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Der Drache im Kochtopf

Jeder kann kochenDie Medien porträtieren Köche und Gastrokritiker als Helden und Weise im Kampf um die Tempel des guten Geschmacks: Restaurants. Derweil bekämpfen sich im Fernsehen vor wachsenden Zuschauerzahlen Menschen gegenseitig in der Küche. Dieses einschüchternde Bild der Küchenarbeit vermittelt, Kochen sei schwierig, mühselig und riskant. Doch das sind Legenden und Hirngespinste. Köche und Restaurants, Kochbücher und Kritiker sind nicht das Maß des Kochens. Das eigentliche Kochen findet anderswo statt.

In einem Restaurant im Schatten des Notre-Dame schaue ich überwältigt auf meinen Teller. Dort liegt ein Coq-au-Vin – ein Stück Huhn. Aus der Mikrowelle. Ein leider zu später Blick in die Küche zeigt drei dieser Geräte im Dauerbetrieb. Kurz bilde ich mir ein, das überhitzte und ausgetrocknete Häufchen Fleisch vor mir schaue mich mit einem weinenden und einem beschämt blickenden Auge an. Mein Mitgefühl ist ihm sicher.

Restaurants & Profiköche

Viele Restaurantbesucher kennen diese Momente der Enttäuschung. »Das hätte ich zu Hause besser hinbekommen – und günstiger!« ist ein häufiges Fazit. Und doch genießen die Profiköche weiterhin hohes Ansehen, werden teils wie Rockstars gefeiert. Doch was ist ein Profikoch? Der Profi definiert sich durch die Profession, den Beruf. Ein Profikoch ist streng genommen einfach jemand, der mit dem Kochen Geld verdient. Das setzt keine Ausbildung voraus, keine Erfahrung, kein Fachwissen und keine Qualitätsansprüche.

»Jeder kann kochen!« proklamiert die Figur des Auguste Gousteau im Pixar-Film Ratatouille und macht damit Mut, in die abenteuerliche Welt des Kochens einzutauchen und es einfach auszuprobieren. Später relativiert die Geschichte nur leicht: »Nicht jeder kann ein großartiger Koch sein; aber ein großartiger Koch kann von überall kommen.«

Allerdings bezieht sich der Film dabei auf die Leidenschaft für das Kochen und nicht auf die Professionalität. Die Nachricht: Wer etwas gerne macht, kann und soll es machen; ohne Zertifikat und Attest. Establishment und Institution haben keine Autorität.

Wer in der Fast Food-Branche Burger wendet oder Salate zusammenwirft, ist Profikoch. Ebenso wie jeder, der in einer Kneipe einen in Rapsöl ertränkten Strammen Max bereitet. Mit der Definition Profi kommen wir aufgrund der Qualitätsbandbreite nicht weiter. Zumal: Was passiert mit dem erfahrenen Profikoch, wenn er in Rente geht? Dann ist er kein Profi mehr – kaum jemand würde jedoch argumentieren, er verlöre damit auch seine Fähigkeiten als Koch.

Ultimatives Ziel eines Restaurants ist der finanzielle Gewinn. Das ist die wirtschaftliche Realität und Notwendigkeit dessen, was ein Restaurant ist: Ein Geschäft. Natürlich kann man in diesem Rahmen mit Liebe fantastisches Essen auf den Tisch bringen, das Kunsthandwerk weiterentwickeln und Menschen etwas beibringen. Doch das sind optionale Ziele, die wenige Köche verfolgen, zumal sie selbst häufig angestellte mit klar eingeschränkter Aufgabe sind: Gewinnbringend arbeiten.

Immer mehr Restaurants setzen nicht vornehmlich auf gutes Essen, sondern auf Erlebnisse, wie der stets wachsende Bereich der Event-Gastronomie zeigt. Mit etwas Feuerwerk und Augenwischerei ein Kaninchen aus dem Hut gezaubert (etwa Gürteltier-Filet mit Pastinakenschaum an Oktarinen-Anis-Crumble. Mit Blattgold.) und schon übertönt das Aussehen des aufwändig angerichteten und vielfach Smartphone-fotografierten Mahls dessen mäßigen Geschmack und die ahnungslose Kellnerin.

»Restaurants gibt es unzählige. Was hat das Kochen gewonnen? Ich würde eher sagen, was es verloren hat«, beklagt der Gastrokritiker Charles Monselet entsprechend bereits 1879.

Die Realität ist: Praktisch jeder kann ein Restaurant eröffnen. Qualität oder schmackhaftes Essen sind dafür keine Voraussetzungen. Das Mittelmaß genügt und auch das übelste Schnitzel kann ausreichen, um einer Gaststätte über Jahrzehnte Gewinne einzufahren.

Weder die Einrichtung des Restaurants noch der Status Profikoch sind also Garanten für gutes Essen. Wenn diese Adressen uns nicht weiterhelfen können, wo sonst können wir das wirkliche Kochen finden?

