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Kochen macht schlank

Kochen macht schlankPaleo, Vegan, Rohkost oder Mittelmeerdiät: Wissenschaftler, Medien und Verbraucher suchen seit Jahrzehnten die Beste, die einzig wahre Diät. Kein Programm scheint zu sonderbar, keine Umsetzung zu kompliziert. Dass dabei ein Trend dem nächsten folgt, freut alle Beteiligten: Die Industrie verkauft mehr Spezialprodukte, die Medien haben etwas zu berichten und Verbraucher finden ihre Identität – der Nährstoffismus blüht.

Offensichtlich kann keines dieser Konzepte das Beste sein, denn sie alle funktionieren für einige Menschen hervorragend und für andere gar nicht. Sie haben untereinander viel gemeinsam. Bereits an der Oberfläche zeigt sich der erste und wichtigste Schritt: Die Anwender befassen sich grundsätzlich mehr mit Ihrem Essen als vor der Ernährungsumstellung.

Verfolgt man diese Gemeinsamkeiten weiter, entdeckt man den eigentlichen Wirkungsweg dieser Konzepte. In ihm verbirgt sich ein Hinweis auf die ultimative Ursache der heutigen Ernährungsprobleme. Und die mögliche Lösung, um diese Herausforderung in Angriff zu nehmen.

Wenn Essen zur Pornografie wird

Während wir immer mehr Zeit vor Bildschirmen verbringen – eine Entwicklung, die in den letzten Jahren durch die Verbreitung von Smartphones und Tablets einen vormals ungeahnten Anschub erhielt –, verwenden wir heute nur noch etwa halb so viel Zeit auf die Zubereitung von Essen wie vor rund 50 Jahren. Kurios ist, was wir uns auf diesen Bildschirmen anschauen: Die Zahl der Kochsendungen und anderer essensrelevanter Programme in Fernsehen und Internet ist explodiert. Millionen fiebern mit beim perfekten Dinner, dem Kochduell oder Game of Chefs, bewundern die Makroaufnahmen aufwändig angerichteter Speisen und machen sich so Appetit – während viele von ihnen nebenher die Pizza vom Lieferdienst verschlingen.

Das visuelle Zelebrieren des Essens ist schon lange in Kochbücher eingezogen: Im Fokus der Beurteilung stehen überwiegend die Fotos. Nahaufnahmen, aufwändige Hintergründe und teure Gesamtkonzepte haben die Illustrationen und rein demonstrativen Fotos der Vergangenheit verdrängt. Dutzende solcher Kochbücher zieren die Regale von Liebhabern guten Essens. Oft kocht solch ein Sammler nicht ein einziges der Rezepte selbst nach.

Als Essenspornografie kritisiert Carlo Petrini, Gründer der Slow Food-Bewegung, diese Entwicklung. Wir schauen zu, aber machen es nicht selbst. Die Bilder sollen Lust machen, pfundschwere Burger, begraben unter Schichten aus Speck, Käse und Soße, zielen obszön auf die Speicheldrüsen. Der Schwerpunkt liegt allein auf dem Konsum und auch die aufrichtige Suche nach Kochtipps ist schnell vergessen.

»Wie kommt es, dass wir so erpicht darauf sind, anderen Menschen beim Anbräunen von Rindfleisch zuzuschauen aber so viel weniger erpicht darauf, es selbst zu tun?« fragt sich auch Michael Pollan (u.a. Autor von The Omnivore’s Dilemma und In Defense of Food). Der Aufstieg der TV-Köchin Julia Child in den 1960er Jahren als Figur mit kultureller Konsequenz (zusammen mit anderen Köchen und Köchinnen prägte sie das Kochen im Fernsehen und warb für die furchtlose Nutzung heimischer Küchen) überschnitt sich paradoxerweise mit der Verbreitung von Fast Food und Fertiggerichten und dem Niedergang des heimischen Kochens.

Und wie nutzen wir die durch Fertiggerichte und Fast Food gewonnene Freizeit? Offenbar, um im Fernsehen oder auf dem Smartphone andere Menschen beim Kochen und Essen zu beobachten. Ein starker Anstieg des Übergewichts, Fettleibigkeit und entsprechende Erkrankungen begleiten diese Entwicklung.

Kochsendungen machen dick?

