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Unser aller Essstörung

Sind wir alle essgestört? Unser aller Essstörung.Angst vor Übergewicht, die Suche nach gesunder Ernährung, Nährstofftabellen und die Sehnsucht nach dem einfachen Genuss: Häufiger als das Schwelgen in den Erinnerungen an ein köstliches Mahl, kreisen die Gedanken heute zusehends um dessen Folgen, um Disziplin und Konformität. Jeder sucht seinen Weg durch das omnipräsente Überangebot der Nahrungsmittel. Sind wir alle essgestört?

Was ist schon eine Essstörung?

Als Störung oder Verhaltensstörung betrachten wir in der Regel eine Abweichung vom natürlichen Verhalten, vielleicht auch ein Abweichen von der Norm, dessen Folgen dem Individuum gesundheitlich schaden. Als zentral bei Essstörungen gilt die stete gedankliche oder emotionale Beschäftigung mit dem Thema Essen. Wie ist das im Detail zu deuten?

Was ist ein natürliches Essverhalten? Ist es das, was wir bestenfalls bei unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen ablesen können? Sicherlich sind wir dann essgestört, denn wir denken wohl weitaus mehr über das Essen nach, treffen mehr Auswahl und Entscheidungen darüber. Wir essen (oft noch) am Tisch, organisieren Mahlzeiten, verpacken das Essen, transportieren es über tausende Kilometer, verarbeiten es, machen es haltbar oder werfen es weg. Natürlich im Wortsinn scheint das nicht zu sein – verglichen mit Schimpansen, von denen wir jedoch trotz aller genetischer Ähnlichkeit evolutionär sehr weit entfernt sind.

Die Natürlichkeit unseres Essverhaltens können wir kaum beurteilen. Was ist also mit der Norm?

In unserer Gesellschaft denken Menschen normalerweise wenig über das Essen nach. Erst wenn der Hunger kommt, stellt sich die Frage: »Woher bekomme ich Nahrung?« Wichtiger als Qualität und Quantität ist dann zunächst häufig der persönliche Geschmack.

Ein schnell wachsender Anteil der Wohlstandsnationen beginnt jedoch, zusehends mehr über das Essen nachzudenken. Veganer, Vegetarier, Rohköstler, LowCarber oder Paleo-Fans machen sich häufig sehr viele Gedanken um das Essen und weichen so (noch) von der Norm ab und auch vom natürlichen Verhalten unserer tierischen Verwandten. Sind sie alle gestört?

Veganer, LowCarber und Paleos: Alle essgestört?

Das Urteil hängt allein von der Perspektive ab. Was ist Normal?

Engen wir die Definition einer Verhaltensstörung so ein, dass aus ihr ein gesundheitlicher Schaden folgt. Ist das Nachdenken über Essen schädlich?

Hier kommen wir schneller zu klaren Ergebnissen. Anorexie und Bulimie sind dazu nur zwei Extremfälle klarer Krankheitsbilder mit schweren körperlichen Auswirkungen.

Doch wann beginnt die Essstörung? Haben wir unseren Wunsch nach Gesundheit und Schlankheit voll unter Kontrolle? Und sind nicht allein die sehr beschränkten Speisepläne von zum Beispiel Veganern oder Paleo-Fans schon deutliche Anzeichen für eine Essstörung?

Ein zwanghaftes Verhalten lässt sich oft ablesen. Die Folge sind häufig soziale Isolation, Entfremdung (auch von ehemals geliebten Lebensmitteln), Schuldgefühle beim Abweichen vom Plan und eine obsessive Beschäftigung mit der Ernährung. Psychische Schäden (und psychosomatische Folgen) können resultieren. Und das sind durchaus schwerwiegende Probleme.

Wenn gesundes Essen krank macht

Einige Medien porträtieren das Krankheitsbild Orthorexia Nervosa (dt. »Richtiger Appetit«, in Bezug auf die Intention, sich richtig zu ernähren), eine krankhafte Beschäftigung mit gesunder Ernährung, als lächerliches Konstrukt der Pharmaindustrie, welche nun alle Menschen für krank erkläre, die sich lediglich gesund ernähren möchten. Tatsächlich findet man im Fragenkatalog zur Diagnose der Orthorexia Nervosa durchweg vernünftige Ansätze zur Feststellung einer psychischen Störung. Orthorexia Nervosa wurde 1997 erstmals gebraucht in Anlehnung an Anorexia Nervosa (Magersucht), bislang gilt sie allgemein nicht als psychische Störung. Mit wachsendem Wohlstand dürften sich zusehends mehr Ärzte und Wissenschaftler konkret damit befassen.

