Zum Inhalt springen

Gutes Essen – eine Bürgerpflicht

Für gutes Essen und gesunde Ernährung braucht man gute Lebensmittel. Gute, gesunde, saubere, faire Lebensmittel – woher bekommt man die? Kann man sich auf die Angaben der Hersteller und Supermärkte verlassen, wenn Lebensmittelskandale so häufig durch die Medien geistern? Warum tut die Politik nicht mehr für unsere Sicherheit, mehr für Transparenz bei Lebensmitteln?

Eine transparente, also im Wortsinn durchschaubare Nahrungskette erfordert Leistungen auf zwei Seiten: Erzeuger und Hersteller müssen den Blick ermöglichen auf alle Menschen in der Produktion, alle Arbeitsschritte ob maschinell oder handwerklich, alle Zutaten, alle Transportwege und so fort. Und der Betrachter, der Käufer, muss hinschauen und er muss begreifen, was er sieht. Wenn niemand hinschaut, gibt es keinen Durchblick. Das ist dann, als gäbe es keine Transparenz. Gibt sich der Käufer mit der einfachen Versicherung zufrieden, seine Ware käme aus der Region, sei geprüft und von hoher Qualität und der Hersteller sei transparent, dann verschließt er die Augen und beteiligt sich direkt an jedem Lebensmittelbetrug. Ein Bio-Siegel genügt nicht. Das ist offensichtlich, denn Betrug mit Bio-Fleisch, -Gemüse und -Obst ist Alltag.1 Auch ein Demeter-Siegel genügt nicht. Kein Siegel genügt. Kein Siegel kann Kontrolle und persönliches Vertrauen ersetzen. Im Gegenteil: Jedes Siegel dieser Art will beruhigen und einlullen.

Wer vor einem Verbrechen die Augen verschließt oder hinschaut und nicht handelt, macht sich selbst zum Mittäter. Und wer das billigste Fleisch vom Discounter kauft und seinem Supermarkt blind vertraut, ist Komplize einer kriminellen Industrie und verdient gammeliges Fleisch und giftiges Gemüse.2 Und das gilt derzeit für den Großteil aller Käufer.3

Fordern wir eine transparente Nahrungskette in Form einwandfreier Lebensmittel, Rückverfolgbarkeit und klarer Zuständigkeiten, müssen wir auch selbst etwas dafür tun: Die Augen öffnen, genau hinschauen, selbst kochen, verschiedene Anbaumethoden und deren Vor- und Nachteile verstehen, Saisonalität begrüßen, faire Löhne und damit faire Preise akzeptieren, die Zusammenhänge zu Umweltschutz und Sozioökonomie begreifen. Kurz: Wir dürfen keine reinen Verbraucher, keine reinen Konsumenten sein. »Konsumenten sind Menschen, die an einer Krankheit leiden: Konsumismus« meint Carlo Petrini, Gründer der Slow-Food-Bewegung. Der Begriff Konsument sei in dieser Form nur drei Jahrhunderte alt. Er wurde geboren mit der industriellen Revolution. »Konsumismus zerstört das Gehirn. Dein Wert wird nicht gemessen an dem, was du bist, sondern daran, wie viel du konsumierst. Je mehr du konsumierst, desto größer dein Wert. […] Wir dürfen keine Konsumenten sein. Wir müssen Koproduzenten sein.«4

Erst als Koproduzent, als Mit-Erzeuger, tritt der Bürger aus seinem isolierten Segment hervor. Aus einer Isolation, in welche uns die Industrialisierung zur vermeintlichen Steigerung der Effizienz in Einzelhaft geschoben hat als Landwirte und Metzger, Köche und Verbraucher. Jeder Beruf soll in seiner eigenen Zelle stecken mit undurchsichtigen Wänden. Doch die besten Landwirte sind jene, die auch kochen können und sich für guten Geschmack interessieren; die besten Köche besuchen ihre Erzeuger, um besser zu begreifen, wann welche Zutaten am besten schmecken. Und so muss auch der Verbraucher wieder ein wenig Koch sein und ein wenig Landwirt. Erst dann wird er überhaupt seinem eigenen Wunsch nach mehr Durchblick gerecht.

