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Es gibt kein Superfood

Kein Superfood - sondern echte Lebensmittel»Getrockneter Kameldung ist ein echtes Superfood«, äußert die junge Dame an der Smoothiebar mit wissendem Nicken. Es ist der neueste Renner nach Heidelbeeren, Schoko­lade, Avocadokernen und Petersilie. Unschein­bare Lebensmittel mit Wunderwirkungen: Der Begriff Superfood hat sich als Klassifizierung verschiedenster Nahrungsmittel durchgesetzt. Tatsächlich ist der Begriff eine Worthülse.

Das Fundament für den Mythos des Superfood legt die dritte Welle des Nährstoffismus. Diese Ideologie des Ernährungsreduktionismus führt zu einer systema­tischen Suche nach solchen Lebensmitteln, die möglichst viele vermeintlich hilfreiche Nährstoffe enthalten.

Die Jagd nach Superfoods basiert auf ungeprüften Annahmen:

  1. Die anvisierten Nährstoffe sind bedingungslos vorteilhaft.
  2. Wir wissen genau, wie viel davon der Körper tatsächlich aufnimmt.
  3. Mehr ist besser und mehr kann nicht schaden.

Diese Thesen vereinfachen das Weltbild und stimulieren so die Fantasie. Denn Superfood nimmt seinen Anfang in Wünschen und Sehnsüchten.

Wie entsteht ein Superfood?

Wer möchte nicht das gefürchtete und noch immer teils mystische Wort in einer Dia­gnose vermeiden: Krebs? Die Vorstellung, man könnte mit einem einfachen Lebens­mittel seine Gesundheit kontrollieren und ewig gesund, jung und faltenfrei bleiben, klingt verlockend. Superfood bietet den Medien eine Möglichkeit, mehr Geschichten zu erzählen. Verbraucher hören diese Geschichten gerne und erzählen sie weiter. Die Industrie kann mit dem neuen Begriff auf alten Produkten (zum Beispiel Heidelbeeren oder Schokolade und natürlich Margarine mit Chiasamenextrakt) mehr verkaufen. Es haben also alle etwas davon.

Wenn sich an der Kakaobohne nichts geändert hat, warum sollten wir sie künftig nicht mehr nur Kakaobohne nennen, sondern auch noch Superfood? Weil der Gedanke fes­selt.

Hilft es wirklich?

Tatsächlich ist der Nachweis gesundheitlicher Vorteilhaftigkeit eines Nährstoffs kaum zu erbringen. Das demonstriert das Phänomen, welches der Volksmund uner­träglich als »Zu jeder Studie gibt es eine Gegenstudie« bezeichnet. So gibt es zum Beispiel zahlreiche Studienergebnisse, die Calcium in der Ernährung als sehr wirksam und zugleich als wirkungslos etwa für die Knochengesundheit bezeichnen. Die Ursache dafür liegt nicht allein in der unterschiedlichen Qualität der Studiendurchführung, sondern im zugrundeliegenden Prinzip. Wir testen Nährstoffe mit der Herangehens­weise der Pharmaindustrie, also wie Medikamente. Jedoch wirken Nährstoffe stets erheblich komplexer und im Kontext mit anderen Lebensmitteln. So fand man in Metaanalysen (Analysen einer Reihe von Analysen) heraus, dass weder Vitamin D, noch Calcium sich wirklich vorteilhaft auf die Knochengesundheit auswirken. Erst beide Stoffe zusammen wirken. Zu diesen Problemen des Kontextes gesellen sich grundsätzliche ethische Probleme bei der Studiengestaltung (darunter die Frage, ob man den Menschen der Kontrollgruppe überhaupt einen vermutlich vorteilhaften Stoff vorenthalten darf).

In der überwiegenden Zahl der als Superfood bezeichneten Lebensmittel basiert die Behauptung jedoch auf genau solchen isoliert betrachteten Nährstoffen. Deren Wirk­samkeit ist aus den genannten Gründen jedoch fragwürdig. Darüber ist offen, ob eine überdurchschnittliche große Dosis wirklich ausschlaggebend ist und ob nicht gar die Gefahr einer Überdosis besteht.

Wo landet das Superfood?

Mitursache für die ambivalenten Studienergebnisse ist der Kontext der Ernährung und des gesamten Lebenswandels: Nährstoffe stehen in Wechselwirkungen und jeder Mensch ist anders. Jeder Darm verdaut anders. Wir wissen nicht, welcher Anteil eines Lebensmittels genau dort im Körper ankommt, wo er theoretisch optimal aufgehoben wäre. Auf den Verbleib des Lebensmittels nach der Reise in den Mund haben nicht nur unsere Darmbakterien, unser Magenmilieu, unser Hormonsystem und die übrigen verzehrten Lebensmittel Einfluss, sondern schon die Art und Dauer unserer Kaube­wegung.

