Zum Inhalt springen

Wie die Wahl uns krank macht (und was wir dagegen tun können)

WahlRind oder Schwein? Oder doch Hähnchen? Lauch dazu? Tomaten? Oder doch lieber ein Croissant? Warum nicht alles zusammen? Wir haben Überfluss geschaffen, Entfaltungsmöglichkeiten und Freiheiten für jeden. Und das feiern wir und gratulieren uns zu Fernsehgeräten in allen Farben des Regenbogens, Handys für jede erdenkliche Handgröße und mit Regalen voller Kartoffelchipsorten. Und nun können wir wählen. Nein, wir müssen wählen.

Ist es nicht gut, immer die freie Wahl zu haben?

Die Wahl zu haben klingt nach etwas Gutem und immerhin betonen Medien, Industrie und Politik stets, wie erstrebenswert diese Situation sei. Sehen wir einmal davon ab, dass die von gerade diesen Institutionen gebotene Wahl tatsächlich eine Gaukelei ist (denn sie alle bieten in ihrem Feld stets das gleiche): Was genau bedeutet es, zu wählen?

Zu wählen bedeutet, eine Entscheidung zu treffen. Die Entscheidung zum Wahrnehmen einer Gelegenheit oder nicht. Oder die Entscheidung für eine bestimmte Gelegenheit von vielen.

Wählen heißt entscheiden. Und bewusste Entscheidungen sind mit Überlegungen verbunden. Es gilt immerhin abzuwägen, was wohl die richtige Wahl sein mag. Es ist vielen Menschen nicht bewuss, doch dies bedeutet Stress für das Gehirn. Es wird aufgefordert, zu reagieren. Und mit jeder Wahlmöglichkeit steigt die Zahl der zu durchdenkenden Szenarien. Und damit der Stress.

Dies ist auch verbunden mit der Angst, möglicherweise nicht die beste Entscheidung zu treffen und mit dem Gefühl, dadurch etwas zu verpassen.

Das ist doch unvermeidlich, oder?

Sicher. Wir müssen einige Entscheidungen im Leben selbst treffen. Jeder von uns hat die Wahl, morgens einfach im Bett liegen zu bleiben oder aufzustehen. Die Wahl, etwas zu essen oder nicht. Oder zu sprechen. Einige Entscheidungen nimmt uns der Körper ab oder er erleichtert sie uns, gibt uns Hinweise. Das Atmen können wir bewusst nicht vollständig einstellen. Da haben wir keine Wahl.

Irgendwann meldet sich der Hunger und der Körper fordert Nährstoffzufuhr. Der Magen knurrt. Das ist eine Entscheidungshilfe. Der Körper hat seine Wahl schon getroffen, er möchte etwas essen. Die möglichen Szenarien sind zudem überschaubar. Eine einfache, stressarme Entscheidung.

Doch in der heutigen Zeit kommen besonders in den Industrienationen viele neue Wahlmöglichkeiten hinzu. Welche Ausbildung soll ich machen, welchen Beruf ergreifen? Welches Auto sollte ich kaufen, welches mag das beste sein? Was soll ich essen? Soll ich das hellblaue oder das dunkelblaue T-Shirt kaufen?

Gerade, wenn viel auf dem Spiel steht, wenn die Tragweite der Entscheidung groß ist, es also um viel Geld oder Lebenszeit geht, ist der Stress gewaltig. Ein Mensch, der eine solch große Entscheidung zu treffen hat, ist oft unzufrieden. Die Entscheidung fällt ihm schwer. Er bittet andere Menschen um Rat, holt Empfehlungen ein, liest womöglich Test- oder Erfahrungsberichte.

All dies sind oft Versuche, die Entscheidung auf jemand anderen abzuwälzen oder wenigstens die Last zu teilen. Dann kann man hinterher wenigstens auf jemand anderen zeigen und sich über den schlechten Rat beschweren. Die Verantwortung abgeben.

Denn zu wählen, also Entscheidungen zu treffen bedeutet auch, Verantwortung zu übernehmen. Und auch Verantwortung bedeutet Stress, denn wer sie trägt, ist Rechenschaft schuldig und somit in der Regel anderen Menschen verpflichtet. Das kann ein aufgenommener Kredit sein oder schlichtweg die Rolle in der Gesellschaft und im juristischen System.

