und warum kommt das Essen überhaupt in uns hinein?

Geschmack ist der Anfang des Essens

Wir sind genetisch auf guten Geschmack programmiert. Omas Geschmacksnerven sind über die Jahre nicht abgestumpft und sie romantisiert auch nicht: Obst und Gemüse schmecken heute weniger als vor 50 Jahren.

Einhergehend mit diesem allgemeinen Eindruck der sinkenden Geschmacksintensität messen wir einen stetig schrumpfenden Nährstoffanteil. Das sollte kaum überraschen: Studien zeigen, dass die für den Geschmack verantwortlichen, flüchtigen organischen Verbindungen aus einer Reihe von Nährstoffen wie Aminosäuren, Fettsäuren und Carotenoiden stammen. Im Falle der Tomate sind sie fast durchweg essenziell für den Menschen.

Mit anderen Worten: Wenn die Pflanze für uns besonders attraktiv riecht und schmeckt, dann ist sie auch nahrhaft, ihre Nährstoffe teils lebensnotwendig für uns. Nennen wir es: Lecker ist gesund.

Über den kulinarischen Verlust guten Geschmacks ist darüber hinaus kaum zu strei­ten. Aus meiner Pers­pektive verlieren wir zusammen mit jedem Aroma ein ganzes Kulturerbe, mal abge­sehen von den Welten des Genusses und der Freude, die das Leben lebenswert machen.

»Der Schöpfer zwingt den Menschen zum essen, um zu leben, verführt ihn mittels Appetit und belohnt ihn durch Genuss«, beschrieb der französische Gastrosoph Jean Anthelme Brillat-Savarin diese Situation treffend vor rund 200 Jahren.

Geschmack ist lebenswichtig

»Tiere verlassen sich auf ihre Sinnesorgane, in diesem Fall Geruch und Geschmack, um für sie lebenswichtige Nährstoffe zu identifizieren«, fasst Mark Schatzker in seinem Artikel How Flavor Drives Nutrition zusammen. »Diabetische Ratten meiden instinktiv Kohlenhydrate, Schafe lecken zur Mineralstoffversorgung selbst am richtige Stein und Affen mit Darmparasiten essen Blätter, die ihre Probleme lindern.«

Besonders fasziniert zeigt er sich von einem Studienergebnis aus dem Jahr 1939: Gibt man Kleinkindern die freie Wahl über ihre Ernährung, wählen sie von selbst jene Lebensmittel, welche die essenziellen Nährstoffe enthalten. Die gerade abgestillten Kinder im Alter von 6 bis 11 Monaten hatten noch keinerlei Erfahrung mit (und Vorur­teile gegenüber) anderen Lebensmitteln als Muttermilch. Nach sechs Jahren dieser Studie waren die Kinder kerngesund, nicht zu dick und nicht zu dünn. Ohne das Wissen um Fett, Kohlenhydrate und Gluten wählten sie nicht unbedingt immer die süßesten Speisen und bedienten sich offenbar genau richtig. Auch das natürliche mensch­liche Verhalten neigt also zu gesunder Ernährung, basierend auf unseren Sinnes­eindrücken und Körpersignalen, argumentiert Schatzker.

Allerdings verschweigt er, was die Studienautorin Clara M. Davis anmerkte: Unter den 34 zur Verfügung stehenden Lebensmitteln befand sich keine inhärent ungesunde Kost.

»Beschränkt auf natürliche, unverarbeitete und unveredelte Nahrungsmittel und ohne zusammengestellte Speise jeglicher Art reproduzierte das Angebot zu weiten Teilen die Bedingungen, unter denen sich primitive Völker (sic) in vielen Teilen der Welt nach­weis­lich einwandfreier, exzellenter Ernährung erfreuen.«

Die Kleinkinder hätten allerdings die Wahl zugunsten der essenziellen Nährstoffe und der korrekten Verhältnisse selbst getroffen. Für sie zeigt dies, dass es keine strenge ärztlich oder staatlich angeordnete Kinderernährung braucht: Es genüge völlig, wenn Eltern ihren Kindern eine Reihe abwechslungs- und nährstoffreicher Lebensmittel zur Verfügung stellten und ihre Sprösslinge dann frei wählen liessen.

Genau dieser Vorbehalt deutet auf die Schatten hin, die sich in den kommenden nun 75 Jahren über unsere Ernährung ziehen sollten. Er zeigt, warum es leider nicht immer in Ordnung ist, einfach auf unseren Körper zu hören. Das Tierreich und die genannte Kleinkinderstudie machen genau darauf Hoffnung, aber beides gilt zunächst nur im Kontext eines nicht industriell manipulierten Nährstoffangebots. Die Körper­in­tel­li­genz, die natürliche Fähigkeit zur Wahl des richtigen Lebensmittels, verlässt sich auf Geruch und Geschmack. Beides ist angesichts Kaugummi mit Erd­beer­ge­schmack und Analogkäse, Kartoffelchips mit Geschmacksextrakt und extrahierten wie künstlichen Aromen generell fehleranfällig.

