Zum Inhalt springen

Sind Lektine immer gefährlich?

Einige Lektine wirken auf den Menschen eindeutig toxisch. Sie können Krankheiten wie Arthritis, Morbus Crohn, Fibromyalgie, Reizmagen oder Schilddrüsenprobleme begünstigen. In der Folge gilt die allgemeine Empfehlung, keine rohen Hülsenfrüchte zu verzehren. Ernährungsformen wie die Steinzeiternährung (Paleo Diät) raten grundsätzlich ab vom Verzehr der lektinhaltigen Lebensmittel Getreide und Hülsenfrüchte. Doch ist das angemessen? Sind Lektine wirklich immer ein Problem?

Argumentation

Besonders im Rahmen der Steinzeiternährung verwendet man die Toxizität der Lektine als hinreichendes Argument für einen gänzlichen Verzicht auf Hülsenfrüchte. Zwar könnten Lektine durch Erhitzen teilweise deaktiviert werden; doch die Tatsache, dass das Lebensmittel erst erhitzt werden müsste, um genießbar zu sein, gereiche allein, um es als nicht geeignet für den Menschen einzustufen. Mit anderen Worten: Wenn es im Rohzustand giftig ist, sollte man es auch gekocht nicht essen.

Das allein klingt jedoch offenbar nicht überzeugend genug und so fügt man hinzu, selbst Hitze könne die Lektine nicht vollständig deaktivieren. Die entsprechenden Lebensmittel (bleiben wir bei den Hülsefrüchten) seien demnach noch immer giftig und ungenießbar.

Das klingt plausibel. Aber hält es der Wissenschaft und einer realistischen Perspektive stand?

Wissenschaft

Das toxische Potenzial vieler Lektine ist mittlerweile unbestritten. Allerdings gibt es auch Hinweise auf für den Menschen nützliche Wirkungen.1 Unklar ist jedoch, wann und wie Lektine deaktiviert werden können. Denn wen stört das Gift, wenn es nicht mehr wirksam ist?

Zahlreiche Studien haben sich mit diesem Thema befasst. Lektine sind Eiweiße. In der Schule lernt man das zwar heute wohl nicht mehr, aber Eiweiße sind teils recht empfindliche Verbindungen, die schon um 50°C denaturieren, wie der Fachmann sagt. Das sind zum Beispiel die Eiweiße aus denen Muskeln bestehen, und diese Temperatur ist für viele Köche von Belang, die ein perfektes Steak zubereiten wollen.

Dieser Fakt legt nahe, simples Erhitzen genüge, um Lektine zu deaktivieren. Das stimmt auch. Teilweise. Anscheinend. Denn einige Lektine widerstehen Hitze mit beachtlichem Elan. Während einige Studien von 15-minütigem Kochen schreiben, sind für andere Lektine scheinbar längere Zeiten oder höhere Temperaturen nötig, einige Studien untersuchten dies bis 139°C.

Allerdings sind Lektine in extrahierter Form stabiler als in ihrer natürliche Form, nämlich in der Bohne selbst. Insofern sind die Studien, die lediglich extrahierte Antinährstoffe untersuchen, mit Vorbehalt zu genießen (mit anderen Worten: praktisch wertlos, wenn es um die Ernährung im Alltag geht). Auch der pH-Wert hat Einfluss auf die Hitzeempfindlichkeit der Lektine (und anderer Antinährstoffe). Und das vorherige Einweichen, Ankeimen und Fermentieren reduziert nicht nur den Lektin-Anteil, sondern andere Antinährstoffe gleich mit (zum Beispiel Phytinsäure).2

Und dann ist da noch der Kontext übriger Zutaten: Lektine binden spezifische Kohlenhydratstrukturen. Wenn also diese bestimmten Zucker in der Mahlzeit enthalten sind, können sich die Lektine daran binden und verlieren auch so ihr schädliches Potenzial.

Aber zurück zur Zubereitung. Genaue Angaben gibt es speziell für Lektine beim Kochen von Bohnen für fünf Minuten bei 121°C: Sie denaturieren vollständig, gelten somit als zerstört. Um diese Temperatur im Hausgebrauch erreichen zu können, ist lediglich ein Schnellkochtopf nötig. Aber würden vielleicht auch niedrigere Temperaturen ausreichen?

So wie es aussieht, weiß die Wissenschaft zumindest folgendes:

  • Lektine denaturieren ab ca 75°C aufwärts nach und nach.3
  • 5-minütiges Kochen zerstört den Großteil aller Lektine.
  • Kochen bei 121°C kann alle Lektine zerstören.4
  • Fermentation kann 95% der enthaltenen Lektine zerstören.5

Entsprechend lassen einige Studien vermuten, bloßes Wässern und Erhitzen genüge zum Deaktivieren sämtlicher Antinährstoffe.6 Abhängig wird dies sein von der Art der Lektine (also auch der verwendeten Bohnensorte) und dem Grad der vorherigen Behandlung (Dauer des Einweichens oder der Fermentation).

Es scheint: Die Lektine in gekochten Bohnen haben, besonders wenn diese vorher gewässert wurden, nur noch geringes Schadpotenzial.

Doch auch gering ist ein relativer Begriff und die vielen Wenns und Abers aus der Wissenschaft (die übrigens üblich sind) können keine absolute Sicherheit vermitteln.

Wer sich ein wenig mit Ernährung befasst, dem wird eines rasch klar: Es gibt praktisch kein Lebensmittel, das nicht in irgendeiner Dosis toxisch ist – und sei es die Fructose in Obst.

Wie stehen also sorgfältig gewässerte und gekochte Bohnen im Vergleich zu anderen Lebensmitteln da?

