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Ist Rohkost für Menschen artgerecht?

RohkostRohkost sei natürlich und nährstoffreich, lautet die Prämisse. Deswegen sei sie gesund und die einzig korrekte Ernährung für den Menschen. Eiferer streiten, ob es nun 42 °C oder 47 °C sind, die ein wertvolles Lebensmittel in todbringendes Gift verwandeln. Derweil zeigt ein Blick auf das Gesamtbild der Datenlage: Reine Rohkost ist für den Menschen weder artgerecht, noch gesund, noch sinnvoll.

Das Verdauungssystem des Menschen ist nur etwa 60 Prozent so groß, wie man von einem Primaten unserer Größe erwarten würde. Wir verfügen über einen relativ kleinen Mund, kleine Zähne und kleine Lippen. Unser Verdauungssystem ist dadurch effizienter, durch den kleineren Dickdarm sparen wir viel Energie. Dadurch sind wir jedoch auch auf relativ energiereiche Nahrung angewiesen.

Energiereiche Nahrung, wie man sie praktisch nur durch das Kochen erhält. Rohe Stärke zum Beispiel aus Kartoffeln, Weizen oder Kochbananen verwerten wir im Vergleich zu gekochter Stärke nur zu rund 50 bis höchstens 70 Prozent durch den Dünndarm. Das wissen wir aus Untersuchungen an Ileostomiepatienten: Rohe Stärke gibt uns erheblich weniger Energie als gekochte Stärke.

Kochen und Verarbeiten erhöhen den Energiegewinn bei der Verdauung. Das geschieht sowohl durch chemische Veränderungen wie die Gelatinierung von Stärke und die Denaturierung von Proteinen, als auch durch physikalische Veränderung wie Mahlen und Zerkleinern. Der Energiegewinn aus Fleisch erhöht sich durch Mahlen um rund zwölf Prozent und durch Kochen ebenfalls um rund zwölf Prozent. Kombiniert man beide Methoden, kumuliert dies zu rund 23 Prozent Mehrgewinn. Das liegt auch an den geringeren metabolischen Kosten für die Verdauung verarbeiteter Lebensmittel.

Weiches und gekochtes, leicht verdauliches Essen liefert mehr Energie als in seiner rohen Form. Selbst bei exakt gleicher Kalorienzufuhr und Qualität nehmen Ratten mehr zu, wenn sie die gleiche Nahrung in einfacher verdaulicher Form (in diesem Fall mit einem größeren Luftanteil) bekommen. Sie bilden 30 Prozent mehr Bauchfett.

Schauen wir uns mit diesen Daten im Hinterkopf die Realität des Menschen an. Alles deutet darauf hin, dass es für Menschen unmöglich ist, in der Wildnis von Rohkost zu überleben. Immer wieder sagte man diversen naturnah lebenden Völkern und Stämmen nach, sie würden grundsätzlich alles roh verzehren. Der Primatologe und Professor für biologische Anthropologie an der Harvard Universität Richard Wrangham weist darauf hin, dass dies nicht der Realität entspricht. Durchaus gibt es Fälle, in denen Menschen aus verschiedenen Gründen in Notsituationen gezwungen waren, für begrenzte Zeit von reiner Rohkost zu überleben. Alle dokumentierten Fälle haben eines gemein: Energiemangel. Zum Zeitpunkt ihrer Rettung litten alle Menschen unter Hunger und hatten viel Gewicht verloren.

Wir sind nicht völlig frei in der Wahl unserer Energiequelle. So können wir uns nicht allein von magerem Fleisch ernähren, wie dies etwa in der Wildnis naheliegt. Wenigstens 50 Prozent unserer täglichen Kalorien müssen aus Kohlenhydraten oder Fett kommen, sonst kommt es zur Proteinvergiftung. Allerdings gibt es nur in wenigen Habitaten ganzjährig hochkalorische Pflanzenkost (etwa stärkehaltiges Gemüse oder Obst). Wilde Tiere sind abgesehen von den polaren Gebieten nicht ganzjährig ausreichend fett. Und die dann verfügbare Pflanzenkost können wir in Rohform nicht ausreichend verdauen. Wir bekämen also zeitweise nicht genug Energie aus Fett oder Kohlenhydraten. Die Folge wäre der in den Notsituationen genannte Energiemangel.