Unser selbst geschaffenes Angebot trickst unsere Sinne aus und macht das Hören auf den Körper zu einer Farce. Wer als Selbstverständnis stark verarbeitete Lebensmittel meidet, kann sich gewiss auf seine Sinne verlassen. Doch wer diese Überzeugung nicht teilt, nicht gelernt hat oder einfach über das Wissen nicht verfügt, der ist mit seinen angeborenen Sinnen im Supermarkt verloren. Sein Körper mag aufgrund des Ge­schmacks nach Kartoffelchips mit Fertig-Käsesoße schreien. Doch wenn er nachgibt, erhält er außer einem Haufen Kalorien, Salz, Zucker und Fett nicht die Nährstoffe, nach denen er eigentlich gesucht hat. Derweil geht das Essen weiter.

Eine Strategie der Industrie?

Wir haben es also mit sinkendem Geschmack und Nährstoffgehalt der unverarbeiteten Lebensmittel wie Obst und Gemüse zu tun, während zugleich das Angebot mit Aromen versetzter, stark verarbeiteter Lebensmittel zunimmt. Daraus könnte man eine Ver­schwörung konstruieren. Die Industrie züchtet die Rohstoffe (Obst, Gemüse) auf mehr Ertrag und Robustheit und zugleich weniger Geschmack. Die Ware wird so billiger, jedoch unattraktiv für Verbraucher. Währenddessen können Fabriken das uniforme Ausgangsmaterial einfacher zu lukrativen und mit den vermissten Aromen versetzten Fertigprodukten verarbeiten.

Denn gerade die Zucht hin zu größeren und länger haltbaren Früchten ist oft ein Schritt weg vom guten Geschmack: Die Textur hat wesentlichen Einfluss auf das Geschmackserlebnis.

Ein Ausweg scheint abermals aus der Wissenschaft zu kommen: Einer der Haupt­grün­de, warum wir Nutzpflanzen in den letzten 50 Jahren statt auf besseren Geschmack eher für größeren Ertrag optimiert haben, ist die Komplexität dieser Aufgabe. Die große Zahl der im Geschmack involvierten Stoffe ließ sich bislang einfach nicht über­schauen. In den vergangenen 15 Jahren haben wir allerdings wenigstens im Fall der Tomate diese Stoffe (scheinbar) genau identifiziert. Mit diesem Wissen ließen sich in den kommenden Jahren geschmackliche Charakteristika von Tomaten gezielt steuern. »Die Weichen sind gestellt für schnelle Fortschritte im Bereich der Manipulation der Geschmackschemie in naher Zukunft«, resümiert Harry Klee, Professor für Horti­kultur an der University of Florida, den Forschungsstand.

Im Zusammenhang des industriellen Umfelds lässt dies auf mehr Geschmack hoffen, entspricht jedoch gar nicht dem, was Großmutter sich in der Regel vorstellt. Sollte eine gezielt zu höherem Ertrag, längerer Stabilität und mehr Geschmack gezüchtete Tomate auf dem Teller landen, wenn ihre gesundheitliche Unbedenklichkeit einwandfrei geklärt ist? Wenn sie auf dem Wege herkömmlicher Züchtung (also ohne gentech­nische Veränderung) entstanden ist? Oder sollten wir ungeachtet aller Nachteile zu unseren alten, kleinen Früchten zurückkehren? Und würden diese Erträge ausreichen, um die seit 50 Jahren stattlich gewachsene Bevölkerung zu versorgen? Solche Fragen sind individuell zu beantworten, doch der Herausforderung müssen wir uns als stetig forschende und entwickelnde Spezies stellen.

Freie Natur: Der beste Geschmack

Nachgewiesen ist, dass Pflanzen in freier Natur ohne die Hilfe zusätzlichen Düngers oder Pflanzenschutzmittel einen höheren Nährstoffgehalt (und entsprechend inten­siveren Geschmack) aufweisen. Wissenschaftler führen dies auf die Anpassungs­fähig­keit der Pflanzen zurück: Die Pflanze ist Angriffen durch Tiere und Klima ausgesetzt, sie muss sich schützen und bildet entsprechende Stoffverbindungen. Diese sind ihrerseits Nährstoffe. Was sie nicht umbringt, macht sie stärker – und leckerer.

Viel Sonne, fruchtbare Böden und ökologische Anbaumethoden sind demnach die Mindestvoraussetzungen für hohen Nährstoffgehalt, entsprechend intensiven Geschmack und gesundheitlich vorteilhafte Lebensmittel – leider jedoch keine Garantien, wenn ein Landwirt beispielsweise doch nur die ertragreichsten Sorten pflanzt.

Egal ob aus Prinzip oder aus Ekel, zugunsten der Gesundheit oder aus Begeisterung für das Kochen mit hochwertigen Lebensmitteln: Wer vorverarbeitete Produkte von seiner Einkaufsliste gestrichen hat, für den scheint der volle Verlass auf die Sinne der opti­male Weg zum gesunden leben. Mit seinem grundsätzlichen Ausschluss manipulierter Aromen kann so jemand auf seinen Körper hören, den Signalen vertrauen und sich kulinarisch voll ausleben.

Alle anderen müssten vor dem Befolgen ihrer Körpersignale den Umweg über das bewusste Denken nehmen und reflektieren, ob der Schokoriegel oder der blaue Dauerlutscher in diesem Moment wirklich das sein kann, was der Körper benötigt.

Der sinnvollste Weg scheint in beiden Fällen zu sein: Geld für gute Lebensmittel ausgeben und fade Erzeugnisse liegenlassen. Zweifelsohne hilft es ebenso jedem, seinen Gaumen zu trainieren um künstliche Aromen und faden Geschmack entlarven zu lernen. Dies präsentiert sich als lebenswichtige Fähigkeit.

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