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Was ist nachhaltige Ernährung?

Nachhaltige Ernährung durch Pastinaken?Wer auf Fleisch verzichtet, ernähre sich nachhaltig, meinen viele Veganer. Dem widerspricht mancher Paleo-Fan mit dem Argument, Weidefleisch sei schließlich auch nachhaltig. Wieder andere verschaffen sich mit dem Griff zu Bio-Ware ein reines Gewissen gegenüber der Umwelt.

Dass restriktive Ernährungspläne wie die der Paleo-Fans, Vegetarier, Veganer oder LCHF-Jünger meist gleichermaßen eine Vergewaltigung der Natur darstellen: das ist bei so vielen plausibel klingenden Argumenten kaum vorstellbar. Ist es nicht immer nachhal­tige Ernährung, wenn Bio draufsteht?

Eine Ernährung kann per Definition nur dann nachhaltig sein, wenn wir sie auch in fünfhundert Jahren noch in dieser Form erzeugen können. Ganz gleich wo man mit dem Wühlen durch die kursierenden Vorschläge beginnt, man wird bei logi­schem Vorgehen immer am Boden enden. Im Wortsinn. Denn Ernährung ist ultimativ auf unsere Böden und deren Gesundheit angewiesen. Und liegt die nicht der Bio-Land­wirtschaft am Herzen?

Streng genommen nicht. Siegel wie EU-Bio sind schon auf dem Papier kompromittiert und häufig nur Fortsetzungen der industriellen Perspek­tive mit grünen Mitteln, wie Landwirt und Autor Eliot Coleman beschreibt1. Es sei eine Betrachtung der natürli­chen Umwelt als unzureichendes, oft übel­wollendes System, welches Veränderungen und Verbesserung bedarf.

Unter den in Deutschland vertretenen Anbauverbänden folgt einzig Demeter aus­drücklich den Lehren Rudolf Steiners durch die konsequente Umsetzung biologisch-dynamischer (biodynamischer) Landwirtschaft mit Fokus auf die Bodenfruchtbarkeit und -gesundheit.

Doch auch diese landwirtschaftliche Achtsamkeit erfüllt nicht die Bedingungen wirk­lich nachhaltiger Ernährung. Denn noch immer unterwirft sie das Land dem Diktat des Verbrauchers und Landwirte bauen gemäß der Nachfrage an. Wir essen, was das Land hergibt, statt anzubauen, was das Land erfordert.

Wir picken die vermeintlichen Filetstücke landwirtschaftlicher Produkte heraus. Beim Fleisch im Wortsinn, während kostbare Innereien wie Herz und Leber nur wenige Abnehmer finden. Beim Getreide bevorzugen wir Weizen, wo eine optimale Fruchtfolge oft Roggen und Hafer in gleicher Menge erfordern würde. Wir bauen Tomaten um jeden Preis an, errichten und beheizen Gewächshäuser, obwohl auf dem gleichen Land mit erheblich weniger Ressourcen Pastinaken wachsen könnten. Oder Kartoffeln.

So folgt der Speiseplan zuerst unserer Bequemlichkeit. Ob paleo oder vegan, die erste Frage lautet: Woher bekomme ich mein gewünschtes Lebensmittel? wo sie lauten sollte: Welches ist die beste Nutzung des Landes in meiner Region?

Restriktive Diäten oder Ernährungskonzepte wie paleo, vegan, vegetarisch oder auch LowCarb und LCHF sind aus diesem Grund keine nachhaltige Ernährung. Wer wie die Paleos Getreide per se ablehnt, ignoriert die Ansprüche des Landes genau wie ein Veganer, der durch Fleischablehnung die beste Nutzung eines spezifischen Stückes Land im Zusammenwirken mit Tierhaltung etwa zur Landschaftspflege oder zur Düngung ver­weigert. Ohne Frage gibt es für fast jedes dieser Konzepte irgendwo auf der Welt das optimale Ökosystem. Doch nicht überall. So entkoppeln diese Ernährungskonzepte den Menschen von seiner unmittelbaren Umwelt.