Wer mit seiner Forderung nur auf Politik und Industrie zeigt, gibt die Verantwortung ab5 – und damit zugleich das Recht auf ein Stück Selbstbestimmung. Eine solche Forderung ist ein Aufruf zu Bevormundung und Entmündigung. Dann ist es kein Wunder, wenn wir Rohmilch nicht mehr einfach beim Bauern kaufen dürfen; warum wir nicht mehr die freie Wahl haben, das Fleisch aus einer Hausschlachtung zu erwerben; nicht einmal die Kürbisse von der Nachbarin. Dann erwachen wir eines Morgens in einem Dschungel aus Regulierungen und Vorschriften, weil wir die Gartenpflege auf die anderen geschoben haben. Im Dickicht finden wir uns nicht mehr zurecht und Überblick herrscht nur noch über dem Blätterdach: Entscheidungen fallen über unsere Köpfe hinweg und der kleinbäuerliche Betrieb ersäuft dank unserer gemeinsamen Faulheit im Sturzregen der Auflagen.

In einer Gesellschaft muss jeder mitarbeiten. Wir können natürlich Vertreter wählen und von der Politik Lösungen in unserem Interesse fordern. Wir können sie auch erwarten. Jedoch können wir nicht auf Ergebnisse warten oder uns darauf verlassen. Die Lösung unser aller Probleme ist unser aller Aufgabe. Die Politik kann sich um Straßenbau und Wasserversorgung kümmern. Von meinem Esstisch und Einkaufskorb, von der Ernährung meiner Familie soll sie die Finger lassen.

Anbau- und Haltungsmethoden verstehen, den Erzeuger persönlich kennen, selbst kochen und selbst Entscheiden, was man isst: Ist das nicht auch mit Arbeit verbunden? Natürlich ist es das. Es mag unfair erscheinen, worum man sich kümmern muss, wo doch in unserer Gesellschaft alles einfach sein soll. Aber niemand hat gesagt, das Leben sei fair: Schau dir die Katze an, wie sie die Maus ausmerzt. Und dann entscheide, ob du eine Maus sein willst; oder ein hirntoter Konsument. Bist du die Katze, die fünfzehn Minuten vor dem Laubhaufen lauert und auf ihre künftige Mahlzeit starrt, sie mustert und sich dann doch lieber in die Sonne legt? Oder bist du die tüchtige Biene, die jeden Sonnenstrahl und jede Blüte nutzt, ihre süße Ernte zum Wohl ihres Volkes teilt und befruchtete Landschaften hinterlässt?

Wir werden die Industrie nicht abschaffen. Der Versuch wäre vergeudete Mühe. Stattdessen können wir die Zeit nutzen und eine eigene Nahrungskette nach unseren Wünschen schweißen. Die Was-wäre-wenn-Frage, wie denn die übrigen kleinbäuerlichen Betriebe all die Menschen versorgen sollen, erübrigt sich: Diese alternative Nahrungskette kann genau so viele (Mit)Glieder versorgen, wie daran teilnehmen. Das Angebot passt sich der Nachfrage an und den meisten Menschen wird die industrielle Versorgung weiterhin genügen.

Anstelle solcher Spekulationen kann ein jeder genau jetzt handeln, die Erzeuger seiner Umgebung kennenlernen und sich die Frage stellen: Was bin ich mir wert? Und wer will ich sein, in der Nahrungskette?

Siehe auch:

Fußnoten

  1. Pd/af (2 Jun. 2015.) Bio-Betrug: Das sind die Fakten. agrarheute.com; bio-markt.info (10 Jul. 2017.) Italien: Chronologie der Aufdeckung eines Bio-Betrugs. bio-markt.info; Christiane Grefe (30 May 2014) Bioprodukte: Dunkelgrün. ZEIT ONLINE; Stefan Petri (n.d.) Betrug mit Bio-Lebensmitteln in Italien erreicht auch Deutschland. Worldsoffood.de.
  2. Siehe auch: Olschewski, Felix (2016) Schutz gegen Lebensmittelbetrug. Urgeschmack.
  3. »Konsumenten fordern zwar Transparenz (Informationen) bei Lebensmitteln, aber bereits vorhandene Informationen werden selten genutzt.« Benjamin Reuter (2014) Transparenz bei Lebensmitteln: 40 Prozent der Verbraucher ist Kennzeichnung egal. Wirtschaftswoche, 12. November 2014.
  4. Eigene Übersetzung von: Carlo Petrini at MAD5: Tomorrow’s kitchen starts on the farm.
  5. »Europaparlament soll sich für zuverlässige Herkunftskennzeichnung einsetzen« (23.05.2014) Herkunft von Lebensmitteln: Verbrauchern ist Transparenz sehr wichtig. Vzbv.de.

Die Kommentarfunktion ist deaktiviert.