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Illusion Steinzeiternährung?

Illusion SteinzeiternährungDie Paleo-Ernährung erfreut sich stetig wachsender Beliebtheit. Das zeigt auch ihre ausgiebige Kommerzialisierung: Immer mehr Unternehmer drängen mit entsprechenden Produkten auf den Marktplatz unter dem sich ausdehnenden Paleo-Dach. Doch bei näherer Betrachtung stellen sich dessen wesentliche Stützpfeiler als optische Täuschung heraus: Getreide ist Paleo und Blumenkohl nicht. Und stellenweise ist die Steinzeiternährung gar kaum zu unterscheiden vom Veganismus. Mehr noch: Man könnte meinen, es gäbe gar keine Steinzeiternährung. Ist sie eine Illusion?

Begriffsdefinition

Als Steinzeiternährung oder Paleo-Diät verstehen wir heute in der Regel, was die Medien (Fernsehen, Bücher, Blogs) als solches präsentieren: Ein recht striktes Regelwerk zur Ernährung, eine feste Vorstellung des Speiseplans mit klarer Einteilung in gut und böse sowie eine Reihe von Argumentationen und Verweise auf Studien, die dies vermeintlich belegen. Es ist genau diese Definition, die zum Trend geworden ist und sich rasend verbreitet. Dabei beruht sie auf haarsträubenden Irrtümern.

Getreide ist Paleo

Gängig in Paleo-Kreisen ist die Behauptung, der Mensch verzehre Getreide erst seit Beginn der Landwirtschaft vor rund 12 000 Jahren. Das ist ungefähr der Zeitpunkt, an dem das Paläolithikum endete. Tatsächlich liegen uns Belege vor, dass Menschen in Eurasien Getreide schon vor 30 000 Jahren verarbeitet haben. In Afrika tun sie dies offenbar seit weit über 100 000 Jahren. Getreide ist demnach Paleo, um den verbreiteten Jargon zu verwenden.

Richtig ist, dass Menschen seit Beginn der Landwirtschaft und dem damit einhergehenden, signifikant erhöhten Getreidekonsum unter Mangelernährung litten. Zumindest die Knochenfunde deuten auf Wachstumsstörungen durch Nährstoffmängel hin. Proponenten der Paleo-Diät betrachten dies als Beweis, dass Getreide ungesund sei.

Es gibt allerdings eine andere Erklärung: Durch die Landwirtschaft hat sich die Bevölkerung explosionsartig vergrößert. Und zwar schneller, als diese Menschenmenge sich auch ausreichend hätte versorgen können. Die Folge war weniger zu Essen für alle und eine entsprechende Mangelernährung, unabhängig von der Art der zugeführten Lebensmittel. Später erfahren wir, dass das damalige Bevölkerungswachstum noch in anderer Hinsicht sehr relevant für die heutige Betrachtung der Steinzeiternährung ist.

Blumenkohl ist nicht Paleo

Genauso wie wir wissen, dass der Mensch in der Steinzeit Getreide (und gewiss alles andere essbare, was er finden konnte) gegessen hat, wissen wir mit Sicherheit, dass er keinen Blumenkohl gegessen hat. Blumenkohl ist eine recht moderne Zuchtsorte. Ob wir wirklich erst seit dem Mittelalter über sie verfügen, sei dahingestellt; doch in der Steinzeit gab es Blumenkohl nicht. Demnach ist er, um wieder im Jargon zu bleiben, entgegen der Angaben fast aller Paleo-Proponenten, nicht Paleo.

Wir waren keine großen Jäger

Romantiker stellen sich das Leben in der Steinzeit recht einfach, dabei unangenehm, brutal und kurz vor. Und glorios. Der Mensch habe ständig große Tiere wie Mammuts erlegt und sich von deren Fleisch en masse ernährt. Das Leben von Stämmen in Neuguinea – Menschen, die teils erst in den letzten 100 Jahren die Steinzeit hinter sich gelassen haben – zeichnet jedoch ein anderes Bild.

Pulitzer-Preisträger Jared Diamond* berichtet über die dortigen Jagderfolge als eher sparsame Ausbeute. Abhängig ist dies ohne Zweifel von der verfügbaren Fauna. Doch die weltweite Betrachtung suggeriert größere Jagderfolge ebenfalls erst seit der Dominanz des Cro-Magnon-Menschen, welche vor rund 40 000 Jahren begann. Von üppigem Fleischverzehr in der Steinzeit zu sprechen, scheint daher vermessen. Doch auch das widerspricht dem Dogma vieler Paleo-Proponenten.

