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Das Leben voll auskosten

Das Leben voll auskosten - die kompetente Wahl des KaffeesGerade habe ich den Stempel meiner sorgsam vorbereiteten French Press heruntergedrückt und setze zum Einschenken an, da betritt der Sohn meiner Pariser Gastgeberin die Küche. Er greift zielstrebig zur mehrere Stunden alten Kanne aus der Filtermaschine, gießt sich schwungvoll einen Becher ein und rammt ihn in die Mikrowelle. In meinen Gedanken stirbt ein Kätzchen einen qualvollen Tod, da lächele ich und freue mich über die Vielfältigkeit des Lebens.

Kaffee ist nach Erdöl Handelsgut #2 auf der Welt. Er ist ein Massenprodukt und für die meisten Kaffeetrinker nicht mehr als eine Gewohnheit, vielleicht Mittel zum Zweck. Relativ wenige wissen um die vielen Unterschiede und Feinheiten im Geschmack. Kaffee dient dabei nur zur Einleitung dieser Geschichte, denn das Phänomen betrifft praktisch alle Lebensmittel.

Third Wave Coffee nennt sich die Bewegung, die Kaffee seit einigen Jahren wieder als Spezialität wie etwa Wein oder Käse kultivieren möchte. Einige dieser Feinschmecker schauen verachtungsvoll auf alle, die ihren Kaffee mit Milch oder Zucker verunreinigen. Viele andere wollen ihre Welt des vielfältigen Geschmacks miteinander teilen.

In der Tat gibt es hier viel zu entdecken. Viel mehr, als uns die vakuumverpackte und vorgemahlene Massenware aus dem Supermarkt zeigen kann. Nur sorgfältig geröstet, frisch gemahlen und mit Bedacht aufgebrüht kann ein Kaffee wirklich sein volles Potential entfalten. In seiner Komplexität steht er damit anderen Lebensmitteln wie Möhren und Kakao in nichts nach. Den meisten Kaffeetrinkern entgehen diese Feinheiten. Sie verbringen ein Leben in friedvoller Ignoranz, statt etwas über das Produkt zu lernen, von dem sie 149 Liter pro Jahr trinken. Sie lernen nichts über die geschmacklich Details – und erst recht nicht über Anbaugebiet, Ernte, Verarbeitung und Röstung, die sich darauf auswirken. Sie betrügen sich selbst um Genuss und Glückseligkeit, um Vorfreude und Bewusstsein. Jeder Schluck könnte ein Lächeln auf das Gesicht zaubern. Doch wie oft fließt das schwarze, heiße Wasser stattdessen achtlos die Kehle herunter während der Blick grimmig auf den Monitor gerichtet bleibt? Wie viele Käffchen gehen in der Bewusstlosigkeit des Tratsches unter?

Später an diesem Tag bietet mir ein Café nahe Notre-Dame sein Gebräu aus vorgemahlenem Kaffee für 6€ pro Tasse an. Ich lehne dankend ab und steuere weiter auf mein Ziel zu: Café Craft. Dort bekomme ich einen frisch gemahlenen Äthiopier, gebraut mit viel Zeit und Liebe und bezahle moderate 3,50€.

Ich erwarte nicht, dass wir alle nur noch Spezialitäten-Kaffee trinken. Es muss ja auch nicht jeder Miles Davis hören. Wir leben in einer Gesellschaft, in der jeder so viel Justin Bieber hören kann, wie er möchte. Weil es ihm gefällt. Das ist großartig. Tragisch hingegen scheint mir, wie viele Menschen nichts anderes kennen. Wer seine Alternativen nicht kennt oder versteht, lebt ein beschränktes Leben. Er lebt unvollständig.