Der frühe Mensch mit unserem Verdauungssystem hätte nicht ohne das Kochen überleben können. Wrangham sieht aus diesem Grund den Ursprung des Homo Erectus als den Zeitpunkt, als das Kochen begann*. Einerseits waren die ernährungsabhängigen Veränderungen, darunter die Verkleinerung der Zähne und die Veränderung des Brustkorbs gemäß eines kleineren Magens, größer als zu jedem anderen Punkt in der Evolution. Und sie passen zur These, die Ernährungsqualität habe sich verbessert und das Essen sei weicher geworden. Andererseits verloren wir die Fähigkeit zum effizienten Klettern und schliefen somit auf dem Boden. Dies ist ohne Kontrolle über das Feuer als Schutz kaum zu erklären. Die Entwicklung des Homo erectus vor rund 1,8 Millionen Jahren vom Homo habilis begleitete eine Vergrößerung der Kranialkapazität um 42 Prozent. Dies deutet auf größere Energieverfügbarkeit hin, denn das Gehirn verbraucht besonders viel Energie.

Die kritische Rolle der Energieverfügbarkeit verdeutlichte auch die Gießener Rohkoststudie. Ein großer Teil der untersuchten Rohköstler war untergewichtig, alle verloren unabhängig vom Ausgangsgewicht durchschnittlich 10 kg. Ein Drittel der Frauen unter 45 Jahren war unfruchtbar, es gab massive Nährstoffmängel. All dies unter Verwendung moderner Geräte wie Pürierstäben, Mixern und Mühlen, die bereits die Verdaulichkeit erhöhen. Hätte der Mensch in seiner Geschichte entschieden, sich künftig nur noch von Rohkost zu ernähren, würde es ihn in seiner heutigen Form nicht geben können. Die Evolution unserer Physiologie, so argumentiert auch Wrangham, ist eng verknüpft mit dem Feuer als Werkzeug zum Kochen zwecks Erhöhung der Energieverfügbarkeit.

Rohe Nahrung muss man erheblich länger kauen als gekochte und verarbeitete Nahrung. Schimpansen verbringen ca. 6 Stunden täglich nur mit Kauen und Verdauen. Für den frühen Menschen war daher das Kochen ein entscheidender Durchbruch auch in der sozialen, ökonomischen und intellektuellen Evolution – durch bessere, einfachere und schnellere Energieversorgung.

Demnach sind Menschen auf das Kochen angewiesen. Reine Rohköstler können nur in einer modernen Umgebung mit hochwertigen, teuren, unnatürlich energiereichen Lebensmitteln überleben. Roh ist nicht gleich unverarbeitet. Unsere modernen Geräte zur Verarbeitung erleichtern ebenfalls die Verdauung – und Rohköstlern das Leben.

Zweifelsohne trägt dies zur Beliebtheit des Smoothie-Trends bei, dessen Anhänger ihre Nahrungsmittel vor der Einnahme bis zur Unkenntlichkeit zerkleinern und so den Energiewert, den effektiven Kaloriengehalt signifikant erhöhen. Eine Form der Nahrungseinnahme, die laut Wrangham auch Affen bevorzugen.

In der Rohkostszene kursieren, wie auch im Bereich der veganen Ernährung und unter Paleo-Fans, abstruse, ideologische und pseudowissenschaftliche Erklärungen, warum genau dies die richtige und einzig korrekte Ernährung für den Menschen sei. Dies hilft den Anhängern bei der Hingabe zum Prinzip, erklärt Wrangham. Denn solche Ernährungsideologien beeinträchtigen das Sozialleben, kosten Zeit und Geld und erfordern große Willenskraft gegen die Versuchung. Sie können persönliche Probleme wie häufiges Urinieren oder Verstopfung verursachen und teils das Vergiftungsrisiko durch Keime oder Toxine erhöhen. Ohne eine entsprechende Erklärung, ganz gleich wie absurd, ließe sich dies kaum rechtfertigen.

Kochen als Katalysator des Lebens

Energie ist von zentraler Bedeutung für das Leben. Kochen erhöht die Energieverfügbarkeit. Das Kochen bietet somit für das Leben entscheidende Vorteile. Dem Menschen hat es so große evolutionäre Sprünge ermöglicht, dass seine Physiologie heute eng damit verknüpft ist.

Ein Rohkostanteil in der Ernährung kann absolut sinnvoll sein: für die Gebisspflege, für die bessere Versorgung mit einigen spezifischen Vitamine und Enzymen und Bakterien zur Pflege der Darmflora und nicht zuletzt für den Genuss. Eine Ernährung allein von reiner und vor allem gänzlich unverarbeiteter Rohkost ist jedoch offenbar unrealistisch und im Normalfall nicht sinnvoll.

Auch hier zeigt sich wieder das Prinzip der Balance als erfolgreichste Ernährungsform.

Buchtipp zum Thema:
Für seine These, das Kochen habe uns erst zum Menschen gemacht, argumentiert Wrangham in seinem ausgezeichnet geschriebenen und recherchierten Buch. Ein fesselnder Streifzug durch Anthropologie, Archäologie, Biologie, Evolutionstheorie und Primatologie :

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