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Einfach auf den Körper hören: Ein schlechter Rat

Einfach auf den Körper hören, denn der weiß, was er braucht: Das klingt nach einer plausiblen Empfehlung zu guter Ernährung. Doch es ist ein schlechter Rat. Hunger und Appetit sind zwar gesteuert vom Hormonsystem, jedoch auch abhängig vom sozialen Umfeld und unserer Vergangenheit. Wer in der modernen Welt auf seinen Körper hört, lässt sich täuschen.

Vor zehn Jahren arbeitete ich in der Videospieleindustrie. Ich verschlang Schokoriegel, Pizza und Pasta und hielt mich dazwischen mit stark gezuckertem Kaffee und Saft bei Laune. Das fühlte sich gut an. Und das ist doch ein eindeutiges Signal meines Körpers, oder nicht? Durchaus. Wenn man zehn Kilo zunehmen und aus der Form geraten möchte.

Hunger dient der Energiebeschaffung und Energie ist die Voraussetzung für Leben. Der Drang zur Nahrungsaufnahme dürfte daher wenigstens so alt sein wie das tierische Leben selbst: mehrere hundert Millionen Jahre. Seitdem hat die Natur unzählbare Tierversuche durchgeführt. Wir Menschen nennen das Evolution und sind eine ihrer vorerst komplexesten Entwicklungen. Auch wir haben Hunger; diesen primitiven Trieb. Denn es genügt nicht, im aufrechten Gang durch die Welt zu stolzieren, während wir tiefsinnig quatschen und mit dem opponierbaren Daumen angeben: Ohne Hunger wären wir zu dumm zum Essen und würden uns womöglich einbilden, der Mund sei zum Sprechen konstruiert. Zumindest bis wir verhungert sind.

Die Natur hat uns Hunger mitgegeben, weil das hinreichend funktioniert. Dabei hat sie nicht an Sixpacks und einen knackigen Po gedacht. Die Annahme, die Natur würde denken, ist so häufig wie irrig. Milch sei für Kälber gedacht, deswegen mache sie Menschen krank. Oder Kirschen seien für Vögel gedacht, damit sie etwas zu essen haben und die Kerne verteilen, damit neue Kirschbäume wachsen. Wer das glaubt, der meint womöglich auch, unsere Blutgefäße seien so unter der Haut verlegt, damit die Zecken etwas zu trinken haben.

Hunger ist nicht schlau, sondern ein primitives Werkzeug: Er nutzt unsere Hormone als Messgeräte für Energie- und Nährstoffpegel. Wenn etwas fehlt, zum Beispiel Kohlenhydrate, dann signalisieren sie: Hunger. Und weil die Hormone das seit Millionen von Jahren machen, sich durch die Evolution immer weiter entwickelt haben und oft zu guten Ergebnissen führen, glauben wir: Ich muss nur auf meinen Körper hören. Der weiß, was er braucht.

Das stimmt zwar, aber es ist nicht einmal ein Drittel der Wahrheit.

Erstens hat die Natur uns in einer rauen, bedrohlichen, und hart umkämpften Welt geschaffen. Das Essen wuchs nicht auf Bäumen … OK, doch, es wuchs auf Bäumen. Aber dort saßen und fraßen auch noch unsere Vorfahren, die Affen. Und Vögel und Insekten und Schlangen. Und um uns das Obst endgültig zu vergällen, hat die Natur Giraffen gebastelt.

Nahrungsmittel waren immer umkämpft und knapp. Deswegen bewährte es sich, stets so viel zu essen wie man konnte. Das war selten zu viel. Und wenn es mal Überfluss gab, dann wurde man ein wenig fetter und überlebte den Winter.

Mittlerweile haben wir die Erzeugung von Lebensmitteln durch Ackerbau, Viehzucht und Industrie dem Zufall aus der Hand genommen. Spätestens seit siebzig Jahren leben weite Teile der Menschheit im ständigen Überfluss und verfügen überall zu jeder Tages- und Jahreszeit über billige und energiereiche Lebensmittel. Unser Hormonsystem jedoch ist noch fast das gleiche wie in der von Knappheit geprägten Steinzeit. Wenn wir in unserer modernen Umgebung so viel essen, wie unser Magen zulässt, dann bekommen wir erheblich mehr Energie als damals. Zugleich bewegen wir uns weniger. In der Folge wird unsere Spezies immer dicker. Hunger hilft zwar beim Überleben. Ein flacher Bauch ist allerdings nicht seine Aufgabe.

Trotzdem verlassen viele Menschen sich auf ihre Körperintelligenz: Sie glauben, Ihr Körper teile ihnen stets genau mit, was er braucht. Zumindest bei Ratten funktioniert das eindeutig nicht, wie wir aus Experimenten wissen: Gibt man ihnen die Wahl zwischen Futter mit lebenswichtigen Nährstoffen und solchem, das einfach nur schmackhaft ist, bevorzugen sie letzteres. Für rund drei Viertel der Tiere genügt die Körperintelligenz nicht zum Überleben.1

Zweitens ist Hunger nicht nur abhängig von unseren Hormonen, also unseren körperlichen Bedürfnissen. Hunger ist ein sozialer Impuls. Wir können Hunger bekommen, wenn wir anderen Menschen beim Essen zusehen; wenn wir uns an eine Lieblingsspeise aus unserer Kindheit erinnern; wenn wir uns langweilen; oder wenn wir einfach nur auf die Uhr schauen: aus Gewohnheit.

