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Warum sinkt der Nährstoffgehalt unserer Lebensmittel?

Sinkender Nährstoffgehalt in TomatenEssen ist nicht mehr, was es einmal war. Früher war Essen nicht unbedingt immer besser und sicherlich nicht aus Holz. Doch die Zutaten haben anders geschmeckt. Intensiver. Mehr. Radieschen waren schärfer, Tomaten süßsäuerlicher und der Blumenkohl, nun, der schmeckte mehr nach Blumenkohl. Irgend­etwas scheint im Verlauf der letzten Jahr­zehnte den Geschmack aus unseren Lebensmitteln gedrängt zu haben.

Dieser Eindruck ist mehr als ein Gefühl, denn die Zusammensetzung unserer Lebensmittel hat sich in den vergangenen 50 Jahren messbar verändert. Ein Blick in verschiedene Ausgaben entsprechender Übersichten der chemischen Zusammenset­zung unserer Lebensmittel zeigt drastische Veränderungen: Orangen enthalten nur noch ein Achtel des Vitamin A, Brokkoli liefert 80 Prozent weniger Kupfer, Tomaten haben drei Viertel ihres Kalziums eingebüßt1. Weizen verlor seit 1842 bis zur Hälfte seiner Mineralstoffanteile2.

Donald Davis, Biochemiker an der University of Texas, berichtet über einen gemittel­ten Mineralstoffverlust von insgesamt 5 bis 40 Prozent in Obst und Gemüse4. Ein ähnli­cher Trend deute sich für Vitamine und Protein an. Der Eiweißanteil in Hähnchen ist um rund ein Drittel gesunken – zugleich hat sich der Fettanteil verdoppelt4.

Entsprechend blüht der Markt für Nahrungsergänzungsmittel, deren Wirkung nicht immer offensichtlich ist. Doch in Experimenten mit Ratten fand Davis Hinweise auf subtile Veränderungen durch bessere Nährstoffversorgung: »Die so versorgten Ratten aßen weniger, wuchsen jedoch etwas besser.«5 Die Beobachtungen umfassten weiter­hin bessere Wundheilung, bessere Regeneration und Auswirkungen auf den Zucker­konsum6.

Das stützt die These, Menschen in westlichen Gesellschaften würden trotz sich aus­breitenden Übergewichts verhungern: Die Energieversorgung ist reichlich sicher­gestellt, doch es mangelt an Mikronährstoffen (Vitamine und Mineralstoffe). Es gehört zu den normalen Körperfunktionen, in dieser Situation Hunger zu melden, einige empfinden dies als Heißhunger. Dieser ist demnach nicht allein das Resultat falscher Zuckerhandhabe. Es ist eine logische Folge: Man muss mehr essen, um sich mit der gleichen Nährstoffmenge zu versorgen.

Ist das ein Grund, sich nun schnell Nahrungsergänzungsmittel zu besorgen? Kaum. Diese Beobachtung sollte keine Panik bei denjenigen auslösen, die sich vielseitig von frischen Lebensmitteln ernähren, denn sie sind trotz schwächelnder Pflanzen meist reichlich versorgt. Menschen mit einer eher eintönigen Ernährung auf Basis vorverar­beiteter Lebensmittel und solche in Gegenden mit schlechter Lebensmittelversorgung stellt diese Entwicklung allerdings vor ein Problem.

Auch über die rein reduktionistische Perspektive des Nährstoffismus hinausgehend zeigt sich ein besorgniserregender Blick auf den Geschmack, welcher direkt an die enthaltenen Nährstoffe gebunden ist. Geschmack ist nicht nur der Antrieb der Ernäh­rung, sondern ein Ausdruck unserer Kultur und damit unserer Identität. Deswegen benötigen auch die Menschen in den besser versorgten Regionen eine Lösung dieses Problems. Wir sitzen diesbezüglich nicht alle im gleichen Boot, jedoch in einer kleinen Flotte mit dem Namen Menschheit. Und auch für diejenigen an der Spitze wird irgend­wann der Wind nicht mehr genügen.

Wie können wir eine Flaute vermeiden?

Zunächst müssen wir die Ursache des Phänomens verstehen. Da Pflanzen ihre Nährstoffe aus dem Boden beziehen, führt man oft voreilig ausgelaugte Böden als Ursache an7. Richtig ist, dass konventionelle Landwirtschaft, die Grüne Revolution eingeschlossen, besonders in den vergangenen 50 Jahren weltweit zu massivem Frucht­barkeitsverlust und Bodenzerstörung geführt hat. Zu verantworten hat diese Schäden jeder, der die so erzeugte Ware gekauft und gegessen hat, unterm Strich also wir alle. Doch eine differenzierte Betrachtung deutet auf mehr als ausgelaugte Böden hin.

