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Zucker tötet – und rettet Leben

Zucker ist weder lebensnotwendig, noch giftig. Beide Extremstandpunkte beruhen auf Wortklauberei. Zucker kann töten und er kann Leben retten, doch für die meisten von uns ist allein bedeutsam: Welche Menge Zucker kann oder sollte ich essen, wenn ich gesund bleiben möchte?

Auf diese Frage gibt es keine einzige Antwort. Sie hängt ab von der Art des Zuckers und, viel wichtiger: vom Fragesteller. Eine jugendliche Gewichtheberin bekommt eine andere Auskunft als ein 40-jähriger Bürohengst oder ein genetisch vorbelasteter Hobbygärtner im Rentenalter. Bunt ist das Leben.

Beginnen wir mit der Art des Zuckers: Von Belang in diesem Zusammenhang sind nicht nur die weißen Kristallkrümel, die wir Tafelzucker nennen. Stattdessen müssen wir alle Kohlenhydrate einbeziehen: Stärkequellen wie Getreide und Kartoffeln, Honig, Kokosblütenzucker, Agavendicksaft und Genossen – wenn wir Sie herunterschlucken, landen sie letztlich als Glucose im Blut und wirken dort allesamt auf die gleiche Weise. Das gilt auch für Äpfel, Birnen und Bananen. Auch die Fructose in vielen dieser Lebensmittel kann der Gesundheit schaden, aber verkomplizieren wir das Thema nicht unnötig.

Fritten, Nudeln, Vollkornbrot und Dauerlutscher landen also samt und sonders als Glucose im Blut. Warum? Das müssen wir die Evolution fragen und sie wird vielleicht antworten: »Ich hab keine Ahnung, was ich hier tue. Aber mach einfach die Augen auf. Das mit der Glucose im Blut funktioniert: Schau dir doch all die Tiere an! Guck mal wie der Bär sich den Honig reinpfeift. Läuft astrein!«

Glucose ist eine Energiequelle für uns Tiere. Als Blutzucker landet Glucose über den Blutstrom überall dort, wo wir sie gebrauchen können. Zum Beispiel in den Muskeln – oder im Gehirn: Ohne Glucose gingen dort die Lichter aus, denn unsere grauen Zellen kommen ohne diesen Stoff nicht aus. Daher stammt vielleicht auch der Mythos, man müsse unbedingt Zucker essen. Dank eines Vorgangs, den wir Gluconeogenese nennen, kann unser Körper allerdings Glucose aus anderen Nährstoffen herstellen und wir sind bestens fähig, ganz ohne Zucker oder andere Kohlenhydrate im Essen zu überleben.

Gelangt allerdings zu viel Zucker ins Blut, dann kann uns das umhauen: Das ist tatsächlich giftig. Damit das nicht passiert, reguliert das Hormon Insulin den Blutzuckerspiegel. Gerät zu viel Zucker ins Blut, treibt Insulin ihn raus aus dem Blut und rein ins Gewebe: Es speichert den Zucker. Und wenn man das lange und oft genug macht, wird man fett. Was dem Eisbären gut steht, finden wir an uns selbst nicht so schmuck.

Viel schlimmer als die schwabbeligen Falten am Körper sind jedoch die Nebenwirkungen: Auf Dauer leiert der Insulin-Mechanismus aus. Unsere Empfindlichkeit für Insulin sinkt; wir benötigen immer mehr Insulin für die gleiche Aufgabe; irgendwann werden wir insulinresistent und dann stehen wir plötzlich mit Diabetes da. Die Bauchspeicheldrüse ist frittiert und wir müssen per Insulinspritze nachhelfen. Wen das nicht stört, sollte spätestens durch den Blick auf die Liste der Folgekrankheiten aufwachen: Erhöhte Risiken für Krebs, Herzinfarkt, Schlaganfall, Nervenschäden sind nur der Anfang des langen Kassenzettels für das heimische Süßigkeitenregal.

Aber auch wer sich von Süßigkeiten fernhält und stattdessen täglich nur Brot, Kartoffeln und Nudeln isst, kann auf diese Krankheiten zusteuern. Auch diese Lebensmittel sind Quellen für Kohlenhydrate und heben den Blutzuckerspiegel an. Jedoch nicht ganz so schnell und stark wie reine Süßigkeiten. Wie viel Brot und Kartoffeln und Süßigkeiten kann man essen, bevor man erkrankt? Der Weg zur Antwort führt durch eine andere Frage: Wer bist du und was machst du?