Wer alles nimmt, was er bekommen kann, nutzt ein System im Maximum – nicht im Optimum. Das Maximum hat eindimensionale Quantität im Visir und kümmert sich um Qualität bestenfalls in zweiter Linie. Es arbeitet mit genügendem Erhalt der Bodenfruchtbarkeit, für Nachhaltigkeit kaum ausreichend.

Der US-Amerikanische Koch Dan Barber erläutert in diesem Zusammenhang die fehlerhafte Bezeichnung des Farm-to-Table-Trends. Dabei werben Restaurants, ihre Produkte kämen allesamt direkt von der örtlichen Farm. Das stimmt; doch tatsächlich stehen auch hier Tierproteine und beliebte Gemüse im Fokus der Menüs – gemäß den gewünschten Speisen. Es sei daher eher eine Table-To-Farm-Heran­gehens­weise2. Der Tisch diktiert der Farm, was zu erzeugen sei.

Nachhaltige Ernährung muss demgemäß überall auf der Welt anders aussehen, enthält manchmal viel Fleisch und meist sehr wenig, besteht aus viel Gemüse, Obst und Getreide.

Ein Blick auf langlebige Ernährungsformen deutet auf die Notwendigkeit einer ent­sprech­enden Kultur. Essen war immer Teil unserer Bräuche und Traditionen. Vor den Zeiten des Überflusses und der industriellen Landwirtschaft blieb uns nichts, als das zu essen, was wir bekommen konnten. Mancherorts wuchs aus solchen Ernäh­rungsgewohnheiten eine Esskultur im Einklang mit der Natur, eine Verbindung aus nachhaltiger Landwirtschaft und Landpflege. Sie erfordert den Blick auf den Menschen als Teil der Natur – nicht als ihr Herrscher und auch nicht als ihr Feind.

Eine solche Perspektive erklärt das spanische Wort tierra. Dieser Begriff meint mehr als den Boden, auf dem man steht. Er schließt die gesamte Ökologie der Pflanzen, Tiere und Mikroben ein und bezieht sich auf die gesamte Gemeinschaft. Dazu gehört nach Forstwissenschaftler und Ökologe Aldo Leopold, einem der Mitbegründer der Natur­schutzbewegung, auch die Gemeinschaft der Menschen3. Nur eine solch ganzheitliche Betrachtung könne nachhaltige Landwirtschaft ermöglichen. Damit geht der Begriff tierra über das französische terroir hinaus.

Hierbei identifizieren Menschen sich durch ihre Ernährung. Allerdings nicht frei gewählt wie bei einem Lebensstil oder einer Ideologie (z. B. paleo, vegan) oder religiös motiviert (muslimisch oder jüdisch). Stattdessen definiert umgekehrt der örtliche Boden die Kultur und somit den dortigen Menschen. Gegebenenfalls auch dessen Religion, denn in einem Gebiet mit traditionell weit verbreiteter Schweinezucht ist die Ausbrei­tung etwa jüdischen oder muslimischen Glaubens weniger wahrscheinlich.

Da regionale Lebensmittel an lokale Ökosysteme, Böden, Klimata und Traditionen gebunden sind, ist diese Identifikation des Menschen weltweit einzigartig. Beispiele für entsprechende Produkte sind Jamón Ibérico aus der spanischen Dehesa, Parmaschin­ken und Parmigiano Reggiano (Parmesan) aus der Region Parma oder auch Surstrom­ming in Schweden.

Viele Lebensmittel und deren Produktion sind nicht einfach nur in der Kultur verwur­zelt, sondern teilweise sind sie Inbegriff der Kultur. Sie bestimmen das Leben der Menschen schon durch den unaufhaltsamen Verlauf der Jahreszeiten und entsprechender Ernten. Ein Beispiel dieser engen Verknüpfung von Natur mit Kultur ist die Almadraba mit ihrer über 3000 Jahre alten Tradition des Thunfischfangs.

