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Abnehmen durch Einerlei: Sensorspezifische Sättigung

Alle haben sich am Büfett sattgegessen, dem einen steht bereits der Schweiß auf der Stirn, der nächste öffnet den obersten Hosenknopf und man ist sich einig: So viel möchten wir nie wieder essen. Da kommt eine Brigade Kellner herein und tischt die Desserts auf. Sofort geht ein Raunen durch die Menge, Stühle rücken und es bildet sich eine neue Schlange am Büfett. Durch welche Zauberei passt nun wieder etwas in den Magen?

Ob wir Hunger oder Sättigung fühlen entscheidet unser Körper nicht anhand einer einfachen Skala oder so, wie wir den Füllstand eines Wasserglases beurteilen. Mehrere Hormone streiten sich in uns ständig darüber, ob noch etwas fehlt oder ob reichlich Futter da ist: Insulin und Glucagon, Leptin und Ghrelin sind nur einige dieser Parteien in einer Auseinandersetzung, die noch weniger Menschen verstehen als die Konflikte im Nahen Osten.

Wenn wir Hunger haben und endlich in eine köstliche Speise beißen, schmeckt uns das. Doch bereits der zweite Bissen der gleichen Speise füllt uns mit weniger Befriedigung. Der Gefallen an einem Lebensmittel sinkt um 15 bis 20 Prozent im Vergleich zu solchen Dingen, die wir nicht essen. Das heißt: Nach einer Handvoll roter M&Ms wirken diese auf uns weniger attraktiv als die übrigen Farben.

Dieses Phänomen nennt man sensorspezifische Sättigung (SSS): Eine Sättigung, die sich nicht auf den Hunger allgemein, sondern auf ein bestimmtes Lebensmittel bezieht. Also eine Abneigung gegen Eintönigkeit. In der gleichen Weise reagieren wir, wenn wir fünfmal hintereinander das gleiche Lied hören oder jede Wand im Haus altrosa streichen. So läuft es auch bei Lebensmitteln: Wenn wir zu viel von einer Sache essen, hängt sie uns zum Halse raus.

Allerdings gibt es einige Nahrungsmittel, die weniger von dieser Erscheinung betroffen sind: Brot zum Beispiel. Oder Reis, Mais, Weizen oder Kartoffeln. Diese Dinge schmecken verhältnismäßig fad. Möglicherweise gehen sie dem Eintönigkeitsdetektor unserer Zunge so durch die Lappen wie Muzak unseren Ohren.

Diese Abneigung gegen Eintönigkeit führt zu nachlassendem Appetit, wenn man nur eine Sache isst. So sollte es sein, denn unser Energiebedarf ist begrenzt und so hilft SSS damit wir uns nicht überfressen. Das bedeutet jedoch auch, dass Abwechslung durch eine große Auswahl an Lebensmitteln – etwa an einem Büfett – zu größerem Appetit und in der Folge zu höherer Nahrungs- und Energieaufnahme führt: Wir überfressen uns.

Und wenn wir dann die Hähnchenflügel und das Geschnetzelte, die Spargelröllchen und Lachstartar, den Nudel- und Kartoffelsalat, die Kroketten, Kartoffeln und Fritten hinter uns haben und auf dem Stuhl hängen und stöhnen und nie wieder etwas essen wollen und dann plötzlich der Vorhang fällt und die Desserts in allen Farben glänzen, dann ist eben wieder Appetit da.

Warum macht unser Gehirn das mit uns? Warum handeln wir so widersprüchlich? Welchen Sinn sollte dieses Überfressen ergeben? Die Abneigung gegen Eintönigkeit und zugleich die Suche nach Abwechslung im Essen, so vermutet man, ist ein uralter Mechanismus zum Sicherstellen einer geeigneten Nährstoffversorgung.1 Eine sinnvolle Verhaltensweise: Wer nur Bananen isst, bekommt nicht alle nötigen Nährstoffe. Also signalisiert unser Körper nach der ersten Banane sinkendes Interesse und belohnt uns beim Biss in das Steak mit mehr Befriedigung. In der Natur ist das kein Problem, denn dort herrscht ein harter Kampf um Lebensmittel. In der Moderne hingegen können wir uns vor Lebensmitteln nicht retten und wir ersaufen in der Strömung des Überfluss.

Die Mahnung zur Vielfalt als Grundlage gesunder Ernährung kann also zum Verhängnis werden und das Gegenteil bewirken. Denn Übergewicht ist nicht gesund. Fest steht: Wenn wir gesund bleiben wollen, benötigen wir eine Reihe an Nährstoffen, die wir nicht alle aus einer Pizza bekommen. Doch Vielfalt auf dem Speiseplan kann in unserer Welt auch der gesunden Ernährung im Weg stehen.

Wenn wir das wissen, können wir bewusst damit umgehen und solche Fallen umgehen: Büfetts. Vielfalt. Überfluss. Der erste Schritt ist ein Bewusstsein für diesen Mechanismus: So funktioniere ich als Mensch. Danach kann man sich beobachten und dieses Verhalten bestätigen. Anschließend reflektiert man und überlegt, wie man das Überfressen in solchen Situationen verhindern kann.

Am Büfett ist das schwierig: Womöglich ist man in Feierlaune und da sich alle Gäste auf diese Weise vollstopfen, wird man schnell mitgerissen. Es ist eine kleine Herausforderung, in diesen Fällen einen kühlen Kopf zu bewahren. Doch es ist machbar und es muss auch den Spaß nicht bremsen. Man kann ja trotzdem alles probieren. Nimmt man sich aber einen kleinen Teller, kleinere Portionen und denkt weiter an dieses Sättigungsverhalten, muss es nicht im Elend eines überspannten Magens enden.

All-you-can-eat-Veranstaltungen sollte man meiden wie die Pest. Da ist schon der Name Programm. Allgemein hilft es, wenn man sich mit besonnenen Essern umgibt und gemeinsam eine Esskultur der Mäßigung pflegt:* Lieber Güte anstelle von Menge. Man kann sich an allen Leckereien der Welt erfreuen. In Maßen.

Herzlicher Dank gilt Jessica Kolinger, Thomas W. und allen anderen Stiftern dieses Beitrags mittels Patreon, PayPal und Überweisung.

Fußnoten

  1. Prescott, John (2012) Taste Matters – Why we like the foods we do.* Reaktion Books, London.