In meiner eigenen Arbeit erhalte ich unzählige Emails von Menschen, die ebenfalls in der Orthorexia Nervosa gelandet sind. Einige von ihnen haben sich tatsächlich durch zwanghaft gesundes Essen die Gesundheit ruiniert, weil ihr Organismus durch sehr restriktive und kontrollierte Lebensmittelwahl die Fähigkeit zur Verdauung vieler Dinge verloren hat; häufig in einer teuflisch wirkenden Abwärtsspirale, in der sie auf immer mehr Lebensmittel verzichten müssen. Wieder anderen wird klar, dass sie sich diverse Unverträglichkeiten nur eingeredet und sich in der Folge sehr umfassend selbst belogen haben. Erst durch einen neuen Fokus auf das Essen selbst, den Genuss und die Esskultur, finden sie oft einen Ausweg aus der Ernährungsideologie. Aufgrund dieser Erfahrungen würde ich bestätigen, dass gesundes Essen im Sinne der Orthorexia Nervosa krank machen kann.

Ist ein Abweichen von der Norm so schlimm?

Natürlich ist nicht jeder krank, wer sich gesund ernähren möchte. Auch nicht jeder dicke oder übergewichtige Mensch ist krank und auch nicht jeder sehr dünne. Eine Diagnose kann nur individuell erfolgen. Wichtig scheint, aufmerksam zu bleiben.

Und was ist schon eine Verhaltensstörung? Beobachten wir ein Tier in Gefangenschaft, welches von seinem natürlichen Verhalten in freier Wildbahn abweicht und scheinbar sinnlos im Kreis läuft oder immer wieder gegen eine Wand rennt, diagnostizieren wir schnell eine Verhaltensstörung.

Schauen wir uns einen Menschen an, der mit verzerrtem Gesicht zentnerschwere Metallplatten immer und immer wieder anhebt und fallen lässt, wundert sich niemand. Sein Verhalten scheint sinnlos und unnatürlich. Aber er ist Gewichtheber und trainiert. Dann ist es in Ordnung. Doch auch er kann einem Wahn verfallen und sich selbst zerstören. Der Grat ist schmal und die Überschreitung lässt sich von außen mangels Perspektive und von innen mangels Abstand nur schwer erkennen. Bin ich schon krank, wenn ich mir ein Stück Schokolade verkneife, obwohl ich es gerne mag?

Muss ich etwas ändern?

Einzig relevant scheint letztlich, ob jemand gesund und möglichst auch glücklich ist. Eine Abweichung von der Norm kann nicht von Bedeutung sein, wenn niemand dadurch Schaden erleidet. Man kann dick und gesund und glücklich sein. Und bei aller Nähe zwischen Leidenschaft und Besessenheit kann man auch jeden Tag stundenlang über Essen nachdenken, ohne krank zu sein – für Köche ist das Berufsalltag.

Die klinische Psychologin Wendy Mogel warnt etwa davor, die Ernährung unserer Kinder zu stark zu überwachen. Auch die Kategorisierung von Lebensmitteln über gesund und ungesund hinaus als moralisch gut oder schlecht sieht sie kritisch. Dies mache Menschen allein durch ihre Ernährungsentscheidung gut oder böse; so wird die Ernährung zur Ersatzreligion.

Stellen wir uns ein paar Fragen, um unsere Perspektive auf die eigene Ernährung zu prüfen und gegebenenfalls zu korrigieren:

  • Erschwere ich mein Leben durch meine Ernährungsentscheidungen?
  • Isoliere ich mich sozial?
  • Habe ich Schuldgefühle, wenn ich von meiner geplanten Ernährung abweiche?
  • Glaube ich, dass gesundes Essen mich zu einem besseren Menschen macht?
  • Bereiten meine Gedanken an Essen mir Sorgen?
  • Glaube ich, alles unter Kontrolle zu haben, wenn ich meinem Plan entsprechend esse?
  • Esse ich oft alleine?

Wie genau die Antworten zu deuten sind, ist nicht eindeutig geklärt. Muss es auch nicht: Allein die Fragen genügen häufig, entsprechende Denkprozesse anzustoßen. Sie sind kein sicheres Mittel zur Diagnose, können jedoch vielen Menschen helfen, frühzeitig ihren Ernährungsentscheidungen den richtigen Platz im Leben zuzuweisen.

Es läuft hinaus auf eine zentrale Frage: Genieße ich mein Essen in vollem Umfang als Teil meines Lebens?

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