Davis führt dazu einen umweltbedingten Verdünnungseffekt an. Intensive Düngung und Bewässerung führen zu höheren Erträgen, doch »die Fähigkeit Nährstoffe zu produzieren oder aufzunehmen konnte mit dem schnellen Wachstum nicht schritthal­ten«, wie Agrarwissenschaftlern bereits seit den frühen 80er Jahren bekannt sei8.

Die Zucht von Sorten mit größeren Erträgen, besserer Schädlingsresistenz und erhöhter Klimaanpassung führe zudem zum genetischen Verdünnungseffekt: Ertrag­reichere Sorten enthalten demgemäß unter gleichen Wachstumsbedingungen anteilig weniger Nährstoffe.

Der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln reduziert auch den Anteil von Antioxidantien. Ökologisch erzeugte Lebensmittel enthalten mehr dieser sekundären Pflanzenstoffe, was man auf den größeren Stimulus zum Selbstschutz der Pflanze zurückführt.

Wenn Bodenfruchtbarkeit, umweltbedingte und genetische Verdünnungseffekte sowie der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln Grund für den sinkenden Nährstoffanteil unserer Lebensmittel sind, dann deuten die Zeichen eindeutig auf die Methoden der Landwirtschaft als Ursache. Die Methoden der konventionellen Landwirtschaft.

Dieser Befund entlässt jedoch den Verbraucher, den Konsumenten nicht aus der Ver­antwortung. »Essen ist eine landwirtschaftliche Handlung, wir alle sind Landwirte durch einen Bevollmächtigten«, erklärt Landwirt und Autor Wendell Berry. Wir mö­gen die Arbeit abgeben und bezahlen, doch wir sind verantwortlich für die Erzeugung. Wir »können nur essen, wenn in unserem Namen Land irgendwo in irgendeiner Weise bewirtschaftet wird.«9

Glücklicherweise präsentieren sich als mögliche Lösungen bereits der ökologische Landbau und besonders konsequent die biodynamische Landwirtschaft (z. B. Demeter), welche mit sorgfältigen Fruchtfolgen und anderen Mitteln für den Erhalt der Bodenfruchtbarkeit arbeitet. In diesem Rahmen arbeiten Züchter selbstverständ­lich auch für gute Erträge, jedoch nie über die Kapazität der Pflanze hinaus und stets mit dem Blick auf guten Geschmack, also auch ordentlichen Nährstoffanteil. Pflanzen­schutzmittel entfallen überwiegend.

Wer als Verbraucher das Problems mitverursacht, kann durch seine Kaufentschei­dung zum Teil der möglichen Lösung werden. Wirklich nachhaltig ist die Lösung aber erst, wenn wir sie in unsere Kultur integrieren. Beziehungsweise: Reintegrieren, denn bis zur Industrialisierung und Zentralisierung unserer Nahrungskette war die Teilnah­me der gesamten Gemeinschaft an der Nahrungsmittelerzeugung üblich.

Integration bedingt Handlungen jenseits der Kaufentscheidung. Sie erfordert Auf­merksamkeit beim Kauf, bei der Verarbeitung und beim Verzehr, denn ohne diese nehmen wir Qualität und Geschmack nicht wahr und können kein Verständnis ent­wickeln. Erst das Verständnis ermöglicht Wertschätzung und erst diese ermöglicht den Einfluss in die gemeinschaftliche Kultur.

Auf einer ähnlichen Perspektive beruht die Slow-Food-Idee und es verwundert kaum, dass diese Organisation ihren Anfang in Italien mir seiner besonders leidenschaftli­chen Esskultur nahm. Vor diesem Hintergrund, der Entschleunigung des Essen und Zubereitens, ist auch der tendenziell höhere Nährstoffgehalt erwähnenswert, den frisch zubereitete Speisen gegenüber Fertiggerichten mit langer Lagerzeit aufweisen.

Wie können wir eine solche Kultur schaffen?

Viele Menschen kennen ihre geliebten Bier- und Weinsorten, wissen um die Unter­schiede und begreifen: Bier ist nicht gleich Bier. Zugleich haben sie keinerlei Verständ­nis für Wachstum und Sortenunterschiede von Tomaten. Was spricht dagegen, den Lebensmitteln das gleiche aufrichtige Interesse zu widmen wie den Genussmitteln?

Wenn wir unsere Lebensmittel, unsere Möhren, Rote Bete und Tomaten anhand des intensivsten Geschmacks aussuchen, entscheiden wir uns für höheren Nährstoffgehalt und senden dem Handel zugleich ein Signal, dass wir minderwertige Ware ablehnen. Das sind kleine Schritte, doch auch eine mächtige Eiche wächst aus einer winzigen Frucht. Es ist der Weg in eine Kultur der Wertschätzung.