Selbst wenn wir hinsichtlich der Wirksamkeit der isolierten Stoffe der Superfoods Gewissheit hätten (was nicht der Fall ist) wissen wir im Einzelfall nicht, ob dies über­haupt anwendbar ist oder ob der Großteil des Nährstoffs unbehelligt den Darm passiert.

Überdosis durch Superfood?

Wenn wir nicht genau wissen, welcher Nährstoff nun wirklich vorteilhafte Wirkungen auf uns hat, dann wissen wir auch nicht, ab welcher Dosis ein Nährstoff definitiv zum Gift wird. Gibt es eine Kakao-Überdosis? Kann man zu viele Heidelbeeren essen? (Als jemand mit einer Heidelbeerplantage in der Nachbarschaft gehe ich letzterer Frage seit einigen Jahren nach und kann, zumindest bei über 1 kg täglich für mehrere Wochen, über keinerlei kurz- und mittelfristige Beschwerden berichten, die über blaue Finger hinausgehen.) Zahlreiche Fälle von Vitaminvergiftungen (Hypervitaminose) sind bekannt und meist die Folge einer zu freimütigen Einnahme von Nahrungs­ergän­zungs­mitteln. Es bestätigt sich Paracelsus‘ These »Es ist Gift in allem.« Tatsächlich bestätigte vor wenigen Jahren eine Analyse von über 250 Studien: Fast jedes Lebens­mittel bringen wir mit Krebs in Verbindung, wobei die Studien angesichts meist schwacher Zusammenhänge die Effekte überproportional betonen.

Im Kontext der Ernährung ist im Übrigen auch relevant, was wir nicht essen: Ernährt man sich ausschließlich von den sogenannten Superfoods Heidelbeere, Kakao und Chiasamen, ist beispielsweise eine adäquate Proteinversorgung unwahrscheinlich.

Wir wissen also nicht genau, wie einzelne Nährstoffe wirklich auf uns wirken, ob sie überhaupt da ankommen, wo wir sie uns wünschen und ob sie dann nicht aufgrund der hohen Dosis mehr schaden als nutzen.

Superfoods ergeben keinen Sinn

Der Mensch lebt seit Beginn seiner Zeit von zigtausenden Lebensmitteln. Es ist nicht einmal plausibel, dass es darunter nur einige wenige geben sollte, die ihm optimale Gesundheit ermöglichen und die wir erst heute entdecken. Die Gesetze der Natur, der Evolution hätten solche Lebensmittel schon vor Millionen von Jahren zu unserer bevorzugten Nahrung gemacht und sie fest in unserer Tradition verankert.

Der Gedanke des Superfood klingt nett. Doch so sehr wir es uns wünschen, es gibt kein einzelnes Wundermittel der Ernährung, das alle Leiden der Menschheit beseitigen kann. Den einzigen Nachweis einer wirklich langfristig gesunden Ernährung finden wir in den Traditionen unserer Kulturen. Was wir schon immer gegessen haben, hat offen­sichtlich unser Überleben gesichert. Der Blick auf die Tische gesunder Familien in der ganzen Welt zeigt eine kaum fassbare Vielfalt von Lebensmitteln. All diese Ernäh­rungsformen scheinen unmöglich vereinbar zu sein. Doch es gibt Gemeinsamkeiten und wiederkehrende Themen: Selbstgekochtes, vielseitige Ernährung und Rücksicht auf die Lebensumstände.

Traditionell essen Menschen keine Nährstoffe. Sie essen Nahrungsmittel. Nämlich solche, die sie in ihren Lebensstil integrieren können. Meist ist dies eine Balance ver­schiedener Lebensmittel, die zugleich einen ausgewogenen Nährstoffcocktail darstellt. In diesem Sinne könnten wir Superfood umdefinieren und den Begriff ausweiten auf all das, was wir täglich in unseren Alltag als Nahrungsmittel integrieren und was uns zugleich schmeckt, befriedigt, nährt und nachhaltig versorgt.

Oder wir können den Begriff aufgeben und einfach aufmerksam essen, mit allen Sinnen erleben und uns vielseitig ernähren. So kann jeder seinen ganz eigenen Weg finden: Eine Ernährung, die schmeckt, gesund hält und umsetzbar ist. Nur eine solche Ernährung ist super.

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