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Hürdenlauf der Wahrnehmung

Ungetrübte Wahrnehmung von FenchelOliver verzieht das Gesicht. »Heidelbeeren mag ich nicht, die sind mir zu sauer.« So schiebt er eine Schale frisch gepflückter Heidelbeeren als Dessert von sich. Weil er als Jugendlicher mal eine saure Heidelbeere erwischt hat. Oliver gehört damit zu den vielen Menschen, die ihrer ungetrübten Wahrnehmung drei Hürden in den Weg stellen.

Wir wissen gar nichts

Wer einmal Kartoffelsalat gegessen hat, weiß dadurch nicht, was Kartoffelsalat ist. Sondern lediglich, wie ein Lebensmittel mit dem Namen Kartoffelsalat aussehen und schmecken kann. Wir verwechseln die Kenntnis von Namen mit Verständnis.

In der Schule ist unsere Aufgabe, die Namen von einem Dutzend Ländern, Flüssen und Vögeln auswendig zu lernen. Wir lernen dadurch gar nichts über diese Länder, Flüsse und Vögel. Wir begreifen nicht ihr Wesen, ihre Geschichte, Kultur und Verhaltenswei­sen. Solch ein Bildungssystem verschuldet eine Tragödie. Wer darin auf­wächst, wird möglicherweise im Supermarkt eine Tüte gefrorener Erdbeeren kaufen, sie auftauen und das jämmerliche Resultat essen und daraufhin entscheiden, dass er keine Erdbee­ren mag und sie nie wieder anrühren. Weil er, so wie Oliver, Erdbeeren schon zu ken­nen glaubt. Das stand schließlich auf der Tüte.

Gleiches gilt für Oliven, Pasta, Steak, Rosenkohl, Heidelbeeren, Parmesan und den Whiskey, in dem ich versucht bin, diese Tragödie zu ertränken.

Ist die Lösung, jedem Lebensmittel wenigstens eine zweite Chance zu geben? Kaum. Selbst das Probieren von zehn verschiedenen Kartoffelsalaten genügt nicht zum Fällen eines Urteils. Denn jeder Kartoffelsalat ist anders. Besonders der, den man selbst zube­reitet – nach eigenem Geschmack.

Feinheiten ändern alles. Nicht nur schmeckt ein beliebiger Marken-Bio-Maisgrieß stark nach Nichts, wenn ich daraus eine Polenta anrühre. Selbst wenn ich den köstli­chen, statt auf Ertrag für besseren Geschmack gezüchteten, italie­nischen Ottofile mais verwende, bleibt offen, wie viel besser er schmeckte, wüchse er auf außerordent­lich gutem Boden.

Und die Zubereitung? Geschmacklich liegen Welten zwischen einer zwei Stunden lang unter ständigem Rühren gegarten und einer innerhalb von zehn Minuten fertig­ge­stell­ten Polenta. Das Ergebnis sieht immer gleich aus. Es heißt immer Polenta. Doch es sind völlig verschiedene Gestalten. Polenta ist kein Ding. Polenta ist eine Idee. Die Umsetzung ist völlig offen.

Diese Unterscheidung ist wichtig. Der Hobbit ist eine wundervolle Idee. Peter Jack­sons Um­set­zung fand ich schrecklich. Die mächtige Idee AC/DC ist für mich unerträg­lich ohne Malcolm und mit Axl.

Die Gleichsetzung, also die Identifikation von Dingen mit Ideen ist einer der Irr­tü­mer, denen Oliver unterliegt. Er identifiziert Ideen mit Eigenschaften und legt sie in beschrifteten Schubladen ab.

Ein weiteres Hindernis ist die Angewohnheit, alles zu beurteilen und diese Bewertung an die Stelle der Wahrnehmung zu setzen.

Wenn es regnet, regnet es. Regen ist kein schlechtes Wetter, sondern eine nüchterne Tatsache. Ein Urlauber mag ihn hassen, mancher Landwirt freut sich über ihn. Wer bewertet, beschränkt sich selbst. Nämlich auf die eingenommene Perspektive. Eine Bewertung sagt alles über den Wertenden und nichts über das Bewertete. Was dem einen nichts ist, ist dem anderen alles.

Indem Oliver murrt »Das Essen schmeckt nicht«, sagt er eigentlich: »Ich bin unfähig, dieser Mahlzeit etwas Positives abzugewinnen.« Doch nicht immer muss die sinnliche Befriedigung uns ins Gesicht schreien. Statt auf das Erfahren süßen, salzigen oder knusprigen Geschmacks zu warten, können wir einfach achtsam bleiben und das Erlebnis erkunden. Wie fühlt sich das an? Was macht es mit meinen Sinnen? Wenn wir die Wertung unterlassen, können wir direkt und unbefangen erleben.