Fernsehen

Immer mehr Köche zieht es ins Fernsehen, wo sie unerklärt eine weitere Adelung ihrer Fähigkeiten erfahren. Wer sogar im Fernsehen kocht, habe es weit gebracht und müsse ein wirklich guter Koch sein. Das Attest gilt erschreckend weitreichend, wenn man bedenkt, dass nur die wenigsten Zuschauer mangels Geschmacksfernsehen die Werke dieser Köche je gegessen haben. Auch im Fernsehen kann jeder kochen.

Das Fernsehen konzentriert sich naturgemäß auf visuelle Aspekte. Das Essen (und das Kochen) soll gut aussehen und spektakulär oder inspirierend einfach wirken. Ob es echt ist und wie es schmeckt, spielt dabei keine Rolle, solange ausreichend flotte Sprüche fliegen und der Zuschauer dran bleibt.

Zu diesem Zweck rekrutieren die Produzenten auch Amateurköche. Das sind solche, die gleich ihrer Fähigkeiten, Hingabe und Ausbildung kein Geld mit dem Kochen verdienen und es nur als Hobby betreiben. Klar abzugrenzen also von den Profiköchen. Diese treten in zahlreichen Shows gegeneinander an, die Küche gerät wörtlich zur Arena. Das ist eine Lektion, die das Fernsehen uns vermitteln möchte: Man könne gegeneinander kochen.

Das Urteil über die Fähigkeiten fällt hinterher eine Jury. Wildfremde Menschen sitzen da als die Weisen der Gastronomie. Niemand von ihnen würde im echten Leben zu den Kandidaten nach Hause gehen und sich bekochen lassen. Dennoch, so zeigt das Fernsehen, haben diese zu Autoritäten aufgestuhlten Personen nun die Qualität des Essens zu beurteilen. Und das, nachdem die Kandidaten nicht nur gegeneinander, sondern auch gegen eine laut tickende Uhr gekocht haben.

Noch eine Lektion aus dem Fernsehen: Kochen ist ein Wettkampf. An dessen Ende entscheiden fremde Autoritäten definitiv über die Qualität.

Die Nachricht: Kochen ist anspannend, anstrengend und endet wahrscheinlich im Versagen. Liebe Zuschauer, macht das besser nicht zu Hause.

Kochbücher

Wer sich all dem entziehen möchte, die Suche nach guten Restaurants aufgegeben und das Fernsehen hinter sich gelassen hat, möchte es vielleicht doch noch selbst versuchen. Hilfe verspricht eine Unzahl von Kochbüchern. Rezepte und Traditionen aus aller Welt können wir im heimischen Bücherregal abrufen. Dorthin gelangen die Bücher, deren Inhalte viele Sammler selbst nicht ein einziges Mal nachgekocht haben, ganz einfach: Durch Versprechen höchster Genüsse. Transportiert überwiegend durch aufwändig produzierte Fotos projizieren sie ihre Geschichten von exotischen Aromen und einfacher Zubereitung in die Vorstellung der Betrachter (selten: Leser) und schaffen sich so Platz im Portemonnaie.

Angekommen in der Realität der heimischen Küche schlafen viele dieser ehemals strahlenden Bücher sofort ein. Exotische Zutaten, nicht verfügbare Geräte, schlechte Beschreibungen, mehrstündige Vorbereitungszeiten oder, erschütternderweise, enttäuschend armseliger Geschmack der aufwändigen Ergebnisse stehen der Umsetzung der Traumfotos im Weg.

Ohne Frage gibt es echte Juwelen in der Welt der Kochbücher. Meist sind sie sehr schlicht produziert und enthalten wenige bis gar keine Fotos. Stattdessen dringen Seite nach Seite wertvolle Informationen auf den Leser ein, gesammelt über Jahrhunderte und zusammengetragen von Generationen. Diese Art Buch findet man so selten wie einen Trüffel.

Das Gros der erhältlichen Kochbücher jedoch existiert scheinbar in einer biblischen Parallelwelt der Perfektion, welche keine Variation zulässt und in der nichts schiefgehen kann – es sei denn, der Hobbykoch macht etwas falsch. Die Botschaft demgemäß: Wenn das Ergebnis nicht genauso aussieht, muss der Hobbykoch etwas falsch gemacht haben.

Das echte Kochen: Zu Hause

Kochen mache uns menschlich, argumentieren einige Wissenschaftler und Autoren*. Es ist eine der definierenden Fähigkeiten unserer Spezies. Sicherlich haben wir gekocht, bevor es Fernseher und Kochbücher gab und auch vor der Eröffnung des ersten Restaurants.

Ziel des Kochens war zunächst allein die Ernährung, wozu mindestens als Mittel zur Wahl der besten Lebensmittel immer auch guter Geschmack gehörte. Menschen in aller Welt kochten und aßen gemeinsam. Traditionell sind es meist Großmütter und Mütter, die für ihre Familien kochen und sie ernähren und – nach Kräften – mit höchstem Genuss verzaubern.

