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Schön essen

Schön essen»So ist es irgendwie schöner«, erklärt Bastian und zupft noch eine Stoffserviette zurecht. Er besteht auch heute Abend auf einer gemeinsamen Mahlzeit der Familie am Tisch. Ein halbes Dutzend mal huscht er von der Küche zum Esszimmer und richtet Teller, Besteck und Servietten sorgfältig an. Seine Kinder verdrehen ob dieser Zeitverschwendung die Augen und wären mit einem Teller auf dem Schoß vor dem Fernseher glücklich, auch seine Frau versteht den Aufwand nicht und würde eines niemals glauben: Bastians Besonnenheit bei der Vorbereitung des Esstischs hat erheblichen Einfluss auf Geschmack und Erlebnis des Essens.

Externe Faktoren beeinflussen unsere geschmackliche Wahrnehmung des Essens signifikant, weiß Charles Spence. Den Professor für experimentelle Psychologie an der University of Oxford interessiert, wie Menschen ihre Umwelt wahrnehmen und wie das Gehirn unsere Sinneseindrücke verarbeitet. Er leitete eine Reihe ausführlicher Untersuchungen mit aufschlussreichen Implikationen für unsere Esskultur.

Alliästhesie ist ein wenig verbreiteter Begriff für ein allgemein bekanntes Phänomen: Das Essen schmeckt besser, wenn man Hunger hat. Alliästhesie bezeichnet den Einfluss des Essens auf das innere Milieu. Spence erforscht mit seinen Kollegen hingegen überwiegend externe Einflüsse. Art, Form und Struktur der Anordnung auf dem Teller (im Englischen Plating genannt), der Name des Gerichtes, das Besteck, Farben, Umgebung und Geräusche sind mit spezifischen Veränderungen der Esserfahrung verbunden. Und das nachvollziehbar, also wissenschaftlich belegt. Esserfahrung meint die Empfindung des Geschmacks, der Ästhetik und der Freude am Essen, teils indirekt gemessen an der Zahlungsbereitschaft.

So beeinflusst die Qualität des Bestecks wesentlich unsere Wahrnehmung des servierten Gerichtes. Wertungen für Ästhetik, Geschmack und Zahlungsbereitschaft fallen bei gleichem Essen mit höherwertigem Besteck besser aus. Dies geht über etwaige chemische Interaktionen des Besteckmaterials mit den Lebensmitteln hinaus.

Auch Form und Farbe des Tellers beeinflussen diese Wahrnehmung. Selbst die Ausrichtung des Tellers wirkt sich auf den Geschmack aus. Ähnelt das Essen auf dem Teller in seiner Form einem Pfeil, bevorzugen die Gäste, wenn dieser nach oben (von ihnen weg) statt nach unten zeigt. Ein aufmerksamer Kellner kann demnach das Erlebnis des Gastes allein durch einige Grad Drehung des Tellers beeinflussen. Ein optimal ausgerichteter Teller erhöht die Gaumenfreude. Selbst den genauen Aufbau eines Dreiecks auf dem Teller analysieren wir unbewusst. Ist das Essen in Form einer Linie angerichtet, bevorzugen Probanden in Restaurants, wenn diese schräg nach rechts ansteigt.

Die Form der Anrichtung verändert also nicht nur den visuellen Eindruck, sondern direkt auch den empfundenen Geschmack und die Zahlungsbereitschaft: Gäste sind bereit, erheblich mehr (rund 30%) für das gleiche Essen zu bezahlen, wenn der Koch es richtig anordnet. Dank Charles Spence und seinem Team können Restaurantbetreiber in diesem Fall mit annähernder Zuverlässigkeit gezielt anrichten und servieren.

Mit diesen Faktoren interagiert der Name des Gerichts. Ob der Koch die Speise Frühlingstraum mit Wolkenduft oder Hochdruckerhitzte Möhren mit aufgeschäumtem Süßkartoffelpüree nennt, spielt eine Rolle.

Auch zu Getränken finden wir sehr konkrete Hinweise. Kaffee aus weißen Trinkgefäßen empfinden wir als weniger süß, als intensiver und bitterer. Die Farbe einer Kaffeetasse beeinflusst den Geschmack des Getränks. Und auch die Form des Trinkgefäßes hat mehr als nur traditionelle Bedeutung. Rot- und Weißwein finden größeren Anklang, wenn wir sie aus entsprechenden Gefäßen genießen.

Derweil scheinen Assoziationen zwischen Geschmack und Farbe primitiver als andere Korrespondenzen, welche eher kulturell geprägt sind.