Die Realität

Lektine sind in fast allen Pflanzen enthalten. Nicht immer in großen Mengen, nicht immer mit schädlicher Wirkung für den Menschen. Offenbar gibt es derzeit keine greifbare Liste mit dem Lektingehalt verschiedener Lebensmittel. Als größte Quellen schädlicher Lektine gelten jedoch allgemein Getreide, Hülsenfrüchte und Nüsse.

Nüsse wiederum gelten jedoch als durchaus akzeptabler Bestandteil, sogar als empfehlenswert in der Steinzeiternährung. Entsprechend verzehren viele Fans der Paläo-Diät sie in rauen Mengen. Andere wiederum empfehlen einen maßvollen Umgang wegen der enthaltenen Fettsäuren, aber gelegentlich auch wegen der enthaltenen Lektine und Phytate. Eine Handvoll Nüsse am Tag, vielleicht zwei, seien unproblematisch hinsichtlich der Antinährstoffe.

Antinährstoffe in Maßen sind (im Normalfall) also kein Problem, meinen auch diejenigen, die eindringlich vor Getreide und Hülsenfrüchten warnen. Auch das klingt plausibel. Der menschliche Körper ist robust und tolerant. Was ihn nicht umbringt, macht ihn noch härter. Und selbst wenn das bezüglich der Antinährstoffe nicht gilt, so sind ein paar Lektine offenbar nicht so schlimm. Vielleicht sind sie sogar weniger schlimm als die Last der gesammelten Fructose aus fünf Äpfeln auf die Leber? Eine Antwort werden wir so schnell nicht erhalten.

Lektine sind übrigens auch in einigen Salat- und Obstsorten enthalten. Vor diesen warnt in diesem Zusammenhang bislang niemand, auch ist eine problematische Wirkung auf den Großteil der Bevölkerung nicht bekannt. Ein weiterer Hinweis darauf, dass geringe Mengen Lektine aller Wahrscheinlichkeit nach für den gesunden Körper kein Problem darstellen.

Fazit: Sind Lektine gefährlich?

Ja, Lektine können toxisch sein. Sie sind in vielen Lebensmitteln enthalten und es scheint unmöglich, ihnen ganz aus dem Weg zu gehen. Das ist jedoch offenbar kein grundsätzliches Problem für die Gesundheit7, denn durch den Verzehr von Salaten oder Obst sind kaum Lektin-bezogene Probleme bekannt: Geringe Mengen Lektine scheinen harmlos.

Angesichts der Studienlage scheint im Normalfall nichts dagegen zu sprechen, hin und wieder eine ordentlich zubereitete Bohnensuppe zu essen. Vorausgesetzt, die Bohnen werden zuvor längere Zeit gewässert und die Suppe ordentlich durchgekocht. Dann dürfte der Lektingehalt so niedrig liegen, dass sich bei gelegentlichem Verzehr keine großen Probleme einstellen sollten.

Letztlich ist auch das eine Frage der Verhältnismäßigkeit. Hülsenfrüchte umfassen zudem eine große Bandbreite verschiedener Bohnen, deren Lektingehalt teils um den Faktor zehn abweicht (rote Nierenbohnen enthalten zehnmal so viel Lektine wie Ackerbohnen).

Wer möglichst vielen Lektinen aus dem Weg gehen möchte (zum Beispiel aufgrund einer Darmerkrankung), für den ist sicher ratsam, auf Getreide, Hülsenfrüchte, Nüsse, Milchprodukte und Eier völlig zu verzichten.

Siehe auch: Urgeschmack: Was sind Lektine?

Fußnoten

  1. Michael D. Swanson et al. (2010) A Lectin Isolated from Bananas Is a Potent Inhibitor of HIV Replication. The Journal of Biological Chemistry, March 19, 2010, 285, 8646–8655.
  2. Siehe auch Olschewski, Felix (2012) Ist fermentiertes Getreide gesund? Urgeschmack.
  3. George Grant et al. (1982) The effect of heating on the haemagglutinating activity and nutritional properties of bean (Phaseolus vulgaris) seeds. Journal of the Science of Food and Agriculture. Volume 33, Issue 12, December 1982, Pages 1324–1326.
  4. Poel TFBvander (1990) Thermal inactivation of lectins and trypsin inhibitor activity during steam processing of dry beans (Phaseolus vulgaris) and effects on protein quality. Journal of the Science of Food and Agriculture. 01 Jan 1990, 53(2):215–228;Maria Regina B. Carvalho et al. (1997) Heat treatment and inactivation of Trypsin-Chymotrypsin inhibitors and lectins from beans (Phaseolus vulgaris L.). Journal of Food Biochemistry, Volume 21, Issue 4, October 1997, Pages 219–233.
  5. N.R. Reddy et al. (1994) Reduction in antinutritional and toxic components in plant foods by fermentation. Food Research International, Volume 27, Issue 3, 1994, Pages 281–290.
  6. Radha Ayyagari et al. (1989) Lectins trypsin inhibitors, BOAA and tannins in legumes and cereals and the effects of processing. Food Chemistry. Volume 34, Issue 3, 1989, Pages 229–238; Dhuranda et al. (1990) Effect of Cooking on Firmness, Trypsin Inhibitors, Lectins and Cystine/Cysteine content of Navy and Red Kidney Beans (Phaseolus vulgaris). Journal of Food Science. Volume 55, Issue 2, March 1990, Pages 470–474; Concepcion Vidal-Valverde et al. (1994) Effect of processing on some antinutritional factors of lentils. J. Agric. Food Chem., 1994, 42 (10), pp 2291–2295.
  7. David L J Freed (1999) Do dietary lectins cause disease? BMJ. 1999 Apr 17; 318(7190): 1023–1024.

Die Kommentarfunktion ist deaktiviert.