Das ist das echte, das eigentliche Kochen. Es ist das Kochen, das Eltern an ihre Kinder weitergeben und so bewahren und immer weiter verbessern. Es ist eine Quelle der Tradition, es definiert uns kulturell. Es ist das täglich Kochen; das Kochen, das unsere Zivilisation aufgebaut hat. Es ist das einfache Kochen, das jeden Tag Menschen sättigt und das Überleben sichert.

Kochen ist einfach. Es ist kein Wettkampf, es braucht kein Diplom, keine Institution. Jeder kann kochen. Jeder darf kochen.

Der Haken: Die Definition des Kochens?

In Kochen – eine Naturgeschichte der Transformation* sieht der Autor Michael Pollan sich mit einer viel früher ansetzenden Definitionsfrage konfrontiert. Um herauszufinden, wie viele US-Amerikaner selbst kochen, schaut er in die Statistiken der Marktforscher. Nach deren Definition ist Kochen die Kombination zweier Zutaten. Wer eine Packung mit Salatmix öffnet und darüber ein Fertigdressing aus einer weiteren Tüte gibt, koche demnach bereits.

Diese Perspektive der Marktforscher verdeutlicht die Vielfalt der titelgebenden Frage, ist jedoch nur von akademischem Interesse. Werfen wir einfach einen Blick in eine Vergangenheit, in der unsere Kochtradition noch stark verbreitet war: Bis vor rund 100 Jahren gab es kaum Fertigprodukte. Erst im Zuge der Industrialisierung und durch die technische Entwicklung während der Weltkriege zur Versorgung der Soldaten änderte sich dies. Die Verarbeitung von Lebensmitteln zeigte sich für die Industrie erheblich profitabler als die Erzeugung. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts füllen immer mehr sogenannte Convenience-Produkte, Fertiggerichte und helfende Pülverchen die Lebensmittelregale und das Essen nahm zusehends Züge von Feldrationen an.

So drängte sich die Lebensmittelindustrie mit dem Versprechen von mehr Freizeit (hatten wir vorher zu wenig?) und der Befreiung der Frauen in die Küchen. Viele Frauen zu jener Zeit zogen allerdings eine klare Linie*: Anders als die übrige Hausarbeit mochten nicht wenige das Kochen als kreative Tätigkeit. Diese Ambivalenz geriet unter die Räder der Werbebotschaften, die im Fahrwasser des Feminismus dazu ermutigten, unangenehme Gespräche über Arbeitsteilung einfach zu meiden und das Kochen ganz der Industrie zu überlassen. Deren Werbung richtete sich dennoch weiter überwiegend an Hausfrauen.

In Urgroßmutters Küche hätten wir demnach das eigentliche Kochen noch entdecken können: Das Kochen aus sorgfältig ausgesuchten und selbst geschnittenen Zutaten, mal rudimentär, mal ausgeklügelt, jedoch immer mit einer zentralen Zutat: Liebe. Dies weiterzutragen liegt in unser aller Macht und Verantwortung.

Selber machen

Kochen ist eine gesunde Angewohnheit: Je mehr eine Nation selbst kocht, desto geringer ist die Verbreitung ernährungsbedingter Krankheiten. Lassen Sie sich nicht von vermeintlichen Autoritätspersonen, Institutionen oder Medien verängstigen, denn dazu gibt es keinen vernünftigen Grund.

Kochen ist einfach und es erfordert kein Fachwissen. Wenn Sie ihr Frühstücksei salzen, oder ihr Brot sorgfältig mit Butter und Marmelade bestreichen, trägt dies bereits Grundzüge des Kochens in sich, sofern Sie nach bewusstem Ermessen handeln. Das Kochen richtet sich immer auch an die Sinne. Achtsamkeit, Aufmerksamkeit und Bewusstheit sind die Grundvoraussetzungen nicht nur für das Kochen, sondern für ein erfülltes Leben. Das sind sehr einfache Dinge, über die wir alle verfügen.

Deswegen kann jeder kochen. Ohne Schwert und ohne Rüstung, denn im Kochtopf sitzt kein böser Drache. Und die einzige Magie im Spiel ist die Liebe, die Sie dem Gericht widmen.

Wenn Sie eigentlich gerne kochen würden, aber den Aufwand fürchten, denken Sie nicht an den Zeitaufwand oder die Häufigkeit. Sie müssen keine Karriere als Profikoch beginnen, sondern kochen nur ein Gericht. Ein einziges. Sie müssen nicht mit drei Mahlzeiten täglich beginnen.

Wie sieht es am nächsten verregneten Sonntag aus? Sie könnten gelangweilt vor dem Fernseher sitzen. Oder Sie können mit angeregten Sinnen in der Küche Aromen erkunden und sich und Ihren Mitmenschen dabei etwas Gutes tun. Es ist Ihre Wahl.

Buchtipps zum Thema:
Die folgenden Bücher legen auf unterschiedliche Weise die Verbindung des Menschen mit dem Kochen dar. Im Original empfand ich sie als großartige, fundierte und fesselnd geschriebene Lektüre.

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