Gegner des Konsums tierischer Produkte führen oft an, die Domestikation von Tieren sei moralisch verwerflich. Grund sei, der Mensch habe kein Recht, sich über andere Tiere zu erheben. Nehmen wir mal für einen Moment an, das sei eine gültige These und wir sollten uns nicht über Tiere erheben. Ist denn Domestikation überhaupt die Erhebung über eine andere Spezies?
Betrachten wir dir die Domestizierung des Rindes, die vor rund zehntausend Jahren in Vorderasien ihren Anfang nahm. Der Mensch begann mit der Auslese von Tieren und züchtete sie gemäß seiner Ansprüche. Wir selektierten für geringere Aggressivität, höhere Milchleistung und höheres Gewicht. Das macht die Spezies als Nutztier attraktiver. An welcher Stelle nun ziehen wir die Grenze zwischem unserer Auslese und dem Selektionsdruck durch Raubtiere, die alte und schwache Beutetiere reißen? Die Gründe sind ähnlich, die Strategie ist eine andere; dennoch: Beide betreiben Auslese.
Und ist es wirklich allein der Mensch, der das Rind domestizierte? Hat nicht auch das Rind den Menschen dazu gebracht es regelmäßig zu füttern, zu tränken und vor Raubtieren zu beschützen? Katzenhalter werden diesen Gedankengang sehr gut nachvollziehen können.
Der Mensch war und ist heute abhängig vom Rind. Denn Domestikation ist ein gegenseitige, symbiotischer, koevolutionärer Prozess. Zwei Spezies gehen dabei einen Vertrag ein. So wie Bienen und Blumen oder Ameisen und Blattläuse. Dieser Vertrag ist ungeschrieben und, ja, wir als Spezies verletzen ihn zu oft, zum Beispiel in der industriellen Intensivtierhaltung. Wer sich das Recht herausnimmt, Nutztiere zu nutzen, muss auch der Verantwortung nachkommen, sie gut zu behandeln. Recht und Pflicht, das sind zwei Seiten der gleichen Medaille, verankert im Vertrag. (Es mag sein, dass Katzen dabei stets die besseren Anwälte haben.)
Oder nehmen wir die Gräser. Darunter der Rasen, den fast jeder Hausbesitzer sein Eigen nennt und den er hegt und pflegt. Zwei mal pro Woche mäht er, und bei Trockenheit wässert er ausgiebig. Das Gras kann sich unter diesen Umständen kaum anders als der Gewinner fühlen, denn es findet ideale Wachstumsbedingungen vor. In freier Natur könnte so ein Rasen niemals überleben, er würde von der Sukzession überholt, würde verbuschen und am Ende stünde dort ein Wald. Das Gras hat den Menschen dazu gebracht, viel Arbeit aufzuwenden, damit es der Pflanze gut geht.
Getreide beherrscht die Welt
Noch viel deutlicher wird dies bei den anderen Gräsern, die wir pflegen: Getreide. Weizen, Mais, Reis und so weiter sind Süßgräser und sie haben die Welt erobert. Dieser Siegeszug hat vor rund zehn Jahrtausenden mit dem Ackerbau begonnen. Gras hat den Menschen verführt: Für Gras holzt der Mensch auch heute noch Landschaftsformen aller Arten ab, um es wie wahnsinnig zu verbreiten und zu vermehren.
Gras füttert den Menschen nur gerade so viel, dass er seine Bevölkerung vergrößern und noch mehr Gras anbauen kann. So erobert es Lebensräume wie Wälder, in denen es sonst niemals hätte bestehen können. Gräser brachten den Menschen dazu, sein Leben als Jäger und Sammler aufzugeben, sich niederzulassen und künftig einen großen Teil seines Lebens der Graspflege zu widmen.
Zusammen mit Rindern und anderen Tieren hat Gras die Geschichte und Geschicke der Menschheit nachhaltig geprägt. Und die sich auch in Deutschland ausbreitenden Maiswüsten, in denen nichts wächst außer Gras, lassen vermuten: Diese Pflanze hat noch einige Pläne mit dem Menschen.
So sieht die Situation aus Sicht des Grases und der Rinder aus.
Eine Frage der Perspektive
Betrachten wir Rinder, Gräser und Menschen gemeinsam, entsteht freilich ein ausgewogenes Bild. Das Gras füttert das Rind, das mit seinem Kot das Gras füttert. Der Mensch beschützt und pflegt Rinder und Gräser und wird von ihnen ernährt. Gemeinsam gedeihen sie. Eine symbiotische Beziehung. Wir brauchen einander.
Es scheint: Domestikation ist keine Erhebung einer Spezies über eine andere, sondern schlicht eine Form der Zusammenarbeit.
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