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Abfall, Essen und Verschwendung

Abfall, Essen und VerschwendungRund ein Drittel aller Lebensmittel landet weltweit im Abfall und verursacht große wirtschaftliche Verluste, Treibhausgase und Umweltprobleme. Angesichts 870 Millionen hungerleidender Menschen (UN-Angaben) scheint die Lösung einfach: Wir müssten nur einen besseren Weg zur Verteilung finden und könnten so mehrere Probleme zugleich lösen. Warum haben wir diese Herausforderung noch nicht gemeistert?

Landwirte und Fischer, Industrie und Händler, Verbraucher und Politiker schieben sich gegenseitig die Schuld zu. Angesichts der Zahlen wird allerdings schnell offensichtlich, dass jeder von einer Lösung profitieren könnte. Viel wichtiger: Jeder einzelne, egal ob Verbraucher, Erzeuger oder Verwalter, kann tatsächlich etwas verändern und somit profitieren und zugleich anderen helfen.

Ein kurzer Blick auf die Probleme vermittelt ein Gefühl für die Tragweite.

Die Probleme der Lebensmittelverschwendung

Die 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittelverschwendung führen weltweit jährlich zu wirtschaftlichen Verlusten von 750 Milliarden Dollar. Das zur Produktion benötigte Wasser entspricht dem, was jährlich Russlands Volga herunterfließt – für wen das noch immer unfassbar ist: Es ist wirklich sehr, sehr viel. 3,3 Milliarden Tonnen Treibhausgase gehen auf das Konto dieser Lebensmittel und 1,4 Milliarden Hektar Land belegt die Produktion, das sind rund 28% der weltweit landwirtschaftlich genutzten Fläche.

Die genannten wirtschaftlichen Kosten beschränken sich auf die Produzenten. Nicht einbezogen sind Verluste in Handel und Privathaushalt. Diese dürften durch das Voranschreiten in der Wertschöpfungskette weitaus höher liegen.

Jede einzelne dieser Zahlen scheint ausreichend attraktiv, das Problem sofort anzugehen. Geld, Wasser, Treibhausgase, Landbedarf – und vor alledem der Hunger. Tatsächlich könnten wir derzeit nicht nur sieben, sondern notfalls auch acht oder neun Milliarden Menschen ernähren.

Die Probleme gehen uns alle an. Und wir alle können die Lösung angehen, unabhängig von der Teilnahme anderer. Ganz im Sinne eines selbstbestimmten, eigenverantwortlichen Lebens.

Die Schuldigen

Ein in 2015 verabschiedetes Gesetz in Frankreich verbietet es dem Handel, Lebensmittel wegzuwerfen, etwa wenn das Verfallsdatum abläuft. Stattdessen müssen die Betreiber Verträge mit Hilfsorganisationen abschließen, denen sie dieses Essen überlassen. Wo zuvor Müllcontainer eingezäunt und abgeschlossen wurden, dürfte sich das Bild nun also im Sinne einer Lösung verschönern.

Das Containern ist eine auch in Deutschland verbreitete Beschäftigung, bei dem sich Menschen im Schutz der Dunkelheit in Müllcontainern der Supermärkte bedienen und teils ganze Festmahle zusammenstellen. Dies beschränkt sich bei Weitem nicht auf die ärmsten Menschen, auch Idealismus ist eine Motivation zu dieser meist illegalen Tätigkeit. Der Schuldige scheint in diesem Fall der Supermarkt zu sein und die Freude über das französische Gesetz ist entsprechend groß.

Im Handel finden allerdings nur 5% der Gesamtverschwendung statt. Weitaus größer ist der Anteil in Privathaushalten (42%) und der herstellenden Industrie (39%).

Der politische Wandel ist dennoch nützlich als Zeichen. Jeder kleine Schritt kann mehr Bewusstsein für den Wert der Lebensmittel schaffen und so Lösungswege verbreitern.

Entsprechend möchten Politiker dieses Gesetz nun weltweit umsetzen. Bei 89 Millionen Tonnen Lebensmittelverlusten allein in der EU sicherlich lohnenswert, auch wenn lediglich ein Zwanzigstel davon auf den Handel entfällt.

Die Zahlen zeigen soweit nicht, für welche Verschwendung der Handel direkt mitverantwortlich ist: Rund 30% des in Europa erzeugten Obsts und Gemüses erreicht den Handel gar nicht erst, in der Regel aus kosmetischen Gründen: Zu groß, zu klein, zu krumm, zu schrumplig – was dem Schönheitsideal nicht entspricht, bleibt beim Erzeuger und oft direkt auf dessen Feld. In Worten: Ein Drittel unserer Felder bewirten wir, um die Produkte hinterher liegenzulassen.