Im Kontrast dazu steht in Deutschland die Existenz des Autovergleichs. Fast jeder weiß um die gängigen Automarken, Fahrzeugklassen und Qualitätsunterschiede. Jeder weiß, dass ein alter Käfer sich anders fährt als ein neuer Mercedes. Jeder versteht die Preisunterschiede und hat zumindest einen groben Überblick über die Bedeutung der technischen Daten. Und auch die Argumentationen scheinen konsequent. Es besteht Verständnis für die Menschen, die scheinbar unvernünftig große Summen für Autos ausgeben, wenn sie begründen »Ich erfreue mich jeden Tag an dem Fahrzeug, wenn ich die Tür öffne und einsteige. Jeden Tag, jedes Mal.« Wichtig dabei ist: Das Wissen um diese Unterschiede besteht auch bei denen, die sich die teuersten Autos nicht leisten können oder wollen.

Dabei ist das Auto – jedes Auto – ein Luxusgut. Das Essen hingegen ist lebensnotwendig und es hat unbestreitbar größere und weitergehende Auswirkungen auf alle Bereiche unseres Alltags. Wie kommt es, dass viele Autobesitzer mit ihrem geliebten Gefährt eine halbe Stunde über die Vorteile von Superbenzin diskutieren und danach in den Drive-in der billigsten Fast Food-Schleuder kurven? Es ist eine Frage der Prioritäten. Doch was ist der Grund dafür, dass so vielen Menschen ihre Gesundheit, ihre Umwelt, ihre Zukunft weniger wichtig ist, als ihr Transportmittel?

Die Suche nach einer Antwort führt zur Ausbildung, zum verfügbaren Wissen. »Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß«, beschreibt der Volksmund vage. Wenn das Schulsystem versagt, übernehmen Medien und Werbung die Ausbildung. Und frische Lebensmittel wie einzelne Gemüse, aber auch komplexere Spezialitäten haben hier schlechte Karten, denn die Budgets für Werbung sind zu gering. Wenn in der Werbung niemand erklärt, warum genau die Möhren vom Landwirt um die Ecke so hochwertig und faszinierend sind, dann setzt sich die Werbung der verarbeitenden Industrie durch. Und dort gilt systembedingt: Masse statt Klasse.

Am Ziel genieße ich in Ruhe meinen ersten frisch gerösteten, V60-gefilterten Kaffee seit drei Monaten. Ein Lächeln drängt sich gewaltvoll auf mein Gesicht und ich kann mich nicht wehren: Wie üblich für diese Region Afrikas wirkt das Gebräu auf mich ein wenig wie Honig. Das Gefühl umspielt meine Zunge noch Stunden später.

Justin Bieber verkauft sich besser als Jazz. Das ist zunächst keine Frage des Geschmacks. Zweifelsohne ist Jazz in der Regel komplexer und daher schwieriger zu verstehen als Radiopop. Es ist genau diese schwierige Verständlichkeit, die ihn für viele unattraktiv macht. »Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht.« Auch das sagt der Volksmund und trifft damit ins Schwarze. Würden wir in der Schule weniger tote Zahlen und Fakten auswendig lernen und stattdessen unsere Sinnes- und Kunstkompetenz schulen, gewännen wir ein umfassenderes Verständnis unserer Umwelt. Jazz wäre nicht mehr so schwer zu erschließen. Eine köstliche, süße, frische Möhre gewinnt an Faszination, wenn man um die zu ihrer Produktion nötigen Faktoren weiß und begreift, wie sie sich von einem Erzeugnis aus schlechten Böden unterscheidet. Und was dies beim Verzehr für den Körper bedeutet.

Wir können uns dann immer noch entscheiden, Britney Spears zu hören und Kaffee aus der Mikrowelle zu trinken, weil uns das besser gefällt. Zumindest kennen wir die Alternativen – und wir verstehen, was wir da eigentlich tun.

