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Nährstoffmangel durch Social Media

Die sozialen Medien rauben uns einen Nährstoff. Die Folge: Unzufriedenheit und Erkrankungen, Heißhungerattacken und Übergewicht.

Protein, Fett und Kohlenhydrate, Vitamine, Mineral- und Pflanzenstoffe: Wir haben eine Vielzahl von Nährstoffen eindeutig identifiziert. Unser Körper braucht das Zeug teils zum Überleben. Weniger geschickt gehen wir mit Nährstoffen um, die wir nicht greifen können. Meditation zum Beispiel. Oder Zufriedenheit.

In unserer westlichen Kultur neigen wir dazu, gemäß des wissenschaftlichen Reduktionismus nur jene Dinge mit Wert oder Glaubwürdigkeit zu belegen, die wir eindeutig – eben wissenschaftlich – messen können. Was soll das sein, diese Zufriedenheit? Zeig her, leg sie hier auf den Tisch oder hör auf mit dem Gefasel.

Aber wir alle wissen: Es gibt Zufriedenheit. Wir alle streben danach. Wir wissen auch: Sie ist Mangelware. Das liegt auch daran, dass die meisten Menschen gar nicht wissen, was Zufriedenheit ist.

Wer unzufrieden ist, findet nicht selten Trost im Essen. Und futtert sich einen Wanst an. Der Biss in die Tafel Schokolade mag befriedigen.

Doch Zufriedenheit ist nicht Befriedigung. Befriedigung kann man einfach herstellen. Mit einem Schokoriegel, ’nem Hundert-Euro-Schein oder einem Zug aus ’nem Joint.

Doch was hat das mit sozialen Medien zu tun und wie können sie uns diesen Nährstoff rauben? Woher kommt der Heißhunger?

Knabbern, Kiffen, Kaufen: All das sind Ersatzbefriedigungen. Mit Geld kann man viele davon kaufen und deswegen laufen so viele Menschen dem Mammon hinterher und darüber finden sie eine Gemeinsamkeit und eine Vergleichbarkeit. Schon das stürzt jedoch viele in noch tiefere Unzufriedenheit, weil sie dann sehen: Andere haben mehr Geld.

Andere haben mehr Geld. In dem Satz steckt der Schlüssel für die Tür aus dem Gefängnis der Unzufriedenheit. Es ist nicht das Geld. Es ist auch nicht »haben mehr«. Es ist: Andere.

Nein, nicht die anderen Menschen sind Schuld an deiner Unzufriedenheit. Sondern dein Blick auf sie. Deine Beschäftigung mit anderen anstelle deiner selbst. Deine Erwartungshaltung, dass dein Leben, dein Besitz, deine Fähigkeiten deren entsprechen müssten. Deine Unkenntnis deiner eigenen Person, deines Charakters, deiner Träume.

Der Mensch ist ein Gemeinschaftstier und in unserem sozialen Gefüge beeinflussen wir uns gegenseitig. Das war schon immer so und das ist lebenswichtig: Wir schaffen Werte und Normen und halten uns daran, damit wir uns nicht dauernd gegenseitig den Schädel einschlagen. Hinweise auf solche sinnvollen Regeln des Zusammenlebens finden wir in Bibel und Koran, in Überlieferungen des Buddhismus und so fort. Praktisch läuft das alles auf einerlei hinaus. Der Punkt ist: Wir leben nicht in Isolation, sondern gemeinsam und da muss man auch auf andere Menschen achten, sei es nur zur Rücksichtnahme.

Jedoch haben wir noch nie in der Geschichte der Menschheit auf alle Menschen der Welt geschaut und uns auf jene mit ähnlichen Interessen konzentriert. Bis vor rund 15 Jahren.

Fernsehwerbung sollte in uns Bedürfnisse wecken, Unzufriedenheit auslösen die wir dann auflösen durch den Kauf von Gütern. Das hat mäßig funktioniert, denn für mich als Mann ist das entspannte Lächeln einer Frau durch das Finden der perfekten Damenbinde eben nicht von Bedeutung. Werbung für dickere Autos, Fernseher oder Getränke ist stets nur von Interesse für einen Teil der Zuschauer. Die Werbepause im Fernsehen nutzten man für den Gang zur Toilette oder zum Holen von Knabberkram oder für ein Gespräch oder einfach mal zum Nachdenken.

Bis dann vor rund 15 Jahren Smartphones einzogen und zur gleichen Zeit die sogenannten soziale Medien in Begleitung massiver Datensammlungen. Nicht nur ist Werbung seitdem viel zielgerichteter: Das Netz kennt deine Interessen und Gewohnheiten. Werbung wird auf dich zugeschnitten und du findest sie stets interessant. Obendrein steckt dieses Gerät stets in deiner Tasche und über die asozialen Medien siehst du ständig, was deine Mitmenschen treiben, wo sie ihren Urlaub verbringen, was sie sich kaufen und was sie überhaupt tun.

Von dem folgenden Sozialneid hast du vielleicht schon gehört: Die meisten Menschen posten nur die Höhepunkte ihres Alltags, nie die Banalitäten oder Tiefpunkte. Die Folge ist ein verzerrtes Bild. Du siehst ständig vermeintlich glückliche Menschen und bei Betrachtung deines langweiligen Alltags fühlst du, dir würde etwas entgehen. Zack. Unzufriedenheit durch falsche Erwartungen.