Grund und Inspiration genug für den Lösungsansatz der portugiesischen Organisation Fruta Feia (Hässliche Frucht). Das 2013 gestartete Projekt unter dem Motto Schöne Menschen essen hässliche Früchte breitet sich rasant von Lissabon aus und sammelt zurückgewiesene Erzeugnisse von Landwirten ein. Diese stellt Fruta Feia zu Obst- und Gemüsekisten zusammen, welche sie günstig an Verbraucher verkauft (7€ für 6-8kg). In der Kooperation gewinnen beide: Erzeuger werden ihre Ware los und Verbraucher können günstig einkaufen. Das Nachsehen hat der Handel, der die Ware zuvor abgelehnt hat.

Es gibt also funktionierende Modelle, durch die sich zwei wesentliche Ursachen der Lebensmittelverschwendung umgehen ließen. Die größte Schwachstelle bleibt der Endverbraucher. Bei all dem Gejammere über die wirtschaftliche Situation scheint unfassbar, warum Privathaushalte so viele gekaufte Lebensmittel einfach wegwerfen. Denn auch wenn die Deutschen im europäischen wie weltweiten Vergleich mit am wenigsten Geld für Lebensmittel ausgeben: Das Einsparpotenzial ist enorm.

Warum werfen wir wertvolle Lebensmittel weg?

Ursachen für die Verschwendung beim Endverbraucher sind divers, lassen sich letztlich jedoch durch mangelnde Wertschätzung zusammenfassen: Es landen mehr verderbliche Waren im Einkaufswagen als der Haushalt verbraucht, Lebensmittel verlieren sich in den Tiefen des Kühlschranks und der Koch bereitet zu viel zu. Wenn es Reste vom Vortag heißt, mögen viele es nicht essen und die Abwechslung soll möglichst groß sein. Warum auch nicht, wenn alles so billig ist? Was stören die paar Cent Marmelade und Schinken, Eier und Fleisch im Mülleimer?

Wenn das Essen kostengünstig und anonym aus der Fabrik kommt, keine individuelle Geschichte, keine Tradition, kulturell praktisch keinen Wert hat, kann besonders in einer Überflussgesellschaft kaum Wertschätzung entstehen. Wer hingegen ein engeres Verhältnis zu seinen Lebensmitteln hat, den Erzeuger kennt und dessen Arbeitseinsatz, wer wochenlang nach dem besten Gemüsegärtner gesucht hat, ist neben dem Geld auch zeitlich und persönlich investiert. So jemand geht meist sorgfältiger mit seinen Lebensmitteln um, teilt sie sich ein und versucht, jedes Gramm optimal zu verwerten. Das ist Teil der Esskultur.

Abfall essen

Der Arme Ritter (auch bekannt als French Toast oder Pain Perdu) war ehemals ein Arme-Leute-Essen aus trockenem Brot. Heute ist dieses Rezept die Grundlage einer Delikatesse. Die reichhaltige Küche der italienischen Regionen besonders im Süden ist heute weltbekannt und beliebt, dabei basiert auch sie häufig auf Sparsamkeit und Einfallsreichtum, um aus wenig Lebensmittel viel zu machen. Das Land hütet diesen kulturellen Schatz bis heute und noch immer geben Mütter und Großmütter ihre Erfahrungen und Fähigkeiten an die Kinder weiter: Wer kochen kann, wirft oft weniger weg. Sein kulinarisches Vokabular ist größer.

Ist dampfgegarter Brokkoli von vorgestern übrig? Warum ihn nicht einfach in eine Auflaufform geben, etwas Béchamelsoße köcheln, darüber gießen und kurz backen? Kochen ist einfach. Jeder kann es lernen.

Die Verschwendung des Abfalls

Wie der nächste Schritt aussehen kann, zeigen diverse Projekte mit dem Ziel, Abfall neu zu definieren. Schalen, Kaffeesatz, Abschnitte – was in heimischen Durchschnittsküchen oft als wirklich unbrauchbar gilt, verwandelt sich mit der entsprechenden Herangehensweise in eine Delikatesse.

Arielle Johnson vom Nordic Food Lab, welches auch so originelle Speisen wie Mottenmousse oder Ameisenwürze entwickelt, spricht in einem zwanzigminütigen Beitrag über ihre Fermentationsexperimente mit Lebensmittelresten wie Schalen und Abschnitten. »Fermentation war ein Teil der menschlichen Ernährungsgeschichte seit wir Obst essen,« meint sie, »durch sie entstehen komplexe neue Aromen und Zutaten, die wir andernfalls übersehen und als Abfall betrachten würden.« Neben Sauerkraut und Kimchi hat uns dieser Prozess auch Schokolade und Wein geschenkt. Zweifelsohne besteht Potenzial, möglicherweise aus Kartoffelschalen oder Brokkolirinde eine Delikatesse zu zaubern. Küchenabfälle, welche als Viehfutter aufgrund desaströser Gesetzgebung verboten sind, könnten wenigstens auf diesem Wege doch noch Menschen ernähren.