Getreide ist optimale Ernährung

Schauen wir uns noch einmal das Getreide und dessen Eignung für den Menschen an. Der Paleo-Orthodoxie zufolge sei die Evolution ein Grund dafür, dass der Mensch es heute nicht essen sollte. Denn für den Großteil seiner Existenz habe er es nicht gegessen und folglich sei sein Organismus auf dessen Verdauung nicht vorbereitet.

Dies beruht hingegen auf dem Missverständnis, Evolution belohne optimale Gesundheit oder ein glückliches Leben. Für die Evolution, die natürliche Auslese, ist jedoch allein relevant, ob Individuen sich fortpflanzen. Dies ist weitgehend unabhängig vom Gesundheitszustand. Solange sie es zur Geschlechtsreife schaffen, können Menschen nach Belieben oder Notwendigkeit ungesund leben. Wenn Männer also ernährungsbedingt schon mit Ende 20 ins (Süß-)Gras beißen, tut das der Evolution keinen Abbruch: Bis dahin lassen sich reichlich Kinder zeugen. Und auch für Mütter ist ein Lebensalter von etwa 40 Jahren völlig ausreichend, um Kinder bis zur Selbständigkeit zu betreuen.

Die bereits zuvor genannte Bevölkerungsexplosion nach Beginn der Landwirtschaft ist vielmehr ein Hinweis darauf, dass Getreide ein für den Menschen und dessen Evolution hervorragend geeignetes Lebensmittel ist. Die gewonnenen Lebensmittel ermöglichten weit mehr Menschen als zuvor die Fortpflanzung und letztlich gar die Dominanz der Spezies über den gesamten Planeten. Der Blick auf die Menschheitsgeschichte verdeutlicht, dass dies ohne Landwirtschaft und Getreide wohl nie möglich gewesen wäre.

Paleoismus: Der Zwillingsbruder des Veganismus

Paleo-Proponenten zeigen sich mit der gleichen Häufigkeit und Intensität geradezu religiös in ihren Thesen wie Hüter des Veganismus. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass diese Individuen jeweils in der Minderheit sind, jedoch durch die Lautstärke ihrer mit besten Absichten vorgetragenen Ansichten besonders auffallen.

Die Gruppenbildung in den Lagern der Paleo-Anhänger, Veganer (und Rohköstler und Frutarianer und…) funktioniert stets nach dem gleichen Prinzip. Gruppen dienen der Abgrenzung zu deren Kontrastierung die Feindbildpflege beiträgt. Wer sich nicht richtig ernährt, ist dumm, verhält sich unethisch oder unverantwortlich.

Die Untermauerung der Positionen geschieht auf Basis sorgfältig gewählter Studien. Cherrypicking, etwa das Herauspicken der Rosinen, ist dabei üblich: Man zieht nur die Studien heran, deren Ergebnis wirklich die eigene Position unterstützen, ganz gleich wie schwach die Aussagekraft ist. Alle anderen Studien hingegen seien schlecht durchgeführt, falsch ausgewertet oder aus anderen Gründen nicht relevant.

Dass etwa viele Veganer mit ihrer Ernährung absolut glücklich sind und durchweg gesund leben ist für einige Paleoisten ebenso Blasphemie wie für eifrige Veganisten die Vorstellung, dass ein Mensch auch mit Fleischverzehr kerngesund bleibt.

Die Paleo-Diät ist insofern genau wie der Veganismus ein Resultat des Nährstoffismus, seinerseits auch eine Art Religion. All diese Sub-Ideologien fundieren auf der Annahme, Nährstoffe seien lediglich die Summe ihrer Teile und der Mensch sei eine einfache Maschine, zu deren Betrieb eine handvoll vollständig identifizierter Treibstoffbestandteile nötig seien.

Aber Paleo funktioniert, dann muss es doch stimmen

Die Paleo-Diät klingt plausibel: „Iss‘ nur das, was wir in der Steinzeit auch gegessen hätten, denn es sind die Dinge, die wir für den überwältigen Großteil unserer Existenz gegessen haben und dafür ist unser Körper durch die Evolution optimiert.“

Auch folgende These klingt plausibel: „Morgens sehen wir die Sonne im Osten, dann überquert sie den Himmel und abends steht sie im Westen, bis sie am nächsten Morgen wieder auf der anderen Seite erscheint. Folglich umkreist die Sonne die Erde.“

Beides klingt plausibel. Doch Plausibilität ist kein Beweis. Unzähligen Menschen, Laien, ideologisch motivierten Vertretern und nüchternen Wissenschaftlern fallen die Fehlschlüsse, Irrtümer und Widersprüche in der Erklärung der Paleo-Diät auf. Und im Veganismus.