Viel perfider sind die scheinbar nützlichen Aspekte des Internet. Nehmen wir YouTube: Es gibt dort ohne Zweifel ausgesprochen hilfreiche Videos, die genau dein Problem lösen. Zum Beispiel: Wie spiele ich Für Elise auf dem Klavier. Wenn du es mit traditionellen Mitteln nicht hinbekommst, findest du bestimmt ein passendes Video im Internet, das genau deinem Lerntempo entspricht. Du lernst das Stück schnell und freust dich. Und dann abonnierst du den Videokanal, weil der so hilfreich war.

Und von nun an torpediert dieser Kanal dein Leben. Egal ob täglich oder wöchentlich oder monatlich: Er veröffentlicht Videos, die du interessant findest und du schaust sie dir an. Du investierst Zeit in diese Videos. Statt dein eigenes Leben zu verfolgen, verfolgst du den Kanal. Vielleicht erzählt er dir etwas von den 5 Stücken, die jeder Pianist spielen können muss!!!!!! und du denkst dir: Oh, ich will zwar kein Pianist werden, aber ich möchte gut spielen können. Es ist wohl besser, wenn ich das lerne. Und schon bist zu unzufriedener, weil du noch unvollständig bist, bis du diese Sachen kannst.

Stell dir vor, du abonnierst nur fünf solcher Kanäle. Dein ganzes Leben wird sich verändern allein aufgrund der Suggestionen dieser Kanäle – ganz gleich, ob du ihnen nachgehst oder nicht.

Das alles ist nicht neu. Neu hingegen sind die Algorithmen, die diese Vorschläge steuern. YouTube empfiehlt dir nicht larifari irgendwelche Videos, sondern ein extrem ausgefeiltes Programm analysiert deine sämtlichen angeschauten Videos und sucht dann etwas heraus, das dir wahrscheinlich gefällt. Alles wird immer interessant aussehen. Interessant sollte jedoch kein Kriterium sein, um dir etwas anzuschauen. Interessant ist viel. Die Physik eines Maschinengewehrs, das Wachstum einer Haselnuss, oder die Mechanik eines Klaviers: All das ist interessant. Aber das allerwenigste davon ist für dich von Belang.

Aber du sitzt nun da und schaust diese Videos und Fotos an und bist unterhalten. Und du denkst nicht mehr nach und verfolgst deine Träume nicht mehr und lebst nicht mehr vor dich hin, sondern stehst ständig unter dem Einfluss anderer Menschen und Organisationen.

Vor 15 Jahren hättest du einfach Freude am Klavierspielen gehabt, egal wie mäßig dein Talent oder deine Entwicklung. Alles war einfach. Du hast deine Stücke gespielt und draußen ging die Welt weiter und das war völlig in Ordnung. Du wusstest genau, wer du bist: Ein junges Mädchen, das einfach lebt und bald eine Lehre als Mechanikerin anfängt. Mit ganz viel Zeit zum Draußenrumlaufen, in der Badewanne liegen, und einfach mal ins Nichts schauen und nachdenken. Träumen. Reflektieren. Und sich freuen, wie schön das Leben ist.

An dieser Stelle wollte ich den Artikel beenden. Aber was ist dann das Fazit? Ich kann die Zeit nicht anhalten, nur meinen Umgang mit der Situation darlegen. Dazu ein paar Erkenntnisse.

  1. Man muss nicht immer erreichbar sein. Ich bin freiberuflich tätig und nach wie vor telefoniere ich praktisch nur übers Festnetz.
  2. Emails sind nicht mein Chef. Emails rufe ich höchstens einmal am Tag ab und ich lasse sie auch mal ’ne Woche liegen.
  3. Die asozialen Medien bringen auch ein paar Vorteile, aber unterm Strich sind sie ein großer Nachteil (es sei denn, du willst Menschen etwas verkaufen).

Die Konsequenz aus diesen Punkten: Ich habe mein Smartphone fast nie bei mir und es befindet sich fast den ganzen Tag im Flugzeugmodus. Eine Datenrate habe ich nicht und ich kann unterwegs nicht ins Internet.

Für YouTube habe ich mir eine Erweiterung installiert, die jegliche Empfehlungen ausblendet. Was für ein wundervolles Leben: Ich sehe nur noch die Videos, die ich gesucht habe.

Aber das sind nur die ersten Schutzmaßnahmen. Viel wichtiger ist das Nachdenken und Reflektieren. Wer bin ich? Wer will ich sein? Was ist für mich wichtig? Wie kann ich Zufriedenheit erlangen, damit ich zu meiner Gemeinschaft1 beitragen kann? Sascha Fast hat ein tolles Buch darüber geschrieben.

Fußnoten

  1. Inflationär ist im Internet der Begriff Community. Gemeinschaft. Das Internet bietet jedoch keine solche. Gemeinschaft sind Menschen von Angesicht zu Angesicht. Es gibt tolle Vereinigungen im Internet, wirklich hilfreiche Gruppen die bestimmt schon Leben gerettet haben. Aber Gemeinschaft geht anders. Das merkt jeder, der nachts den Computer ausschaltet und sich plötzlich einsam fühlt. Leider kann so jemand oft nicht den Finger auf das legen, was da nicht stimmt.

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