Oder Oliver erlebt keine ihm bekannte sinnliche Befriedigung. Es schmeckt nicht wie ge­wohnt oder wie nichts Bekanntes. Wer überwiegend Süßigkeiten isst und zum ersten Mal Obst probiert, kann häufig den komplexen Aromen und verschiedenen Textu­ren zunächst nichts abgewinnen. Den Sinnen mangelt es dann an der Kapazität, das Erfass­te zu verarbeiten. Ein nichtssagendes Erlebnis ist das Resultat. Es folgt der Schluss: Ich fühle keine Befriedigung, also mag ich es nicht.

Das ist die Folge vorheriger Wertungen. Das Geschmackserlebnis war neu und hatte keinen Platz im eigenen, fixen Wertesystem.

Ekel ist in diesem Kontext eine Bewertung der eigenen Fantasie. Die verbreitete Ableh­nung von Innereien wie Leber und Herz zum Essen, ein Anzeichen wachsender Ent­fremdung vom Ursprung unserer Lebensmittel, gilt oft allein der Vorstellung und nicht dem tatsächlichen Geschmack.

Wertungen beschränken die Wahrnehmungsfähigkeit. Und das Gleichsetzen von Ideen mit Dingen, beschränkt den Horizont. Mit beiden verwoben ist die dritte selbst­auf­er­legte Beschränkung: Erwartung.

Erwartungen beziehen sich auf die Zukunft. Sie existieren nur im Kopf und sprießen häufig aus vergangenen Wertungen und Vermutungen. Etwas Schönes erregt Vor­freude, etwas Unangenehmes ein Warnsignal. Gefällt uns das Lebensmittel, verputzen wir es. Gefällt es uns nicht, verzichten wir. Beides sind einfache Entscheidungen nach dem Schubladenprinzip. Ein bisher unbekanntes Lebensmittel wirkt jedoch bedrohlich in der Welt der beschrifteten Schubladen, denn es verursacht Unordnung. Die Folge kennt der Volksmund: Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht. Er beendet sein Leben am Horizont, markiert durch das untere Regalbrett direkt vor seinem Kopf.

Verhindern können wir das nur, wenn wir alle drei Ein­schrän­kun­gen eigenständig ablegen. Denn das Ausprobieren neuer Dinge hilft nicht, wenn diese sogleich wieder in Schubladen landen und dort unter einer Wertung verstauben.

Was bedeutet das für den Alltag?

Mindestens so wichtig wie die Bereitschaft neue, fremde Dinge auszuprobieren, ist, selbst diese neuen Dinge zu erschaffen und anzupassen. Wer im Urlaub immer nur dorthin fährt, wo die Freunde im letzten Jahr so einen tollen Urlaub hatten oder wovon die Fotos im Internet toll aussehen, wird nie eigene Entdeckungen machen. Die Fahrt ins Blaue ist ungewiss. Ein Abenteuer. Der Mensch scheut das Unbekannte. Doch mit offenen Augen und wachem Geist ist das Unbekannte der Ort, an dem wir lernen und wachsen. Und mit genau dieser aufmerksamen Geisteshaltung offenbart auch das scheinbar Bekannte immer neue Wunder. Der langweilig geglaubte Kartoffel­salat kann beim elften Versuch Freudentränen hervorkitzeln.

Erwartungen, positive wie negative, schränken oft ein. Wer Gutes erwartet, kann enttäuscht werden. Wer Schlechtes erwartet, ist voreingenommen oder wird es gar nicht probieren.

Ratsam ist, beim Ablegen von Erwartungen auch für unerfreuliche Erlebnisse bereit zu sein (was ohne Wertungen leichter fällt). Niemand hat gesagt, Abenteuer seien immer schön. Ungeplante Abenteuerreisen führen auch in trostlose Dörfer, zugige Bahnhofs­wartehallen und mückenbesetzte Bruchbuden. Weise ist, wer auch aus diesen Erfah­rungen das Positive zieht, lernt und seine Instinkte schult. Eine gute Erdbeere regt auch deswegen an, weil man aus der gleichen Schale vielleicht schon drei weniger Gute über seine Zunge hat ergehen lassen. Echte Lebensmittel unterliegen natürlichen Schwankungen. Damit bieten Sie uns ständig neues Potential für Abenteuer und betonen die Glücksgriffe.

Und natürlich muss man nicht alles ausprobieren. Man muss kein Heroin ausprobie­ren. Man muss auch kein Fleisch kosten. Betrachten wir jedoch Unbekanntes stets als Risiko eines schlechten Erlebnisses, ist das Angst, Erwartung und Wertung zugleich. Formuliert man das Risiko um, wird daraus eine Chance. Eine Chance, etwas Neues zu erfahren, zu lernen und zu wachsen.

Wie kann ich offener für neue Eindrücke und Erlebnisse werden?

Drei selbst aufgestellte Hürden stehen unserer ungetrübten Wahrnehmung im Weg:

  • Die Identifikation von Ideen mit Dingen
  • Die Angewohnheit des Bewertens
  • Die Angst vor dem Unbekannten

Wer sie erkennen lernt und möglichst oft beseitigt, ermöglicht sich viele neue und erfreuliche Erlebnisse. Möglichst unvoreingenommenes und furchtloses Erfahren der Welt kann die Sinne schulen und Achtsamkeit pflegen.

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