Dass die Paleo-Diät bei vielen Menschen die gewünschten Erfolge bringt, ist kein Beweis für die Korrektheit der Erklärungen. Es zeigt lediglich, dass die Ernährungsumstellung, die unmittelbare Auswirkung der verzehrten Lebensmittel, vorteilhaft war. Das können viele Ernährungskonzepte von sich behaupten. Wer sich ausschließlich von Pizza und Schokoriegeln ernährt, wird profitieren; ganz gleich ob er sich für Paleo, Veganismus oder Rohkost entscheidet.

Es gab keine Steinzeiternährung

Langsam setzt sich auch unter den eifrigsten Vertretern die Einsicht durch, dass es keine eine Steinzeiternährung gegeben haben kann. Der Mensch hat bei seiner Ausbreitung über den Erdball überall andere Nahrungsquellen gefunden. Afrika, Eurasien, Ozeanien und Amerika boten grundverschiedene Floren und Faunen. Mal überwog tierische, mal pflanzliche Kost, mal Fisch, mal Obst.

Da es keine eine Steinzeiternährung gab, könnte man argumentieren, dass es gar keine Steinzeiternährung gab. Denn wenn wir es nicht genau definieren können, ist eine Abgrenzung zwecklos. Selbst Begriffe wie Präindustrielle Diät oder Naturvolk-Diät sind recht diffus.

Ist Paleo sinnvoll?

Die Paleo-Diät oder Steinzeiternährung ist nützlich als sehr primitives Werkzeug. Etwa wie ein Hammer. Mit der gängigen, knappen Erklärung kann man jemandem im Vorbeigehen einen Leitfaden an die Hand geben. Das Resultat kann im Verbund gut und dauerhaft funktionieren. Ernährung und der Organismus sind allerdings viel zu komplex, um sie mit einem solchen Mittel vollständig erklären zu können. Insofern ist die Steinzeiternährung ähnlich dem Versuch, zwei Steine mit einem Hammer zu verbinden. Mit etwas Glück merkt niemand, dass die Einzelteile nicht zusammenhalten.

Was ist die Alternative?

Zum Essen gehört mehr als die Summe der Nährstoffe.

Zum Beispiel Nachhaltigkeit, damit wir auch morgen noch etwas zu essen bekommen.

Oder Genuss, um das Leben zu genießen und einen engen emotionalen Kontakt zur Quelle unseres Lebens, der Natur herzustellen.

Dogmen, „eindeutig richtige“ Regeln, Gesetze und Gebote können dem nicht gerecht werden. Bestenfalls Empfehlungen, vielmehr jedoch erprobte Erfolgsmethoden (auch bekannt als Traditionen) scheinen hier der geeignete Ansatz zu sein.

Getreide kann tatsächlich ungesund sein. Das hat jedoch gar nichts mit der Steinzeit zu tun.

Was tun?

  • Akzeptieren, dass Menschen, Genetik und Lebensstile zu divers sind, um allein über die Ernährung eindeutige Schlüsse ziehen zu können. Es kann keine eine perfekte Ernährung für alle geben.
  • Paleo (und Vegan und Rohkost)  ad acta legen und Ernährung frei von Dogmen, stattdessen ganzheitlich betrachten.
  • Gemeinsamkeiten der erfolgreichen Ernährungstraditionen erkennen: Viel frisches Gemüse, selbst gekochtes, kein Fastfood, keine stark verarbeiteten Lebensmittel, keine Produkte aus industrieller Intensivtierhaltung.
  • Etwas Bewegung schadet selten (davon hatten wir in der Steinzeit eindeutig mehr).
  • Nicht zu viel essen. Wer zu viel isst, wird fett.

*Mehr lesen

Wer mehr über die Menschheitsgeschichte erfahren möchte, dem lege ich Jared Diamonds „Guns, Germs, and Steel“ (ausgezeichnet mit dem Pulitzer-Preis) ans Herz (in Deutschland erschienen als „Arm und Reich: Die Schicksale menschlicher Gesellschaften„, jedoch weniger unterhaltsam übersetzt). Hätten Sie Gedacht, dass schon vor Kultivierung des Getreides Ernten von nahezu einer Tonne pro Hektar möglich gewesen wären?

Diamonds Werk „Der dritte Schimpanse: Evolution und Zukunft des Menschen“ ist ebenso lesenswert (im Original The Third Chimpanzee: The Evolution and Future of the Human Animal„.)

Weitere spannende Gedanken zu diesem Thema gibt es bei Ruppert und bei Sascha.

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