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Essen als Ersatzreligion: Vegan, Paleo und Rohkost

Ersatzreligion EssenVegetarische Ernährung, Rohkost und Paleo-Diät sind umfassende und teils effektive Konzepte zum Erreichen von Ernährungs­zielen. Doch sie haben eine dunkle Seite: Statt einfach nur anders zu essen, verändern viele Menschen ihre Identität und werden zu Veganern, Rohköstlern und Paleos. Dieser Umgang mit dem Essen als Ersatzreligion macht es für sie und ihre Umwelt zu einer unnötigen psychologischen Belastung und es fördert Stress und gefährliche Essstörungen.

Ernährung als Ideologie

Veganismus, Paleo und Rohkost (und viele andere) sind zunächst nur Begriffe. Parallel dazu existieren sie jedoch als Ideologien. Menschen haben ihre Ansichten abgeglichen und daraus eine gemeinsame Weltanschauung entwickelt. Mantren wie »Absolut keine Tierprodukte«, »Kein Getreide, kein Milch« oder »Nichts über 47°C« haben sie so oft wiederholt, dass niemand innerhalb der Gruppe sie hinterfragt. Die so entwickelten Dogmen ersetzen die aktive Auseinandersetzung mit dem Stand der Wissenschaft und verbieten jegliche Differenzierung.

Paleo bedeutet dann pauschal »Niemals Getreide!«, unabhängig von Qualität, Quanti­tät und Kontext und ganz gleich ob dies im Einzelfall angebracht oder zielführend ist. Jegliche anderslautende Hinweise aus Forschungsergebnissen können nur auf Fehlern beruhen. Auf der anderen Seite klammert man sich auch an die qualitativ schlechtes­ten Studien, wenn sie nur die gefestigte Meinung bestätigen. In dieser Hinsicht gleichen sich die ideologischen Fraktionen der Veganer, Rohköstler, LowCarber und Paleos.

Identifikation

Viele Menschen entscheiden sich nicht einfach, weniger oder kein Fleisch zu essen. Stattdessen werden sie Vegetarier. »Ich bin jetzt Vegetarier« – wer das äußert, hat sein Dasein verändert und die Ideologie zu seiner Identität gemacht. Diese schwerwiegende Wahl versteift das Weltbild. Man ist Vegetarier so, wie man Katholik ist: Seine Religion wechselt man nicht einfach so.

Wer mit der Ernährung entspannter umgeht, formuliert anders: »Ich esse vegeta­risch.« So jemand basiert sein Dasein nicht auf der Ernährungsideologie. Er hat den Blick frei für weiterhin bewusste Entscheidungen und entscheidet nüchtern: »Ich esse kein Fleisch.«

Die Wortwahl mag meist unbewusst erfolgen, doch das Ergebnis ist das Gleiche. Die unterbewusste Identifikation des Wesens mit der Ideologie findet statt. Wer jahrelang mit dem Bewusstsein gelebt hat, Vegetarier zu sein, kann dies nur schwer ablegen. Es bedroht die Identität, die Existenz.

Hinzu kommt die natürliche Suche des Menschen nach Zugehörigkeit (»Paleo ist mein Lifestyle«). Gruppierungen wie Veganer, Rohköstler oder Paleo-Anhänger schaffen ein Wir-Gefühl (Kohäsion), was die Identifikation mit der Ideologie noch attraktiver macht.

Essen als Religion

Ein Blick in die entsprechenden Onlinegemeinschaften, etwa Internetforen oder Facebook-Gruppen, zeigt ein religiös anmutendes Bild. Schon das Vokabular deutet darauf hin. Einige prahlen, wie lange sie nun schon abstinent (konsequent) sind: »Ich habe jetzt schon 6 Monate keine Milch getrunken und es geht mir jeden Tag besser!« Andere beichten ihre Ernährungssünden (»Hey Leute, ich habe am Wochenende gesündigt und eine Tafel Schokolade gegessen.«) Dann holen sie sich Rat bei den konsequenteren Gruppenmitgliedern. Diese verurteilen den Sündiger oder vergeben ihm und erteilen die Absolution (»Wenn die Schokolade mit Stevia statt mit Zucker gesüßt war, ist es gar nicht so schlimm. Mach‘ dir keine Sorgen«, oder »Wenn du auch nur ein Gramm Fleisch isst, bist du kein richtiger Veganer!«)