Aber wir können daran doch nichts ändern, oder?

Doch. Menschen tun das regelmäßig, indem sie „ihren Platz in der Gesellschaft“ einnehmen. Es gibt Gesetze und staatliche Empfehlungen, die dem Individuum viele Entscheidungen abnehmen. Beispiel für solche ein Gesetz ist zum Beispiel in vielen Ländern die Schulpflicht. Staatliche Empfehlungen, welche oft sehr ernst genommen werden, wären zum Beispiel Ernährungsempfehlungen.

Der Platz in der Gesellschaft ist oftmals der eines Zahnrads im Getriebe. Niemand muss arbeiten (jeder hat die Wahl), jedoch impliziert die Notwendigkeit von Nahrung, der Wunsch nach Obdach sowie die von der Industrie geweckten Konsumbegehren praktisch eine Arbeitspflicht. Arbeiten, um Geld zu verdienen. Um wählen zu können, was man denn kaufen könnte.

Historisch gesehen ist diese Situation neu für uns. Noch vor 150 Jahren hatten Menschen kaum Auswahl, sie lebten meist nicht im Überfluss, das Leben drehte sich viel häufiger um das Überleben: Lebensmittel waren teurer und knapper, es arbeiteten mehr Menschen direkt in der Produktion von Lebensmitteln, versorgten sich selbst. Oder sie arbeiteten sehr hart für relativ wenig Geld, um ihr Überleben zu sichern, um allein ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Ob man nun Sozialpädagogik oder Pferdepsychologie studieren sollte, stand kaum zur Debatte und die Farbe der Bekleidung spielte meist keine Rolle, solange sie warm hielt.

Heute, in der Überflussgesellschaft, können wir es uns leisten, vielen Menschen ein unabhängiges Leben zu ermöglichen, das soziale Netz erlaubt allerlei Experimente und ungeahnte Freiheiten. Dazu gehören unzählige neue Wahlmöglichkeiten und ein entsprechend hoher Stress, wie er für unseren Organismus vormals unbekannt war.

Ist es also schlecht, die Wahl zu haben?

Der renommierte Psychologe Barry Schwartz beschreibt in seinem Buch Anleitung zur Unzufriedenheit: Warum weniger glücklicher macht (engl. The Paradox of Choice: Why More Is Less) sehr eindrucksvoll, dass tatsächlich eine geringere Auswahl den Menschen glücklicher macht. Dazu gibt er auch Hinweise, wie sich viel Stress und Unzufriedenheit vermeiden lassen.

Ist es schlecht, die Wahl zu haben? Auf jeden Fall ist es ein zweischneidiges Schwert. Eines, das unsere Gesundheit durch den verursachten Stress nachhaltig zu beschädigen in der Lage ist. Viele Manager (ein Beruf, der eingedeutscht auch Entscheider heißen könnte) können davon ein Lied singen – oder nicht mehr, weil sie daran zugrunde gegangen sind. Doch alle Menschen sind betroffen. An der Situation wird sich so schnell nichts ändern. Wie auch im Bereich der Ernährung gilt es also, sich gegen diesen Stress zu wappnen.

Wie kann ich unnötigen Stress vermeiden?

Es gibt recht einfache Schritte, um das tägliche Bombardement der Wahl möglichst unberührt zu überstehen. Diese Konzepte helfen mir täglich im Leben:

1. Bewusstsein schaffen

Schärfen Sie ihr Bewusstsein für das, was mit Ihnen passiert, wenn Sie eine Entscheidung treffen. Selbst die Frage „Was sollen wir heute Abend essen?“ unterbricht oft den gerade aktiven Denkprozess und setzt die Entscheidungsmaschinerie in Gang. Machen Sie sich klar, wie oft dies am Tag (bislang unbemerkt) passiert.

