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Gut essen – Richtig schlemmen

Gut essenDie überwältigenden Mehrheit aller Ernährungsempfehlungen bezieht sich auf das Was: Art, Qualität und Quantität der Lebensmittel stehen im Fokus der Aufmerksamkeit hinsichtlich ihrer Wirkungen auf Figur oder Gesundheit. Spätestens die Erkenntnisse über die Vielfalt und Macht unserer Darmflora zeigt, dass diese größtenteils numerische, reduktionistische Herangehensweise zu kurz gedacht ist. Das Was ist im Griff, auch das Wann ist geklärt und noch immer mag sich der gewünschte Erfolg nicht einstellen? Das Essen macht einfach keinen Spaß mehr? Höchste Zeit, über das Wie nachzudenken.

Wie sollen wir essen?

Noch lange vor dem Diätenwahn, bereits vor beinahe 200 Jahren, veröffentlichte der französische Gastrosoph Jean Anthelme Brillat-Savarin sein Buch Physiologie du goût („Die Physiologie des Geschmacks„). Darin reflektiert er vielfältig die Gastronomie, Tafelgenüsse und alles damit verbundene: Naturkunde, Physik, Chemie, Kochkunst, Geschäft und Volkswirtschaft. Bereits ein Blick auf seine einleitenden Aphorismen liefert spannende Anregungen und Hinweise für eigene Ansätze, die noch heute aktuell sind.

I. Das Universum ist nichts ohne die Dinge, die darin leben. Und alles Lebendige isst.
(Original: „L’Univers n’est rien que par la vie, et tout ce qui vit se nourrit.“)

Soviel zum Stellenwert in Brillat-Savarins Perspektive. Essen ist keine Lappalie, sondern es bedeutet Leben. Und nur Leben sei relevant.

V. Der Schöpfer zwingt den Menschen zum Essen, um zu leben, verführt ihn mittels Appetit und belohnt ihn durch Genuss.
(Original: „Le Créateur, en obligeant l’homme à manger pour vivre, l’y invite par l’appétit, et l’en récompense par le plaisir.“)

Wir müssen essen, erhalten reichlich Anreiz dazu und werden dafür auch belohnt – wenn wir selbst dies ermöglichen, denn:

II. Tiere fressen; Menschen essen; doch nur der weise Mensch weiß zu speisen.
(Original: „Les animaux se repaissent; l’homme mange; l’homme d’esprit seul sait manger.“)

Es bestehe ein Unterschied zwischen reinem Essen etwa zur Nahrungsaufnahme oder dem Speisen, dem Essen als Genuss. Der Hinweis auf Weisheit lässt sich verschieden deuten (wie Brillat-Savarin selbst dies versteht, findet sich vielfältig im genannten Werk); setzen wir eine Art Erleuchtung ein, eine Erkenntnis über die möglichen Gaumenfreuden, jedoch zugleich auch die Notwendigkeit des bewussten und bedachten Essens. Genau diese sind das signifikante Wie der Ernährung.

III. Das Schicksal von Nationen hängt von der Weise ab, in der sie sich ernähren.
(Original: „La destinée des nations dépend de la manière dont elles se nourrissent.“)

IV. Sag‘ mir, was du isst und ich sage dir, was du bist.
(Original: „Dis-moi ce que tu manges, je te dirai ce que tu es.“)

Die deutsche Phrase „Du bist, was du isst“ kratzt nur an der Oberfläche dieser Perspektive. Im Kontext zeigt sich, für wie gewichtig der Autor das Wie der Ernährung hält; das Was bleibt zweitrangig. Eine Nation ohne nachhaltige Ernährung kann nicht dauerhaft bestehen. Die Volksgesundheit kann leiden oder die Eigenversorgung könnte durch landwirtschaftlich bedingte Bodendegradation zusammenbrechen. Beispiele dafür finden wir heute weltweit.

VI. Das Schlemmen ist ein Akt unseres Urteilsvermögens, durch welches wir Dinge vorziehen, welche angenehm schmecken statt solcher, die dies nicht tun.
(Original: „La gourmandise est un acte de notre jugement, par lequel nous accordons la préférence aux choses qui sont agréables au goût sur celles qui n’ont pas cette qualité.“)

X. Wer sich vollstopft oder betrinkt, weiß weder zu speisen, noch zu trinken.
(Original: „Ceux qui s’indigèrent ou qui s’enivrent ne savent ni boire ni manger.“)

Das Schlemmen ist der Feind des Exzesses. In seinen Meditationen verweist Brillat-Savarin stets auf den Unterschied zwischen Festmahl und Fressgelage. Keineswegs jedoch ist dies elitär zu verstehen:

VII. Das Tafelvergnügen gilt jeden Tag für jeden Menschen, gleich seiner Herkunft, Geschichte oder sozialen Standes; es kann Teil anderer Freuden sein; und es hält am längsten an, um ihn über deren Verlust zu trösten.
(Original: „VII. Le plaisir de la table est de tous les âges, de toutes les conditions, de tous les pays et de tous les jours ; il peut s’associer à d’autres plaisirs, et reste le dernier pour nous consoler de leur perte.“)

Welche Schlüsse können wir daraus ziehen? Ergeben sich konkrete Empfehlungen aus Brillat-Savarins Gedanken?

Fest steht, dass er bewusstes Essen für unabdingbar hält. Essen ist für ihn nicht nur Ausgangs- und Mittelpunkt des Lebens: Schlemmen, den würdigen Genuss eines köstlichen Mahls, hält er für eine Kunst und in seinem übrigen Werk wird klar, dass dies bei möglichst jeder Mahlzeit passieren sollte. Dazu gehört auch die sorgfältige Zubereitung. Wie das genau auszusehen hat, beschreibt er ebenfalls. Anders als das Essen nimmt er sich selbst allerdings nicht all zu ernst. Seine Anregungen sind durchaus wertvoll.