Das Sündigen ist nun ein verniedlichter Begriff, den auch die Werbung gerne für Süßkram aller Art verwendet. Doch das Vokabular sitzt tief und wer eine streng religiöse Erziehung erfahren hat, nimmt diese Verstöße teils sehr ernst. Die Folge sind echte und schwere Schuldgefühle und Gewissensbisse. Psychologische Belastungen, die ernsthafte Erkrankungen wie Essstörungen nach sich ziehen können.

Die Ernährungsideologien kategorisieren Lebensmittel nicht allein in gesund oder ungesund. Vielmehr essen Menschen richtig oder falsch und gut oder böse (etwa Fleisch im Vegetarismus). Dies mache Ernährung zur Ersatzreligion, warnt die klinische Psychologin Wendy Mogel.

Doch nicht nur das Vokabular ist religiös. Die Auseinandersetzungen innerhalb der Gruppen, besonders jedoch zwischen Ideologien wie Vegan und Paleo nimmt teils Züge eines heiligen Krieges an und endet immer häufiger auch in physischer Gewalt. Hasserfüllte Kommentare und Morddrohungen allein aufgrund von Ernährungs­ent­schei­dungen sind an der Tagesordnung. Ein Festmahl für Studenten der Kognitiven Dissonanz.

Wie kann ich das verhindern?

Der Ausstieg aus diesem Verhalten erfordert einen Bewusstseinswandel: Ich bin nicht meine Ernährung. Das Vokabular ist ein guter Anfang dafür. Wenn man eine Meinung hat, kann man sie ablegen oder eine andere annehmen. Es gibt schließlich genug davon. Wer sich jedoch mit seiner Meinung identifiziert (»Ich bin dieser Meinung«), hält daran fest. Das ist völlig menschliche Psychologie: Wer sich einmal eine Meinung gebildet hat, ändert sie nur ungern. Die nötige Flexibilität können wir gewinnen, indem wir die Identifikation aufgeben. Man kann seine Meinung ändern. Basierend auf Erkenntnissen, Lust und Laune.

Übertragen wir dies auf die Ernährung: Wenn ich Veganer bin, komme ich da kaum heraus, denn ich müsste meine Persönlichkeit aufgeben. Ernähre ich mich hingegen vegan, kann ich schon bei der nächsten Mahlzeit anders entscheiden.

Die Folge ist eine Aufgabe der Ideologie, jedoch häufig auch eine schnelle Entfrem­dung von der entsprechenden Menschengruppe. Dies kann jenen schwerfallen, die sich an das Gefühl der Sicherheit gewöhnt haben oder sich sonst nicht zugehörig fühlen. Ein gefestigtes soziales Umfeld kann diesen Übergang erleichtern, letztlich hilft in solchen Fällen ein gesundes Selbstbewusstsein.

Ein solches fördert unser Bildungssystem jedoch nicht, denn es bestraft Irrtümer. Umso hilfreicher scheint es, sich nicht all zu fest an seine Meinungen und Ansichten zu klammern. Zu sagen »Ich weiß es nicht«, oder »da habe ich mich wohl geirrt« ist viel leichter als es sich manchmal anfühlt. Es ist eine Frage der Übung. Man kann sich daran gewöhnen, nicht alles ganz genau zu wissen und dass es oft keine einfachen Antworten gibt. Die bedrohlich wirkende Unsicherheit weicht dann oft einem Gefühl der Freiheit.

Erst diese Freiheit erlaubt einen gesunden Umgang mit dem Essen. Das beinhaltet unbeschwertes Kochen, genussvolles Essen und gemeinsame Tafelfreuden.

Schieben wir kurz beiseite, was René Descartes mit »Ich denke, also bin ich« (»Cogito ergo sum«) eigentlich vermitteln wollte: Wer die Ideologien der Veganer, Paleos und Rohköstler hinter sich lässt und stattdessen das Denken selbst übernimmt, kann mit voller Sicherheit genau eines sagen: »Ich bin.«

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