Größe, Menge und Preis sind keine geeigneten Kriterien zur Qualitätsbeschreibung. Auch Siegel wie Bio, Naturland und Bioland sind lediglich Zertifikate und kein Garant für köstliches Gemüse. Allerdings bieten ökologische und besonders biodynamische Landwirtschaftsmethoden zumindest die Grundlagen und somit eine höhere Wahr­scheinlichkeit für guten Geschmack10. Wer auf Siegel besteht, kann für Lebensmittel aus biodynamischer Erzeugung zu Demeter greifen. Auch hier kann Rückmeldung, Nach­frage und Infragestellung dem System nur helfen.

Wer die Möglichkeit hat, sucht sein Saatgut über Initiativen wie Kultursaat e. V. aus und baut selbst an. Ist dies ausgeschlossen, lohnt sich die Suche nach einem örtlichen Landwirt, der entsprechendes Saatgut und geeignete Methoden wie sorgfältige Frucht­folgen einsetzt. Dazu gehören oft Landwirtschaftsgemeinschaftshöfe (Solidarische Landwirtschaft).

Was kann ich jetzt sofort tun?

Gute Ernährung erfordert Initiative. Selbst wer keinen Wert auf Kultur, Geschmack und Tradition legt, dürfte dem Selbsterhaltungstrieb gemäß dennoch Interesse an einer möglichste guten Nährstoffversorgung haben. Die folgenden Schritte dienen sowohl dem kurzfristigen Eigennutz als auch der Zukunft unserer Gemeinschaft:

  • Haufenweise Gemüse essen: Wer viel unterschiedliches Gemüse isst, kann Umfang und Vielfalt des Nährstoffcocktails zumindest auf Basis der erhältlichen Ware maximieren. Gelegentliche Ergänzung durch Nüsse, Samen und gegeben­enfalls kleinen Mengen frischer Getreide sowie Obst und hochwertige Eiweiß­quellen sind ratsam.
  • Möglichst frische, unverarbeitete und unbehandelte Lebensmittel kaufen: Frische Lebensmittel leben. Je älter sie werden, desto mehr Nährstoffe verlieren sie.
  • Zu Ware aus ökologischer Landwirtschaft greifen: Diese ermöglicht höheren Nährstoff- und geringeren Schadstoffgehalt.

Wer die Priorität auf Geschmack und Nährstoffgehalt sowie ganzheitliche Boden­gesundheit verlagert, muss systembedingt rund zwanzig Prozent geringere Erträge und folglich milchmädchengemäß eine Preiserhöhung von wenigstens zwanzig Prozent in Kauf nehmen (für Lebensmittel mit dann möglicherweise doppelter Nährstoffdichte). Die Kosten für Lebensmittel steigen, doch dies sind keine Ausgaben, sondern Investi­tionen. Und zwar erheblich bessere Invesitionen in die eigene und unsere gemeinsame Zukunft als konventionelle Ware.

Fußnoten

  1. McCance and Widdowson’s the Composition of Foods.* 2014. Royal Society of Chemistry
  2. Halweil, Brian (2007) Still No Free Lunch: Nutrient levels in U.S. food supply eroded by pursuit of high yields. The Organic Center
  3. Davis, Donald R. (2009) Declining Fruit and Vegetable Nutrient Composition: What Is the Evidence? Hortscience vol. 44(1)
  4. Wang et al. (2009) Modern organic and broiler chickens sold for human consumption provide more energy from fat than protein. Public Health Nutrition, Volume 13, Issue 3. March 2010, pp. 400-408
  5. Passwater, Richard A. (2006) Why Foods Alone Are Failing Us: Significant declines found in the nutritional values of vegetables and fruits. An Interview with Donald R. Davis, Ph.D. part 1. Whole Foods magazine June 2006
  6. Davis DR, Williams RJ. (1976) Potentially useful criteria for judging nutritional adequacy. Am J Clin Nutr. 1976 Jul;29(7):710-5.
  7. Scientific American Dirt Poor: Have Fruits and Vegetables Become Less Nutritious?
  8. Passwater, Richard A. (2006) Why Foods Alone Are Failing Us: Significant declines found in the nutritional values of vegetables and fruits. An Interview with Donald R. Davis, Ph.D. part 2. Whole Foods magazine June 2006
  9. Berry, Wendell (2003) The Art of the Commonplace: The Agrarian Essays of Wendell Berry*
  10. Barber, Dan (2016) Why Is This Matzo Different From All Other Matzos? The New York Times

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