Regeln für das Essen?

Kann es allgemeingültige Regeln für das Schlemmen geben? Für andere sinnliche Aktivitäten wie Sex oder Musikhören haben wir auch keine Regelwerke. Und doch herrscht hier im Grundsatz Einigkeit: Die Musikberieselung nebenbei kann nie das volle emotionale Potenzial der Klänge entfalten. Der sinnliche Genuss gilt als erstrebenswerter als der mechanische Akt.

Viel konkreter wird der amerikanische Autor Michael Pollan in seinem Plädoyer In Defence of Food („Lebensmittel: Eine Verteidigung„). Neben dem Was klären seine „Grundregeln des Essens“ (welche ich nicht als strenge Regeln, sondern eher als Empfehlungen zu verstehen empfehle) auch das Wie. Etwa:

„Zahlen Sie mehr, essen Sie weniger.“
(Original: „Pay more, eat less.“)

Tendenziell bekommt man für mehr Geld bessere Qualität. Diese erhöht den Genuss (und den Nährwert) und verschiebt den Fokus von der Quantität auf die Qualität. Weniger zu essen mag einfach gesagt sein und es erinnert an Brillat-Savarins zehnten Aphorismus (s.o.)

Pollan argumentiert, dass immer mehr Menschen sich zur Sättigung zusehends auf externe Hinweise verlassen: Die Schüssel oder die Packung ist leer oder die Fernsehsendung ist vorbei. Tatsächlich jedoch hat der Körper selbst ausreichende Systeme, um Sättigung zu melden. Nur beachten viele Menschen diese nicht; nämlich, weil sie nicht bei der Sache sind: Weil sie ohne Bewusstsein essen: Unbewusst. Dagegen weiß er mehrere Mittel:

„Essen Sie Mahlzeiten.“
(Original: „Eat meals.“)

Passives Essen, der Verzehr während Arbeit, Hobby oder Autofahrt hat sich hinsichtlich der Kaloriensumme heute zu einer gesamten Mahlzeit entwickelt. Wer hingegen nur zu richtigen Mahlzeiten isst, vermeidet dies.

Diese beiden Regeln Pollans streifen noch immer stark das Was. Hat er auch allein zum Wie etwas zu sagen? Wie kann man am besten gut essen?

„Essen Sie immer an einem Esstisch.“
(Original: „Do all your eating at a table.“)

Pollan besteht darauf, dass ein Schreibtisch kein Esstisch ist. Es geht ihm um den Zweck und die Mahlzeit als Institution. Zwar finden sich in den Erläuterungen seiner Regeln stets auch wenigstens Bezüge auf das Was (oder das Wie viel), doch die Parallelen zum französischen Vorreiter sind zu erkennen.

„Versuchen Sie, nicht alleine zu essen.“
(Original: „Try not to eat alone.“)

…denn wer alleine isst, betreibt öfter nicht den Aufwand, dies als Mahlzeit zu handhaben und landet doch wieder bewusstlos vor dem Fernseher.

„Essen sie mehr wie die Franzosen. Oder die Japaner. Oder die Italiener. Oder die Griechen.“
(Original: „Eat more like the French. Or the Japanese. Or the Italians. Or the Greeks.“)

Menschen mit einer auf Tradition beruhenden Esskultur sind generell gesünder als solche, die moderne, industriell verarbeitete Lebensmittel essen.

Wie sollen wir denn nun essen? Und warum?

Brillat-Savarin begründet seine Aphorismen in „Die Physiologie des Geschmacks“ mehrfach, beruft sich allerdings auf keine rein wissenschaftliche Grundlage. Das muss er auch nicht, denn er schreibt das, was er für vernünftig und richtig hält. Es beruht auf seiner Perspektive und auf der traditionellen Esskultur. Die mangelnde wissenschaftliche Basis macht diese Hinweise nicht weniger wertvoll. Zumal sich wissenschaftlich auch kaum dagegen argumentieren lässt.

Eine in Zahlen fundierte Grundlage finden wir bei Michael Pollan, der praktisch jede seiner Regeln auch wissenschaftlich plausibel erläutert. Das macht seine Herangehensweise nicht richtiger oder besser, lediglich die Überzeugungskraft ist eine andere: Eine, die etwa Zahlenverliebten oder nach absoluten Antworten Suchenden entgegen kommt.

Pollans Argumente mögen dadurch allerdings auch überzeugender klingen. Das Warum beantwortet er sehr konkret, meist findet er fundierte Hinweise darauf, dass dies die gesündere Ernährung ist: Wer so isst, bleibt (oder wird) schlank und vermeidet viele ernährungsbedingte Krankheiten.

Gut essen: Geht das auch kürzer? In einem Satz vielleicht?

Sowohl der französische Gastrosoph als auch der amerikanische Bestsellerautor geben sich Mühe, knackige Sätze zu formulieren. Da sie jeweils in Form eines Buches veröffentlichen, gewähren Sie sich dennoch mehr Raum für weitere Ausführungen. Mehr, als in vielen Gesprächen Zeit ist.

Wie eine Zusammenfassung aussieht, hängt von der Perspektive des Durchführenden ab. Meine sieht so aus:

„Essen Sie genuss- und maßvoll, mit Freunden und voller Bewusstheit und schmecken Sie aufmerksam, als wäre es die letzte Tat ihres Lebens.“

Weiterführende Literatur

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