Jedoch rechne ich damit, dass jeder Mensch, dem seine Optionen in vollem Umfang bewusst werden, sein Konsumverhalten ändert. Wer die Unterschiede zwischen einem medium rare gegrillten Stück Weiderind und einem Mikrowellen-erwärmten Billigburger so gut versteht wie die zwischen einem fabrikneuen Tesla und einem alten Opel Rekord, dürfte Gefallen finden an der qualitativ höherwertigen Alternative.

Im Falle der Ernährung muss höhere Qualität allerdings nicht die teurere Wahl sein. Eine Mahlzeit aus frischem Gemüse kostet nur selten wirklich mehr Geld als die vorverarbeiteten Produkte der Industrie. Vom Nährwert mal ganz abgesehen.

Auch im Falle der echten Spezialitäten, etwa einem handgefertigten, lange gereiften Käse gegenüber dem berüchtigten Analogkäse wird sich diese neu gewonnenen Wertschätzung ändern. Statt viel vom Billigsten zu kaufen und sich dadurch selbst zu frustrieren, landet seltener und weniger, dafür wirklich köstlicher Käse im Einkaufskorb – und zergeht zu Hause bei vollem Bewusstsein und mit höchstem Genuss auf der Zunge.

Dabei geht es nicht um Elitarismus. Sondern um eine für alle Bereiche des Lebens relevante Fähigkeit: Kompetenz. Das Wissen um und die Fähigkeit zur Unterscheidung der verfügbaren Alternativen und die wohlbegründete, bewusste Wahl.

Natürlich hinkt der Autovergleich an einigen Stellen. Das tut er immer. Autos sind Gebrauchs- und keine Verbrauchsgegenstände. Wir kaufen sie relativ selten und nicht täglich oder wöchentlich. Und dennoch funktioniert der Vergleich wenigstens zur Illustration.

Während ich die letzten Tropfen des hell gerösteten Äthiopiers genieße, sattele ich meine Sinne bereits für die weitere Reise. Dass ich die meisten Kaffees nicht mehr trinken mag, nehme ich in Kauf. Umso mehr freue ich mich über den Mittelklassewagen, den ich mir gelegentlich mit meinem bescheidenen Reise-Kaffeebesteck bereite. Ich habe die vielfältige Welt der Kaffeequalität in großen Teilen erkundet und darin meine Grenzen gesteckt. Weder muss ich Geisha für 8 Euro pro Tasse trinken, noch kommt mir alter Kaffee von der Herdplatte auf die Geschmacksnerven. Lieber weniger und seltener, dafür mehr Genuss. Lieber Qualität als Quantität. Und manchmal, schockschwerenot, brühe ich sogar Bohnen über drei Monate nach dem Röstdatum auf – ich werfe Lebensmittel nur ungern weg.

Die Sinne ausbilden: Mehr lernen

Wie kann man seine Sinneskompetenz verbessern und mehr über die verfügbaren Lebensmittel lernen? Es beginnt mit einer einfachen Frage: Was stecke ich da eigentlich in mich hinein?

Unser Körper ist unser Tempel des Lebens. Was wir essen, ist der Baustoff für unseren Tempel. Woraus sind die Steine gemacht? Könnte der Mörtel besser gemischt, der Stein sauberer geschliffen sein? Wie könnte man das Gebäude stabiler machen? Ist das Dach aus Zucker gebaut? Diesen Fragen kann man jeden Tag etwas mehr Wert beimessen.

Was habe ich heute gefrühstückt? Wie hat es geschmeckt? Welches Gefühl hat es mir bereitet? Könnte man das Erlebnis verbessern? Woher kamen die Zutaten? Wer hat sie erzeugt? Ist das wirklich die beste Methode für optimalen Geschmack und Nährstoffgehalt?

Wie gut kenne ich meine Mitmenschen? Kenne ich die Details ihrer Persönlichkeiten wirklich?

Wer das Leben voll auskosten möchte, muss nicht alles auf einmal umstellen. Es ist ein langer Weg und auch die weitesten Ziele erreicht man immer nur, indem man bewusst einen Fuß vor den anderen setzt.

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