Solch traditionelle Produktionssysteme sind selten verantwortlich für biologische Probleme. Die Almadraba fängt 700 Tonnen Blauflossen-Thunisch pro Jahr – so viel wie ein industrieller Trawler an einem Tag. Die Bestandsprobleme haben sich erst in den letzten drei Jahrzehnten entwickelt, also nach Beginn der industrialisierten Befischung und dem Wunsch, die ganze Welt mit diesem Lebensmittel zu versorgen2. Folgt nun die Umweltpolitik der industriellen Vorgehensweise und spricht Fangver­bote aus, bedroht sie direkt die Almadraba und ihre Kultur, also menschliche Identi­täten.

Konzepte wie Paleo- oder vegane Ernährung liegen im Trend und pflegen eine globalisierte Perspektive: Bio-Fleisch aus Neuseeland, Bio-Kokosmilch aus Thailand, Bio-Süßkartoffeln aus Peru und Bio-Obst aus aller Welt. Doch selbst bei rein regionaler Versorgung bedingen diese egozentrischen Ideen häufig eine falsche, eine ungünstige Nutzung des Landes.

Als der Omnivore der wir sind, mit dem Feuer, dem opponierbaren Daumen, gewalti­gen intellektuellen Fähigkeiten und den Werkzeugen der Landwirtschaft sind wir vermutlich das einzige Tier, das seine Ernährung nicht nur vorausschauend planen, sondern auch flexibel gestalten und umsetzen kann.

Die Zeit des Sammeln und Jagens ist vorbei und schon für sieben Milliarden Menschen in unserer Situation nicht mehr nachhaltig ausführbar. Wir werden die Landwirtschaft weiterführen, möglicherweise mit Konzepten der Permakultur und Polykultur, des Waldgartens und des Stadtgartens. Werden wir durch unser Vorgehen traditionelle Kulturen zerstören und unser Land und unsere Identitäten verlieren? Oder wagen wir das Aufgeben reiner Bequemlichkeiten, ändern unsere Gewohnheiten und schaffen im Einklang mit der Natur neue, örtliche Kulturen?

Die Antwort beginnt mit täglichen Entscheidungen. Was esse ich heute? Bestehe ich auf meiner Leibspeise? Suche ich das Beste aus der Landwirtschaft? Oder frage ich die Natur durch meinen Landwirt, welches Lebensmittel gerade am besten in den Boden passt, dessen Fruchtbarkeit optimiert und das Ökosystem fördert, in dem ich lebe?

Ein guter Anfang ist gewiss der Griff zu ausschließlich regionalen und saisonalen Zutaten. Doch wie wir sehen genügt das nicht. Wir müssen im nächsten, eigentlich ersten Schritt ergründen, was die Bedürfnisse des Landes sind und welche Nutzpflanze sie erfüllt und Fruchtbarkeit erhält und mehrt.

Das erfordert die Änderung unserer Gewohnheiten. Auch die weniger populären Lebensmittel, deren Anbau für gesunde und effiziente Landwirtschaft unabdingbar ist, wie etwa Buchweizen, zögen auf unserem Speiseplan ein. Vielerorts würden sich die Fleischmengen reduzieren, während an einigen wenigen Orten mehr Milch­produkte auf den Speiseplan drängen. Und in unseren Breiten landeten sicherlich erheblich weniger Bananen, Kokosprodukte und Sojabohnen auf den Tellern.

Die für eine nachhaltige Nahrungskette erforderliche Kultur können Landwirte und Verbraucher, Tiere und Natur nur gemeinsam formen. Während wir vor der eigenen Tür kehren, sollten wir einen Blick in die Umgebung wagen. Jenseits dieses Teller­rands können wir entdecken, welche Pflege das Land benötigt, um uns auch in Zukunft zu versorgen. Mit Lebensmitteln, aber auch Sauerstoff, mit Schönheit und Duft. Mit Leben.

Quellen und weiterführende Literatur:

  1. Coleman, Eliot (2014) Handbuch Wintergärtnerei*
  2. Barber, Dan (2014) The Third Plate*
  3. Leopold, Aldo (1949) A Sand County Alamanac*

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