Als Opportunisten suchten wir in der Vergangenheit unserer Spezies eine große Bandbreite von Lebensmitteln. Diese hatten spezifische Charakteristika gemeinsam, welche unseren Vorfahren beim Finden und Erkennen halfen. Diese Vergangenheit beeinflusst noch heute unsere Lebensmittelwahl. Farbe ist eines der offensichtlichen Charakteristika: Reife Früchte sind normalerweise rot oder orange, Wurzeln gelblich, Nüsse und essbare Tiere oft braun. All dies sind warme Farben, die sich klar abgrenzen vom Grün des Blattwerks oder Grases. Sie ziehen uns bis heute an und wir meiden die kalten Farben tendenziell.

Die deutsche Soziologin Eva Heller beschreibt ein Studienergebnis zu Farbassoziationen. Grün und Gelb verbinden wir mit sauer, wohingegen wir Pink, Orange und Rot eher mit Süße assoziieren. Auf der anderen Seite hängt an Weiß, Grau und Blau die Erwartung salzigen Geschmacks und Violett, Schwarz und Braun gehen mit der Vorstellung von Bitterkeit einher. In Experimenten nennen Probanden bei Betrachtung roter Nudeln zuerst scharf bzw. würzig als Geschmack. Ein Bild gelber Nudeln schätzen sie als herzhaft ein. Süße verbinden wir konsistent mit Rundheit.

Auch Musik kann konsistent geschmackliche Eindrücke hervorrufen und diese manipulieren. Bitter ist tief und legato, salzig ist staccato, sauer ist hoch, dissonant und schnell und süß ist konsonant, langsam und weich. Diese Assoziationen direkt zu nutzen mag unpraktisch klingen, die zugrundeliegende Implikation ist jedoch einfach: Unsere akustische Umgebung beeinflusst direkt den Geschmackssinn. Köche wie Heston Blumenthal gehen den nächsten Schritt und servieren Meeresfürchte zu Meeresrauschen.

Obwohl es bereits faszinierende und teils sehr konkrete Hinweise auf diese sinnlichen Zusammenhänge gibt, ist es noch zu früh für pauschale Aussagen. Wir können nicht sagen, welches Besteck unter allen Umständen den Geschmack optimiert. Sehr wohl können wir jedoch Schlüsse aus diesen Untersuchungen ziehen. Etwa, dass es absolut eine Rolle spielt, von welchem Besteck und Geschirr man sein Essen genießt. Diese Erkenntnis mahnt zur Sorgfalt beim Essen und zu achtsam gepflegter Esskultur.

Ist das alles nur Einbildung und hat das Drumherum des Essens keinen echten Wert? Ein Synonym für Einbildung ist Vorstellung. Google definiert dies als »ein gedankliches Bild, das man von jmdm. oder etwas gewonnen hat.« Gedankliche Bilder sind alles, was wir haben. Die Eindrücke unserer Augen, Ohren und anderer Sinne interpretiert das Gehirn und macht sich ein Bild davon. Wir sehen nicht die Farbe Rot, sondern unsere Augen nehmen eine Wellenlänge wahr und wir können nicht feststellen, ob wir alle in unseren Köpfen das gleiche Bild von Rot haben.

Was wir uns aufgrund der genannten externen Faktoren vorstellen ist in diesem Sinne Einbildung und zugleich persönliche Realität. Welche Rolle spielt die Rationalität, wenn im Ergebnis das Essen besser schmeckt? Gutes Besteck verbessert den Geschmack des Essens. Dass das Essen selbst dabei unverändert bleibt, ändert nichts an der Wissenschaftlichkeit.

Uns allen zeigt dies den Wert gepflegter Esskultur. Wir haben nun handfeste Hinweise auf den Einfluss externer Faktoren auf das Essen. Wir können mit Sicherheit sagen, wie wichtig ein ordentlich gedeckter Tisch, gutes Besteck und passendes Geschirr für das Essen sind. Diese Faktoren verändern unsere Wahrnehmung des Essens maßgeblich. Sie können uns verleiten, mehr oder weniger zu essen. Sie können den Genuss vervielfachen. Sie können die gesamte Erfahrung des Essens mit all seinen Folgen transformieren. Essen in Gesellschaft ist gesünder als essen allein, dementsprechend beeinflussen sicherlich auch Form und Farbe der Teller, die Art des Tischtuchs und die Qualität unsere Gesundheit: Durch die Empfindung des Essens und die Art dessen Konsums – und sei es nur, weil wir deswegen weniger oder langsamer essen.

