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Wie Rezepte das Essen verschlechtern

Viele Menschen verstehen Kochrezepte als Eckpfeiler guten Kochens. Wer jedoch Rezepte genau befolgt, verarmt seine Sinne: Eine Uhr kontrolliert die Garzeit – wer braucht da seine Ohren um zu hören, wie es knistert? Oder seine Nase, um zu riechen: Gleich brennt es an? Rezepttreue produziert statt gutem Essen reichlich Abfall und lehrt genau eines nicht: Gut kochen.

Sechzig Gramm von diesem und zweihundertfünfzig Gramm von jenem für vier Minuten bei jener Temperatur verrühren und fertig ist das köstliche Essen. So steht es schließlich geschrieben und deutet an: Wer diese Regeln befolgt, erhält zum Lohn die attraktive Mahlzeit auf dem nebenstehenden Foto mit dem unpraktischen Messer auf dem Landhaus-Tisch, den man zu jeder Mahlzeit mit frischen Rosenblütenblättern dekoriert, um den keck zwischen Olivenholzobstschale und Weinglas positionierten Strohhut zu kontrastieren. Und manchmal, ganz selten stimmt es sogar: Wer das Rezept ganz genau befolgt und sich wirklich bemüht, der kann die Speise genauso auf dem Teller anrichten und dann steht sie da und erfreut das Auge – die übrigen Sinne gehen derweil schlafen. Wozu abschmecken, wenn die Gewürzmengen doch angegeben sind? Wer schult seinen Tastsinn, wenn da steht: Drei mittelgroße Tomaten?

Drei mittelgroße Tomaten: Selbst eine Angabe mit so viel Spielraum ist eine Illusion. Keine Tomate gleicht der anderen. Die Pflanzen wachsen unter verschiedensten Bedingungen: Sorte, Boden, Klima und mehr beeinflussen den Geschmack. Wer da nicht tastet, riecht und probiert und stattdessen einfach drei mittelgroße Tomaten greift, bekommt bestenfalls das Mittelmaß. Das mag genügen, um die Idee des Rezeptes zu erfüllen. Doch Essen zielt auf den Geschmack und der ist ein Merkmal des Nährwertes. Befolgt man einfach nur das Rezept, erhält man mittelmäßigen Geschmack und ebensolche Ernährung.

Und selbst wer die Zutaten unter Kontrolle hat, kann sich nicht zurücklehnen und beruhigt am Rotwein nippen. Nicht nur die Natur, auch unsere Küchengeräte liefern Chaos, nehmen wir Backöfen: Die haben eine ungleichmäßige Hitzeverteilung, heizen unterschiedlich schnell und ihre ungenauen Thermostate erfassen nicht, wie die Luftfeuchtigkeit im Ofen die Temperaturwirkung beeinflusst.

Wer die Mittelmaße der Rezepte befolgt, kann damit vielleicht eine geschmackliche Katastrophe vermeiden, verhindert jedoch zugleich etwas Herausragendes. Denn wirklich gutes Essen folgt nicht aus dem genauen Einhalten des Rezepts. Im Gegenteil: Ein guter Koch reagiert flexibel auf die individuellen An- und Herausforderungen der natürlichen Schwankungen frischer Zutaten und kann durch aufmerksamen Einsatz seiner Sinne so das beste aus ihnen machen. Kein Messgerät übertrifft in der Küche einen Satz gepflegter Sinne.

Wer nur nach Rezept und Maß kocht, untergräbt sein Selbstvertrauen. Er kann nicht lernen, sich auf seine Wahrnehmung zu verlassen und suggeriert, seine Sinne seien unwichtig. Diese Art des Kochens nach Formel degradiert den Koch zur ausführenden Maschine: Eine Arbeit für Roboter.

Weder Zahlen, noch Eigenschaftsworte können die nötigen Eindrücke vermitteln. Deswegen müssen wir diese Erfahrungen selbst sammeln und beim Kochen aufmerksam probieren, beobachten, hören, fühlen und riechen.

Natürlich misst auch ein kreativer Koch: Nämlich wenigstens per Augen- oder Handmaß oder mit der Waage als Ausgangspunkt. Freilich hilft es auch, Zahlen als Richtwerte festzuhalten. Doch es kann Erfahrung und Sinneseindrücke, die nötige Menschlichkeit, nie ersetzen.