Ganz abgesehen von genetischen Unterschieden schwankt die Zuckerverwertung des Körpers von Mensch zu Mensch gewaltig. Glucose ist Raketentreibstoff für den Körper: Besonders geeignet für extreme Anstrengungen wie den Sprint um unser Leben auf der Flucht vor einem Bären, dem wir den Honig gemopst haben. Oder wenn wir dem wütenden Biest eine 100-Kilo-Eisenkugel in den Weg werfen wollen. Das fasst man eher als anaerobe Anstrengung zusammen und stellt es in den Gegensatz zur aeroben Tätigkeit: Ausdauertraining. Ganz so einfach ist es nicht, denn die Natur kümmert sich ebenso wenig wie die Evolution um nette Ordnung und Schubladen. Nicht nur der Sprinter, auch der Marathonläufer kann Glucose gebrauchen. Und ja: Das Gehirn braucht Glucose – allerdings nicht so viel, dass man sich für ganz hartes Nachdenken unbedingt eine Packung Traubenzucker gönnen müsste.

Mit anderen Worten: Wer den ganzen Tag im Sessel sitzt, wird von Zucker (und Stärke) erheblich schneller fett als jemand, der sich viel bewegt und anstrengt. Kann man das in handliche Zahlen fassen? Nein. Niemals. Dafür sind zu viele Faktoren beteiligt. Welche Menge Bewegung ist nötig, damit ich jenen Haufen Zucker essen kann – ohne fett zu werden? Das muss jeder selbst ausprobieren. Die gute Nachricht: Viel Bewegung ist sowieso gesund, sie schmiert die Zahnräder des Körpers und wirkt den oben genannten Erkrankungen auf verschiedenen Wegen entgegen.

Sinnvoll ist: Sich verdeutlichen, wo überall Zucker (und Stärke und Kohlenhydrate) steckt und wie viel man davon am Tag so ungefähr isst. Brot, Bohnen, Kuchen, Kartoffeln, Ketchup, Nudeln, Saft, Eistee, Zucker in Kaffee und Tee und so weiter. Schnell landet man oberhalb 150 Gramm, die ohne körperliche Anstrengung das Insulin gehörig beschäftigen können.

Sinnvoll ist also auch: Sich viel bewegen. Laufen. Schwimmen. Klimmzüge. Tanzen. Springen. Mit dem ganzen Körper in das echte Leben eintauchen und nicht nur mit den Augen in das Smartphone.

Natürlich kann man argumentieren: Der Köper kann die nötige Glucose selbst herstellen, da isst man am besten gar keine Kohlenhydrate und meidet so jedes Risiko. Klar. Aber wer jedes Risiko umgeht, lebt nicht. Wer gerne auf Croissants aus Frankreich und Kuchen von Tante Marleen, Kirschwasserparfait und Mousse au Chocolate, ein Sauerteigbrot mit knuspriger Kruste und Gnocchi mit Gorgonzolasoße oder einfach eine richtig reife Zwetschge oder Birne verzichtet, bitte: Das soll jeder selbst entscheiden.

Schon zu Zeiten als Michelangelo die Sixtinische Kapelle mit dem Pinsel verzauberte, verdeutlichte Paracelsus: Die Dosis allein macht das Gift. Kein gesunder Mensch stirbt an einem Löffel Zucker. Auch hat die Wissenschaft längst entdeckt, was ungezählte Menschen zuvor gezeigt haben: Man kann ohne Zucker bestens überleben.

Wie viel Zucker du nun mit ruhigem Gewissen essen kannst, lieber Leser, das musst du selbst herausfinden und verantworten. Wer dir eine einzige absolute Antwort gibt, lügt oder sagt nur die halbe Wahrheit.

Den einen Rat kann ich dir mitgeben, er beruht auf lebenslanger Erfahrung:

  • Bewege dich viel.
  • Übertreibe es nicht mit dem Zuckerkram.
  • Und vergiss nicht: Auch die Stärke in Brot, Kartoffeln und Nudeln besteht aus Glucose.

Dafür benötigt man kein Studium der Biochemie. Gut essen ist einfach.

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