Unsere Esskultur ist demnach von essenzieller Bedeutung. Auch ohne allgemeingültige Aussagen können wir diese Erkenntnis nutzen und dabei ist zunächst einerlei, ob wir uns an die konkreten Studienergebnisse halten oder es nach eigenem Empfinden schön gestalten. Eifrige Geschäftsleute werden sicher versuchen, ein Besteck als das kulturell wertvollste und gesündeste zu verkaufen und damit am Sinn des Themas vorbeiwirtschaften. Ziel ist nicht, die eine universell beste Kombination aus Sinneseindrücken zu finden. Eine solche existiert wahrscheinlich aufgrund kulturell und persönlich unterschiedlicher Hintergründe nicht.

Esskultur als Begriff impliziert ein Bewusstsein von Essen als mehr als Nahrungsaufnahme. Bewusst-sein erfordert Achtsamkeit. Achtgeben können wir beim Essen auf weit mehr als die Zunge und Aromen, Geschmäcke und die Temperatur. Verknüpfen wir die Eindrücke verschiedener Sinne miteinander, nennt man das Kreuzmodale Wahrnehmung. Genau das ist fester Teil traditioneller Esskultur. Ein gutes Essen kann einem Ritual gleichen, mit dem wir dem Ereignis Respekt zollen und seinen Stellenwert anerkennen. Das gleiche gilt für viele andere Ereignisse im Leben. Einige Handwerker packen vor jedem Job ihr Werkzeug ordentlich aus und bereiten es vor. Hinterher reinigen sie es und räumen es ordentlich wieder weg, statt es nur in den Kasten zu ballern. Das ist für sie Teil des Erlebnisses, des Lebens als Handwerker. Sie empfinden tiefe Befriedigung durch ihre Tätigkeit und leisten entsprechend gute Arbeit. Wir bewundern gutes Handwerk, wenn wir es sehen.

Wir alle haben reichlich solcher Ereignisse im Lebensalltag. Das Essen ist eines davon. Wir können es ordentlich machen, mit Sinn und Verstand, oder lediglich die Bewegung ausführen, während wir in konstanter Bewusstlosigkeit mit den Gedanken anderswo sind.

Stattdessen können wir einfache Schritte unternehmen und die Qualität unseres Essens verbessern. Und das, bevor der erste Bissen auf dem Teller liegt:

  • Einen Tisch freiräumen, gegebenenfalls eine Tischdecke oder Platzdecken auflegen.
  • Einfaches, aber ästhetisches, haptisch ansprechendes Geschirr und Besteck verwenden.
  • Sich besonnen an den Tisch setzen und tief durchatmen.
  • Das Essen bewusst riechen, sehen und hören.

Geeignetes Geschirr und Besteck, so es nicht schon in der Schublade liegt, muss nicht teuer sein und es hält ein Leben lang. Man kommt auch ohne aus, letztlich zählt der Gedanke und der Wille, dem Essen Respekt zu zollen. Essen kann ein tägliches sinnliches Ereignis sein, wenn wir etwas dafür tun, statt lediglich einfache Maße wie Preis, Menge und Dauer anzulegen.

Ein weiteres solches Ereignisse ist Sex, den anscheinend immer mehr Menschen nur in den Dimensionen Häufigkeit und Dauer messen und dabei das Beste verpassen. Der Landwirt und Autor Wendell Berry verglich dies 1989:

»Wie industrieller Sex ist industrielles Essen zu einer degradierten, armen und erbärmlichen Sache geworden. Unsere Küchen und anderen Orte des Essens ähneln mehr und mehr Tankstellen, so wie unsere Häuser immer mehr Motels ähneln. ›Das Leben ist nicht sehr interessant‹, scheinen wir entschieden zu haben. ›Mögen seine Befriedigungen minimal, oberflächlich und schnell sein.‹ Wir hasten durch unsere Mahlzeiten um zur Arbeit zu gehen und hasten durch unsere Arbeit, um uns abends und am Wochenende und im Urlaub zu ›erholen‹. Und dann hasten wir mit größtmöglicher Geschwindigkeit, Krach und Gewalt durch unsere Erholung – wofür? Um den milliardsten Hamburger in irgendeinem Fast-Food-Laden zu essen, versessen darauf, die ›Qualität‹ unseres Lebens zu erhöhen. Und all dies mit beachtlicher Ignoranz gegenüber Ursache und Wirkung, den Möglichkeiten und dem Zweck des Lebens des Körpers in dieser Welt.« — Wendell Berry, 1989 (The Pleasures of Eating aus What are People for?)

Weiterführende Literatur:

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