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Angst vor Nährstoffen

Nährstoffe in Ei, Zwiebel und Steckrübe»Bekomme ich genügend Vitamine? Ist zu viel Eisen im Essen? Was ist mit dem Calcium und sollte ich nicht besser das Gluten meiden? Und wie soll ich all diese Nährstoffe aufnehmen, ohne zu viele Kalorien zu mir zu nehmen?« Statt die Zeit mit der Suche nach Antworten zu verbringen, sollten wir die Prämisse hinter diesen Fragen selbst anzweifeln.

Das von Gyorgy Scrinis beschriebene Konzept des Nährstoffismus beschreibt die Reduktion von Lebensmitteln auf die messbar enthaltenen Nährstoffe. Diese Ideologie dominiert heute unser Denken über Lebensmittel und unsere Perspektive auf ihren Kontext mit unserem Körper und dessen Nährstoffbedarf. Durch diese Betrachtung ist die Zahl der ernährungsbezogenen Ängste gestiegen und die Sorgen haben im vergan­genen Jahrhundert drei wesentliche Formen angenommen:

  • Die Besessenheit, genügend essenzielle Nährstoffe zu bekommen.
  • Die Angst vor zu vielen ungesunden Nährstoffen.
  • Die Sorge vor einer Knappheit besonders gesundheitsförderlicher Nährstoffe.

Scrinis platziert diese Prägungen des Nährstoffismus geschichtlich als die Quantifizie­rungsära, die Gut-und-schlecht-Ära und die funktionale Ära.

Vitaminwahn und Kalorienzählen

Ende des 19. Jahrhunderts identifizierte die Ernährungswissenschaft die für das Körperwachstum und die Vorbeugung von Defiziten notwendigen Arten und Mengen von Nährstoffen. Protein erhielt sein Label als wachstumsfördernd und entsprechend folgten überschwängliche Empfehlungen zum Fleischverzehr, bald darauf ausgeweitet auf Milchprodukte.

Etwa zur gleichen Zeit etablierte sich die Kalorie als Messwert für den Energiegehalt von Lebensmitteln. Bald darauf erlangte das (wie wir heute wissen unrealistische) Kalorienzählen zum Zweck des Abnehmens weite Verbreitung und geriet zur Quelle entsprechender Ernährungssorgen.

Eine wahre Obsession begann mit der Entdeckung der Vitamine. Die übertriebenen Behauptungen der Hersteller und alternativen Gesundheitsbewegungen hinsichtlich deren gesundheitlichen Wertes gingen weit über die vorsichtigen Erklärungen der Wissenschaftler hinaus und fanden fruchtbaren Boden beim Verbraucher. Vitamine galten in industriell erzeugten und produzierten Lebensmitteln als rar, was einen Ansturm auf Vitaminergänzungen auslöste.

Hinzu kommt die empfundene Nährstoffknappheit: Die übertriebenen Sorgen, nicht nur die stark verarbeiteten Produkte, sondern auch frische Vollwertkost enthielte nicht mehr genügend Nährstoffe, die wir für optimale Gesundheit benötigen. Ein Gedanke, den staatlich angeordnete Programme zur Nährstoffanreicherung unterstreichen. Die Nachricht: Unsere Lebensmittel enthalten nicht mehr genügend Nährstoffe und wir können das durch Nahrungsergänzungsmittel beheben. So schürt man Sorgen und bietet eine Lösung an.

(Der gemessene, durchschnittliche Nährstoffgehalt natürlich erzeugter Lebensmittel ist in den letzten 50 Jahren aus diversen Gründen tatsächlich gesunken. Ob unsere Nährstoffversorgung dadurch wirklich gefährdet ist, steht auf einem ganz anderen Blatt.)

Böse Nährstoffe: Von Fettangst zur Carbophobie

In den 1960er Jahren verbreiteten Ernährungsexperten die Idee, es gebe nicht nur gutes und schlechtes Essen, sondern auch ebensolche Nährstoffe. Fett, gesättigtes Fett und Cholesterin waren von nun an explizite Bösewichte und deren Konsum im Über­maß die Ursache chronischer Erkrankungen. Die Ernährungsängste verlagerten sich nun auf diese bösen Nährstoffe, zugleich blieben jedoch die vorherige Sorge vor einer Unterversorgung und die Angst vor Kalorien bestehen. Vokabeln wie weniger, meiden und reduzieren wurden gebräuchlicher Teil der Ernährungs­empfeh­lun­gen und die Gesamtmenge der Sorgen vergrößerte sich.