2. Entscheidungen minimieren (delegieren und eliminieren)

Das einfachste ist sicher, die Entscheidungen anderen Menschen zu überlassen. Gerade wenn es unkritische Entscheidungen sind, ist dies ein sehr effizienter Weg. Wenn Ihr Familienmitglied also fragt „Was sollen wir heute Abend essen?“, antworten Sie mit „Das kannst du selbst entscheiden.“ Das raubt Ihnen zwar die eigene Wahl, doch zu essen bekommen Sie trotzdem etwas.

Überlassen Sie Entscheidungen so oft wie möglich anderen Menschen. Diese haben oft eigene Pläne und Ziele, die sie durch die Wahl erreichen können. Zu delegieren und weniger wichtige Entscheidungen loszulassen ist eine wichtige Fähigkeit, die auch viele Manager oft zu spät oder gar nicht lernen. Lassen Sie häufiger los. Das Leben geht trotzdem weiter.

Ein Tipp: Die oft einfachste und beste Wahl ist zugleich die am seltensten suggerierte: Der Verzicht. So zum Beispiel beim Fernsehen.

3. Prioritäten setzen

Entscheidungen sind wesentlich einfacher zu treffen, wenn die Ziele feststehen. Wenn ich nicht weiß, was zu Essen einkaufen soll, mein klares Ziel jedoch gesunde Ernährung ist, dann beseitigt dies 95% der Supermarktware aus meiner Auswahl, welche dann entsprechend leichter fällt. Die zahlreichen Werbezettel mit Probeabos im Briefkasten können direkt im Müll landen, wenn mein Ziel ist, meine Zeit nicht mit dem Überfliegen drittklassiger Zeitschriften und Abokündigungen zu verschwenden. Möchte ich meine 20kg Übergewicht abbauen? Dann sollte ich weder den Amerikaner noch den Berliner essen.

Seine Ziele (besonders Lebensziele) klar zu definieren und sich zu vergegenwärtigen, macht vieles einfacher und klärt den Blick in allen Situationen. Wenn eine Entscheidung ansteht, fragen Sie sich „Was ist mein Ziel?“ und handeln Sie dann so, dass Ihrer Einschätzung nach der größte Forschritt in Richtung dieses Ziels erreicht wird.

4. Keine Reue (aber lernen)

Ganz gleich, wie sie sich entscheiden: Sie werden immer etwas verpassen und Ihnen wird stets etwas entgehen. Man kann nicht überall gleichzeitig sein. Daher ist es wichtig, den Entscheidungen seiner Vergangenheit nicht hinterher zu trauern. Denn erstens kann man daran nichts mehr ändern und zweitens weiß man nie, was andernfalls wirklich passiert wäre.

Wenn Sie jede Entscheidung bewusst und gemäß ihrer selbst gesteckten Ziele treffen, tun sie sowieso immer das Richtige, denn dann handeln Sie nach bestem Wissen und Gewissen.

Das soll jedoch nicht bedeuten, dass Sie die Vergangenheit ignorieren sollten. Analysieren Sie das, was Ihnen widerfahren ist. Ziehen Sie daraus Schlüsse für ihre aktuelle Situation und die Zukunft. Mit anderen Worten: Lernen Sie daraus. Wenn es sich als ungünstig herausgestellt hat, die Tafel Schokolade „nur für den Notfall“ zu kaufen, weil Sie sie dann doch stehenden Fußes verspeist haben, dann merken Sie sich das und kaufen sie in Zukunft keine Schokolade mehr.

Fazit

„Unglücklich zu sein heißt, nicht zu wissen, was man will.“ sagte eine weise Frau (meine Mutter) einst. Als kleines Kind habe ich die Tragweite dessen nicht verstanden, doch es trifft den Kern. Wer unglücklich ist, weiß in der Regel nicht, was er tun (wie er sich entscheiden) soll.

Die Qual der Wahl ist praktisch unvermeidlich und sie wird vermutlich weiter wachsen. Daher ist es wichtig, sich das Problem bewusst zu machen. Wer Entscheidungen minimiert und im Leben Prioritäten setzt, kann unbeschwerter entscheiden, mehr Zeit mit Leben verbringen und hat nichts zu bereuen.

Die Kommentarfunktion ist deaktiviert.