Freilich ist das zunächst nur eine Korrelation und kein Nachweis nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung: Dass es nachts dunkel ist, liegt nicht daran, dass ich genau dann schlafe – auch wenn es miteinander einhergeht.

Die zuvor genannten Entwicklungen implizieren allerdings greifbare Veränderungen:

  • Wir investieren weniger Zeit in die Zubereitung unseres Essens. Die Folge: Das Essen kostet weniger (in Form von Zeitkosten). Lebensmittel sind ultimativ besser verfügbar und billiger.
  • Wir verbringen mehr Zeit beim Medienkonsum. Eine Folge: Wir bewegen uns weniger.
  • Wir fördern durch ernährungsspezifischen Medienkonsum unseren Appetit. Mögliche Folge: Wir essen mehr.

Die Harvard-Ökonomen Cutler, Glaeser und Shapiro veröffentlichten im Jahr 2003 eine Studie, die der entsprechenden These nachgeht. Die Frage »Why Have Americans Become More Obese?« (»Warum sind Amerikaner fettleibiger geworden?«) beantworten Sie mittels vier detailliert untersuchter Implikationen.

Sie fanden heraus, dass sich die Kalorieneinnahme von US-Amerikanern zwischen 1977 und 1995 um rund 15 % erhöht hat. (Die Essgewohnheiten der gesamten westlichen Welt ähneln sich und sind teils vom amerikanischen Vorbild geprägt, insofern haben diese Beobachtungen Allgemeingültigkeit.) Dabei nehmen sie zu den klassischen Mahlzeiten nur wenig mehr Kalorien zu sich. Zu Frühstück, Mittag- und Abendessen hat sich jedoch eine signifikante vierte Mahlzeit gesellt: der Snack, verteilt über den gesamten Tag. Als passives Essen schlägt dieser mittlerweile zu Buche wie ein ganzes Mittagessen.

Dies passt in das übrige Muster, denn nach der quantitativen Analyse galt die Frage der Qualität: Was essen wir, was hat sich verändert? Beantworten konnten die Forscher dies mit der Betrachtung der Wertschöpfungskette. Heute landet pro ausgegebenem Euro weitaus mehr Geld in der verarbeitenden Industrie als beim Landwirt. Das heißt: Wir kaufen mehr vorverarbeitete Lebensmittel und Fertiggerichte. Dinge, die uns Zeit bei der Zubereitung sparen.

Zeitersparnis mag zunächst gut klingen. Doch die Forscher fanden heraus: Solche Gruppen, die weniger Zeit mit der Zubereitung ihrer Mahlzeiten verbringen, werden häufiger übergewichtig (Anstieg des BMI).

Diese Theorie suggeriert, dass sich landestypische Unterschiede in Kochkultur und -technologie auch auf den Body Mass Index der Bewohner auswirken. Genau das ist der Fall:

Während über 80 % der US-Haushalte über Mikrowellenöfen verfügen, trifft dies auf nur 14 % der italienischen Haushalte zu, wo Übergewicht weitaus weniger verbreitet ist. Als Kontrast zeigt sich Großbritannien, welches Übergewichtsraten nahe denen der USA hat und wo 66 % der Haushalte mit Mikrowellenöfen ausgestattet sind. Die Berechnungen der zur Essenszubereitung verwendeten Zeit decken sich damit. Französische und italienische Erwachsene verbringen täglich ungefähr 19 Minuten mehr Zeit mit Kochen als Amerikaner und Briten.

Je mehr Zeit wir mit Kochen verbringen, desto weniger essen wir und desto weniger leiden wir an Übergewicht. Zugleich gilt: Wer, statt zu kochen, einfach billiges Essen kauft, wird davon wahrscheinlich mehr essen und entsprechend zunehmen. Wenn das Essen immer einfach verfügbar ist, neigen wir dazu, mehr zu essen als nötig. Erfordert ein dekadentes, kalorienreiches Mahl hingegen einen größeren zeitlichen Aufwand, genießen wir es seltener.

Kochen macht schlank

Was Cutler und Co präsentieren, erklärt den Erfolg der eingangs genannten Ernährungsformen: Wer seine Ernährung auf Paleo, Vegan oder Rohkost umstellt, verwendet in der Regel mehr Zeit zur Beschaffung oder Zubereitung seiner Nahrung. Plausibel ist dann auch, warum diese Ernährungsformen für einige Anwender nicht funktionieren: Sie greifen regelmäßig zu den von der Industrie in die Bresche geworfenen Produkten wie Paleo-Nudeln oder vegane Leberwurst. Diese einfach verfügbaren Fertigprodukte sind in der Regel durch den Einsatz von Salz, Zucker und Fett besonders appetitanregend und häufig kalorienreich gestaltet und stehen dem gewünschten Erfolg – weniger Gewicht oder gesünderes Essen – direkt im Weg.