Es spielte dabei keine Rolle, dass auch diesmal die Warnungen vor diesen nun bösen, dennoch natürlich vorkommenden Nährstoffen übertrieben waren und jeglicher Pro­portion entbehrten. Stattdessen verurteilte man natürliche Lebensmittel wie Eier und Butter zu Bösewichten und empfahl als Ersatz die aufwändig hergestellte Margarine und industriell fettreduzierte Lebensmittel. Auch für diese neuen, praktisch aus dem Nichts geschaffenen Sorgen gab es somit eine Lösung.

In den 1970er Jahren folgte die von Dr. Atkins geführte LowCarb-Bewegung mit der Carbophobie, also der Diffamierung der Kohlenhydrate. Das Konzept stellte die Warnung vor Fett auf den Kopf und die Lager der Fettfreunde und Kohlen­hydrat­freunde tragen den Kampf bis heute aus. Zum Vorteil der Industrie, die bereitwillig entsprechende Produkte in die Regale stellt.

Funktionale Nährstoffe und Optimale Gesundheit

Der neueste große Trend des Nährstoffismus begann etwa Mitte der 1990er Jahre mit dem Fokus auf funktionale Nährstoffe wie Omega-3-Fettsäuren, Vitamin D, Anti­oxi­dantien, Pflanzenstoffe und Probiotika. Diese Stoffe sollen spezifische Körper­funk­tionen verbessern und bei Einnahme in korrekter Dosis die Gesundheit optimieren. Probiotika für die Darmgesundheit, Protein für Sättigung, Omega-3 fürs Gehirn, nied­rige Glykämische Last für das Blutzuckermanagement.

Perfide ist die zugleich folgende Warnung der Experten, eine suboptimale Einnahme dieser Stoffe erhöhe das Risiko chronischer Erkrankungen. Und so sorgen Verbraucher sich, nicht genügend dieser Nährstoffe zu bekommen. Diese Sorgen ersetzen nicht die alten Ängste vor Kalorien oder einem Übermaß böser Nährstoffe, sondern ergänzen sie. Selbstredend reagiert die Industrie und fügt der kalorienreduzierten Margarine, der sie eben erst das Cholesterin entzogen hat, nun Omega-3-Fettsäuren und Anti­oxi­dantien hinzu. Margarine kann offenbar alles sein.

Zeitgleich erfanden wir Superfoods. Solche Lebensmittel, die besonders große Mengen bestimmter, als vorteilhaft auserkorener Nährstoffe enthalten. Ihr gesundheitlicher Nutzen ist maßlos übertrieben. Kakao, Chiasamen, Avocadokerne – wer sich bester Gesundheit erfreuen möchte, muss diese Dinge essen.

Zweifelsohne leiden einige Menschen unter Nährstoffmängeln aufgrund schlechter Ernährung. Häufig liegt die Ursache in sozioökonomischer Benachteiligung. Für so jemanden scheint ratsam, generell die Lebensmittelqualität zu erhöhen, statt sich auf einzelne Nährstoffe und Ergänzungsmittel zu konzentrieren.

Der gleiche Rat gilt für die meisten Menschen, um den Sorgen und Ängsten des Nährstoffismus zu entkommen. Der Fokus auf einfache, frische und gänzlich selbst verarbeitete Lebensmittel hilft beim Verständnis der Zusammenhänge zwischen Essen und Körper. Statt Listen und Lexika über Nährstoffe zu studieren, sollten wir uns über Lebensmittelqualität weiterbilden. Traditionelles und kulturelles Wissen ist ein Baustein dieser Kompetenz ebenso wie das Vertrauen in die eigenen Sinne und die praktische Erfahrung, die aus achtsamer Zubereitung und Verzehr unseres Essens resultieren.

»Das klingt nach einem vernünftigen Rezept gegen die Angst, ob wir zu viel, zu wenig oder die optimale Nährstoffmenge bekommen«, beschließt auch Scrinis seine Gedan­ken dazu.

Buchempfehlung zum Thema: Scrinis, Gyorgy (2013) Nutritionism: The Science and politics of dietary advice

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