In andere Ansätzen liegt das Augenmerk auf Kaffeesatz. Kaffee steht auf Platz Zwei der weltweit am meisten gehandelten Güter, übertroffen nur von Erdöl. Nur weniger als 1% der Bohne landet in der Tasse, entsprechend groß sind die täglich anfallenden Mengen Kaffeesatz und auch hier kann die Lösung im Kleinen anfangen, wie Matt Orlando präsentiert. Neben der Verwendung als Wurmfutter mit anderen Küchenabfällen im Kompostsystem seines Restaurants, verwenden die Köche dort Kaffeesatz als Zutat und Gewürz. Rote Beete mit Kaffeesatz in Alufolie gebacken ist ein entsprechendes Rezept.

Einen großen Schritt weiter geht Chido Govera: Als Kind stand sie vor der Wahl, einen reichen Mann zu heiraten, um keinen Hunger mehr leiden zu müssen. Sie entschied sich dagegen und lernte durch eine Reihe glücklicher Ereignisse, Pilze zu züchten. Auf diesem Weg konnte sie sich selbst versorgen und gründete in Südafrika eine Organisation, die heute vielen Menschen auf dem gleichen Weg Unabhängigkeit bietet. Als Substrat für die Pilze dient Kaffeesatz, welcher so statt zur Vergrößerung von Müllbergen der Ernährung von Menschen dient.

All diese Ansätze können die Problematik nicht schlagartig und weltweit beheben. Denn das Problem mag global sein, findet jedoch regional statt und deswegen sind gerade diese kleinen Lösungen ein nachhaltiger Weg in die Zukunft. Egal wie gering die jeweilige Wirkung sein mag: Allen Vorgehensweisen ist gemein, dass sie Bewusstsein schaffen für Art und Umfang des Problems und zugleich mögliche Auswege präsentieren. So ist die Herausforderung für jeden Verbraucher fassbar und verliert ihre Bedrohlichkeit.

»Iss deinen Teller leer, in der Dritten Welt verhungern Kinder!«

Je effizienter wir Lebensmittel verwerten, desto geringer ist anteilig unser Ressourcenverbrauch. Entsprechend sinkt die von uns benötigte landwirtschaftliche Fläche. Wir sind dann nicht mehr oder zumindest weniger darauf angewiesen, Land in Entwicklungsländern zu kaufen, um dort Lebensmittel für unseren Bedarf anzubauen. Dieses Landgrabbing führt in fernen Ländern zu Landmangel, welcher dort wiederum häufig Versorgungsprobleme der lokalen Bevölkerung verursacht. Und auf genau diesem Weg könnte jedes weggeworfene Stück Essen eben doch Hunger an einem anderen Ort verursachen.

Geld sparen ist einfach

Was kann der Endverbraucher also tun, um weniger Lebensmittel zu verschwenden und Geld zu sparen? Es kostet nur ein wenig Hirnschmalz:

  • Überlegen, was wirklich benötigt wird, sich vor dem Einkaufen eine Liste machen, ein wenig Planen und auch mal auf exzessive Vielfalt verzichten.
  • Den Kühlschrankinhalt im Auge behalten und bei Ideenmangel ein gutes Kochbuch besorgen, das für jede Zutat ein passendes Rezept bietet*.
  • Hochwertige Lebensmittel kaufen, vielleicht etwas mehr bezahlen, den Erzeuger oder wenigstens die Erzeugung kennenlernen und so Wertschätzung entwickeln.

Die Ursachen des Hungers und der Verschwendung auf der Welt sind divers und äußerst komplex, sie lassen sich nur interdisziplinär erfassen. Doch auch ohne den vollen Überblick über politische, geographische und logistische Ursachen können wir alle zum allgemeinen und eigenen Nutzen an der Lösung arbeiten.

* Empfehlen möchte ich speziell hierzu den Silberlöffel*, übersetzt aus dem italienischen („Il Cucchiaio d’argento“), welcher neben einem vollen Überblick über die gesamte italienische Küche unzählige Rezepte bietet und im Index auch nach Zutaten sortiert ist. Wer eine Verwendung etwa für langsam vertrocknenden Zucchini sucht, findet innerhalb kürzester Zeit vier bis fünf einfache und bestens erprobte Rezepte dazu. Keine Bange: Pasta und Pizza stellen nur einen Bruchteil der über 2000 Rezepte.

Weiterführende Informationen:

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