Unsere Mitmenschen, sogar einfache Geschichten wie Fernsehwerbung können das Essverhalten beeinflussen, legt die Kulturhistorikerin Bee Wilson dar:2 Appetit, Wahl unserer Lebensmittel, Essgeschwindigkeit und die Größe unserer Portionen unterliegen sozialen Kräften.3, 4 Wenn das Gegenüber einen Nachschlag nimmt, neigen wir dazu, es ihm gleichzutun. Greift die Kollegin zum Apfel, stehen wir plötzlich vor der gleichen Entscheidung.

Drittens sind Hunger und Appetit auch Folgen unserer Vergangenheit. Bereits im Mutterleib entwickeln wir Vorlieben und geschmackliche Gewohnheiten, die später weiter durch Muttermilch und entsprechend die mütterliche Ernährung geprägt werden. Was und wie wir als Säugling essen, wirkt sich auf unser restliches Leben aus.5 Bekommen wir bei jedem Anzeichen von Unzufriedenheit etwas zu essen, ebnet das den Weg für das gleiche Verhalten als Erwachsene: Frustfressen.6

Das Gefühl von Hunger oder Appetit ist also kein höchst genaues Messergebnis über den Nährstoffbedarf unseres Körpers. Es verhindert im besten Fall den Tod durch Energiemangel. Das ist seine physiologische Funktion. Schlankheit, Gesundheit, reine Haut, glänzendes Haar und höchste Leistungsfähigkeit sind nicht die Ziele des Hungers.

Wer beim Essen einfach nur auf seinen Körper hören möchte, um gesund und schlank zu bleiben, braucht viel Glück: Ein entsprechendes soziales Umfeld mit gepflegter Esskultur, eine Umgebung frei von Lebensmittelwerbung, eine Vergangenheit mit gesundem Essverhalten und vielseitiger, gesunder Ernährung bereits im Säuglingsalter und nicht zuletzt ein gesundes Hormonsystem.

Nur wenige von uns können sich das aussuchen. Für alle anderen ist die Hoffnung nicht verloren. Ein gesundes Essverhalten kann man lernen. Bis man das geschafft und sich zur Gewohnheit gemacht hat, braucht es stete Achtsamkeit. Das kann jeder leisten, wenn der Hunger kommt:

Habe ich wirklich Hunger? Oder ist es nur Lust auf Ablenkung oder der Wunsch nach einer Belohnung (durch Zucker o. ä.)? Ist es Futterneid? Wie groß ist der Hunger? Wie viel sollte ich überhaupt essen? Hunger ist auch ein sozialer Impuls: Habe ich nur Hunger, weil die schlanke Frau mir was von Joghurt erzählt? Oder weil der Honig in der Fernsehwerbung so lasziv am Toast herunterläuft?

Gedanken an die Figur oder eine moralische Wertung des Essens sollten dabei unterbleiben, denn eine solche Reflexion über Essen und Hunger kann auch zur Essstörung führen. Es geht lediglich um die Unterscheidung echten Hungers von Appetit, Lust, Langeweile und sozialen Bedürfnissen. Dabei kann die Orierntierung an traditionellen Normen als Ausgangspunkt helfen: Höchstens die drei klassischen Mahlzeiten am Tag essen: Frühstück, Mittagessen, Abendessen; und zwischendurch absolut nichts naschen und keine Kalorien trinken (kein Saft, keine Milch, kein Milchkaffee etc). So kann man ein Gefühl für Hunger entwickeln und erlernt seinen eigenen Rhythmus und: Hunger schadet nicht sofort; man kann ihn pflegen (auch als Kurzzeitfasten) und kultivieren.

Siehe auch:

Fußnoten

  1. Gibson Leigh, Edward (2001) Learning in the Development of Food Craving. Siehe auch: Rozin, Paul (1969) Adaptive Food Sampling Patterns in Vitamin Deficient Rats. Journal of Comparative and Physiological Psychology, Vol 69(1), Sep 1969, 126-132.
  2. Wilson, Bee (2015) First Bite.*
  3. Duncker, Karl (1938) Experimental Modification of Childrens Food Preferences through Social Suggestion. The Journal of Abnormal and Social Psychology, Vol 33(4), Oct 1938, 489-507.
  4. Duncker, Karl (1941) On Pleasure, Evolution and Striving. Philosophical and Phenomenological Research 1, 1941/42, 391-430.
  5. Duncker, Karl (1939) The Influence of Past Experience upon Perceptual Properties. The American Journal of Psychology, Vol. 52, No. 2 (Apr., 1939), pp. 255-265.
  6. Birch, Leann L. (2010) Learning to Eat in an Obesogenic Environment: A Developmental Systems Perspective on Childhood Obesity. Child Development Perspectives, 4: 138–143.

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