Anders als beim Kochen ist es beim Backen: Weicht man dort von der Formel ab, funktioniert das Gebäck nicht, denn Backen verlässt sich überwiegend auf physikalische und chemische Eigenschaften der Zutaten. Dort macht es auch nichts, wenn kleine Mengen der meist lagerfähigen Zutaten wie Mehl, Zucker und Nüssen übrig bleiben.

Hat man jedoch einen 200-ml-Becher Sahne in der Hand und klammert sich an die im Soßenrezept angeordneten 180 Milliliter, erzeugt man unnötig einen leicht verderblichen Rest: Zwanzig Milliliter mehr Sahne schaden keiner Soße.

Ist die Zwiebel zu groß, zwei Radieschen zu viel, das Steak zu schwer, dann bleiben oft kleine oder große Stücke übrig und dem Verfall überlassen. Ein genau befolgtes, abgemessenes Rezept schränkt die Flexibilität ein, wenn man seinetwegen die Möhre hinten in der Gemüseschublade nicht zum Suppengrün gibt, weil sie nicht im Rezept stand.

Selbst wenn das Essen fertig ist, erzeugt der Rezeptkoch häufig Abfall: Weil es relativ wenige Rezepte für Essensreste gibt. Wenn die rettende Idee nicht kommt, die kalten Gemüsereste der Woche mittels einer Béchamelsoße in einen Auflauf zu verzaubern, landen die kostbaren Reste oft im Müll. Und wenn wir Essensreste wegwerfen, verlieren wir neben der Nahrung auch den Aufwand sowie die Überbleibsel der Gedanken und Sorgfalt, die wir in die Zubereitung dieses Gerichts gesteckt haben. Dann müssen wir bei der nächsten Mahlzeit von Neuem überlegen, was wir essen und wieder mit allem ganz von Vorn anfangen.1

Der schreibende Koch notiert die genauen Maße kaum aus reiner Bosheit: Viele Leser wünschen sich genaue Angaben. Solche sind jedoch in den Zubereitungsschritten, dem tatsächlichen Vorgang erheblich wichtiger als in Form von Maßangaben für die Zutatenliste. Trotzdem dominieren heute in vielen Kochbüchern penible Gewichts- und Mengenangaben, während die eigentliche Kochanleitung häufig Lücken enthält.

Wie können wir solche Rezepte besser handhaben und zugleich unser selbstgekochtes Essen verbessern?

  • Wer Lebensmittel achtsam beschnuppert, mustert und mit den Händen greift, kann sie mit allen Sinnen begreifen und schärft sein Bewusstsein. Das steigert zugleich seine Wertschätzung und die erhöht den Genuss. Ein guter Koch kennt seine Zutaten.
  • Genaue Mengen- und Gewichtsangaben in Kochrezepten sind meist unwichtig und oft zweckwidrig. Wir sollten sie nur als Größenordnungen verstehen. Statt auf die Küchenwaage zu starren sollten wir uns auf unsere Sinne und die Geschehnisse beim Kochen konzentrieren (z. B. horchen ob es anbrennt), um daraus zu lernen. Ein guter Koch ist achtsam.
  • Köche schreiben Rezepte von ihrer Küche aus. Sie kennen nicht den Inhalt unserer Kühlschränke und wissen nicht, was wir verbrauchen müssen und welche Gelegenheiten unser Vorrat bietet. Ein Rezept beginnt daher mit den Zutaten und endet mit dem Servieren. Dieses Staccato stört die Beständigkeit des Küchenlebens und lässt keinen Raum, Reste weiter zu verwenden. Besser als starre Rezepte ist daher gute Vorbereitung: Gewürze, Parmesan, getrocknete Pilze, Reis, Butter, Rotwein, Hafergrütze, ein paar haltbare Gemüse im Schrank sind die Zutaten für unendlich viele köstliche Neukreationen. Und wir können und sollten damit bestehende Rezepte verbessern und experimentieren. Ein guter Koch ist mutig.
  • Lebensmittel sind kostbar, sie können Leben retten. Ausgangspunkt beim Kochen sollte deswegen immer sein, was gerade im Kühlschrank liegt und besonders, was gerade verbraucht werden muss. Daran sollten wir schon beim Einkauf denken. Ein guter Koch ist sparsam.

Fußnoten

  1. Siehe auch Adler, Tamar (2011) An Everlasting Meal.*

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