»Häufiges Kochen fördert ein langes Leben«, titelte eine Pressemitteilung der Cambridge Universität und bezieht sich damit auf das Forschungsergebnis einer Untersuchung unter Mark Wahlqvist: »Es ist klar geworden, dass Kochen ein gesundes Verhalten ist. Es verdient einen Platz in der lebenslangen Ausbildung, Gesundheitspolitik, Stadtplanung und Haushaltsökonomie. Die durch Lebensmittel gebotenen Pfade zur Gesundheit sind nicht beschränkt auf deren Nährstoffe oder Bestandteile, sondern dehnen sich aus auf jeden Schritt der Nahrungsmittelkette von der Produktion zum Kauf über die Zubereitung bis zum Essen, besonders in Gesellschaft.«

Selbst kochen? Wer soll sich das leisten?

Zeit sei Geld, meint der Volksmund. Viele argumentieren daher, nur die Reichen könnten es sich leisten, selbst zu kochen. Rufen wir uns die Datenlage zur Freizeitgestaltung noch einmal in Erinnerung, sehen wir jedoch: Viele Menschen verfügen durchaus über ausreichend freie Zeit, um selbst zu kochen. Die Mehrheit entscheidet sich jedoch dagegen – hauptsächlich, um stattdessen Medien zu konsumieren.

Dass nicht etwa die Reichen über die beste Ernährung verfügen, demonstrierte eine Studie zum Essverhalten und der Nährstoffeinnahme US-Amerikanischer Frauen. Hier zeigte sich tendenziell die Mittelschicht als diejenige Gruppe, welche den größten Teil des Essens selbst zubereitet und entsprechend gesund lebt. Daher schließt die Studie: »Wir folgern, dass demografisches Wissen um Einkommen und Bildungsstand zur Beurteilung nicht ausreicht.«

Geschichte, Tradition und die Lehre

Die Vergangenheit bestätigt die These, Menschen blieben schlanker und gesünder, je mehr Zeit sie zur Zubereitung ihres Essens verwenden. Traditionelle Küchen und Ernährungsgewohnheiten unserer Ururgroßeltern oder noch heute naturnah lebender Völker und Stämme zeigen ein entsprechendes Muster. Zugleich sind traditionelle Lebensweisen die am besten erprobten. Das macht sie nicht zwingend zu den Gesündesten, lässt jedoch die meisten Rückschlüsse zu.

Der Begriff Diät stammt aus dem griechischen díaita und bedeutet ursprünglich Lebensweise. Das ist nichts, was man nach wenigen Wochen für beendet erklärt (wie der Begriff Diät heute üblicherweise verstanden wird). Vielmehr bezeichnet Lebensweise ein Verhalten, das man sich aneignet und nach Möglichkeit jeden Tag praktiziert. Es scheint, als sei eine empfehlenswerte Diät/Lebensweise also diejenige, bei der ein Mensch seinem Essen viel Zeit und dementsprechend Sorgfalt widmet. Liebe nennen wir das oft, oder »Mit Liebe gemacht.«

Woher diese Zeit kommen kann, scheint auch klar: Wir könnten wenigstens einen Teil unseres passiven Medienkonsums aufgeben zugunsten der aktiven Freizeitgestaltung, des Lernens, der Produktivität und Kreativität in der Küche. Statt anderen beim Machen zuzusehen, könnten wir selbst aktiv werden. Unserer Gesundheit täten wir damit einen großen Gefallen.

Seit fast 30 Jahren studiert Marktforscher Harry Balzer das Ess- und Trinkverhalten der US-Amerikaner (welches dem unseren stark ähnelt). Auf die Frage nach der besten Diät meint er:

»Ganz einfach. Du möchtest, dass Amerikaner weniger essen? Ich habe die passende Diät dafür. Kurz und einfach. Hier ist mein Diätplan: Koch‘ es selbst. Das ist alles. Iss alles, was du willst – solange du bereit bist, es selbst zu kochen.«

Quellen und weiterführende Informationen:

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